Unter der steinernen Tiberbrücke haben die Bettler und Gestrandeten ihr Lager aufgeschlagen. Gerümpel und Abfälle liegen herum. Es riecht streng. Manche dämmern vor sich hin. Einer stiert ins Leere und spricht wirr. Zwei teilen sich einen Opferkuchen. Der Tiber fließt träge, die Wasseroberfläche ist matt, machmal treiben schlammige Blasen empor.
Fliegen umschwirren einen vorgealterten Mann. Er ist zahnlos und in Lumpen. Seine Augen glühen im Fieber. An seinen Beinen trägt er offene Wunden. Schwärendes Fleisch, von gelbem Eiter überkrustet, tiefe Geschwüre bis auf die Sehne. Misstrauisch und von Schmerzen geplagt blickt er auf die Frau, die neben ihm kniet, und über einer Schüssel seine Wunden auswäscht. Ihr Haupt ist gebeugt, und die energischen Züge ganz konzentriert auf ihr Tun. Ihre hochgewachsene Gestalt erscheint asketisch. Unter dem ausgebleichten und geflickten grünen Kleid ist der Rand eines härenen Hemdes zu erblicken. Wenn sie spricht, dann weiß man kaum, ob zu sich selbst, oder zu dem Kranken.
"Manchmal. Manchmal da habe ich einen Traum. Nachts.
Es beginnt mit einem feinen Riss. Er zieht sich durch die Stadt. Ich stehe auf dem Forum, und sehe diesen Riss im Pflaster vor meinen Füßen, haarfein erst. Doch er wächst. Erst eine Handspanne breit. Die Menschen sehen auf von ihrem täglichen Treiben. Die Hunde beginnen zu bellen. Die Mütter ziehen ihre Kinder an sich. Die Wucherer ihre Geldsäcke. Umsonst klammert sich ein jeder an das, was ihm das Theuerste ist in dieser Welt.
Denn der Riss klafft immer breiter, ein schwarzer Schlund inmitten der Stadt. Gebäude wanken, Steinblöcke fallen, Mauern krachen in den Abgrund, der immer größer wird, ein Maul, das hungrig alles zu verschlingen begehrt. Und dann steigen sie auf, aus der Tiefe, die Fratzen des Abgrundes, in schwefligem Rauch, die schwirrende Horde, der ekle Schwarm, mit langen Armen haschen sie nach uns, sie ziehen uns hinab, und unsere Knochen zerbrechen in ihren Klauen wie die kleiner Vögel. Sie graben die Zähne in unser Fleisch und schlürfen schmatzend unser Mark. Es ist eine Legion. Eine Legion aus der Tiefe. Sie wird kommen, und mit ihr das Ende. Schon bald wird es so weit sein."
Die Frau salbt die Wunden, nimmt Leinenstreifen zur Hand und legt dem Bettler Verbände an.
"Und dann?", fragt er schwach, "Sterben denn alle?"
"Es sterben alle. Es ist das Ende. Das Ende dieser Welt, und doch ein Beginn. Der Beginn unvorstellbarer Qualen für fast alle. Endlose Pein. Nur wenige.... nur einige wenige können gerettet werden. Die Leiden und Buße tun. Die den rechten Weg einschlagen. Und die Unschuldigen? Wer ist das schon. Wie rar ist die Unschuld."
Der Bettler starrt auf seine Verbände.
"Endlose Pein, die kenne ich."
"Deine irdischen Qualen werden bald vorüber sein. Wie unser aller Leben. Wie ist dein Name?"
"Lichas."
"Du kannst errettet werden, Lichas. Möchtest du errettet werden?"
Er nickt stumpf.
"Es soll nicht mehr wehtun!"
"Lass mich dir den Weg zur Erlösung weisen."
Die Frau beginnt zu erzählen, von einem, der all der das Leid der Welt auf sich genommen hat, von einer frohen Botschaft, von Sünde und Buße und einem besseren Leben nach diesem.
Was der Kranke davon versteht, wer weiß das schon? Doch er hört zu, und eine Zeitlang scheint er seinen Schmerz vergessen zu haben.