Eine schmale Gasse am Fuß des Aventin. Graue Mauern, windschiefe Winkel. Wäscheleinen kreuz und quer über die Gasse gespannt. Nur wenig Licht fällt bis auf deren Grund, wo ein Rinnsal voll Unrat fließt.
Hier liegt das Haus der Witwe Binah. Die gütige Hebräerin betreibt ein Waisenhaus. An Zöglingen ist kein Mangel. Ausgesetzte Säuglinge, Waisen, und manchmal auch Kinder, die zwar noch einen Elternteil haben, der aber so arm ist oder so krank, dass er nicht für sie sorgen kann.
Die Räume des bescheidenen Hauses, geduckt neben großen Insulae, sind längst überfüllt. Geldmangel ist Binahs ständiger Begleiter. Getreidespenden gibt es nur für Bürger. Wenn die Kinder alt genug sind, helfen sie die Kleineren zu versorgen, und müssen durch Arbeit zum Lebensunterhalt beitragen.
Seit einigen Wochen schon kommt Philotima regelmäßig. Sie hilft Binah, die Kinder zu unterrichten, und pflegt sie, wenn sie krank sind. Das ist häufig der Fall. Viele kommen unterernährt und schwach zu Binah. Sie haben krumme Rücken und husten. Aufgekratzte Mückenstiche werden zu Wunden. Anderen sieht man die Gebrechen an, wegen der sie ausgesetzt wurden. Ein dürres Mädchen humpelt mit einem Klumpfuß an einer Krücke umher. Ein kleiner Junge ist von einer monströsen Hasenscharte entstellt.
Die Kinder kennen sie und drängen sich um sie. Hungrig nach Zuwendung streiten sie darum, wer von ihnen ihre Hand halten darf. Die Kleineren schmiegen sich an sie, wenn sie ihnen Geschichten erzählt. Heute ist es das Gleichnis vom barmherzigen Samariter.
"... denn wer Gott wirklich liebt, der liebt auch seinen Nächsten."
So endet die Geschichte.
"Wir müssen uns richtig verhalten, genauso wie der barmherzige Samariter, und nicht immer nur erzählen, dass wir Gott lieben. Lasst uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit. Gott will auch nicht, dass wir uns streiten, sondern dass wir jeden anderen lieben. Auch die Menschen, bei denen das nicht so einfach ist. Auch ein Kind, das euch vielleicht einmal geärgert hat, oder das manchmal ein wenig komisch ist. Wenn du Gott liebst, dann höre auf das, was er sagt. Dann gehorche ihm."
Linkisch tätschelt Philotima die verlausten Köpfe. Nie hat sie viel mit Kindern anfangen können. Aber diese hier möchte sie bewahren vor der Verdammnis. Es bleibt nicht mehr viel Zeit! Unschuldig sind auch ihre jungen Seelen nicht mehr. Philotima hat gesehen, wie die Kinder wegen Nichtigkeiten blutige Prügeleien beginnen. Wie das Hasenschartenkind grausam verspottet wird. Wie die Kinder einander ein gutes Paar Schuhe neiden. Sie sieht wie das Darben die Rohheit und die Härte in ihnen wachsen lässt.