[Musterung] Titus Sempronius Carus

  • Es war nicht so, dass ein Rekrut dem anderen die Türklinke in die Hand gab, aber viel Zeit verstrich nicht, bis Sempronius vor dem Valetudinarium stand und anklopfte. Er wartete, bis von drinnen eine Stimme rief, dann ging er hinein.

    "Salve! Ich komme zur Überprüfung meiner Tauglichkeit. Mein Name ist Titus Sempronius Carus." Die Tabula hielt er dem Optio entgegen.

  • Langweilig wurde es in seinem Officium nie. Scato sah auf, legte die Unterlagen beiseite, an denen er gerade gearbeitet hatte und griff nach der gereichten Tabula.


    Grässliche Tabellen mit vielen Zahlen auf seinem Schreibtisch deuteten darauf hin, dass er gerade schaute, wo sich ohne Schaden Geld einsparen ließ, um es anderweitig verwenden zu können. Allerdings hatten sich an dieser Optimierung schon etliche Generationen von Vorgängern versucht und viel war nicht herauszuholen. Es wurde ja prinzipiell an allem gegeizt und jeder Nagel musste genehmigt werden. Wobei es den Milites im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen wirklich gut ging. Trotzdem ging immer noch mehr und Scato hätte für die Patienten und Personal gern einen abwechslungsreicheren Grundspeiseplan im Sinne der Säftelehre, nicht erst dann, wenn jemand schon erkrankt war und eine angepasste Diät verschrieben bekommen musste.


    "Salve, Sempronius Carus. Bitte einmal vollständig ausziehen und eventuellen Schmuck ablegen. Die Schuhe auch. Die Kleider kannst du dort auf den Stuhl legen."


    Er legte nach einem kurzen Blick auch diese Tabula hin, stand auf und wusch sich die Hände an einer Waschschüssel.

  • Auf die Abläufe war Sempronius bestens vorbereitet, denn er besaß nicht nur einen Cousin im Militärdienst, sondern ganze Generationen vor ihm. Er legte die Tunika samt restlicher Kleidungsstücke auf den angewiesenen Stuhl und stellte seine Schuhe akkurat in einem 90°-Winkel vor diesen. Schmuck trug er keinen. Die Hände in die Seiten gestützt wartete er darauf, dass sich der Optio seiner annahm.

  • Scato verschaffte sich erst einmal einen visuellen Gesamteindruck. Erfreut registrierte er die stattliche Körpergröße und gute Bemuskelung. Wer so aussah, konnte sich oft schon allein durch sein Auftreten Respekt verschaffen. Kleinere und zartere Gestalten hatten es da schwerer. Den leichten Silberblick bemerkte er, dem würde er sich später widmen. Zunächst galt es andere Dinge zu untersuchen.


    "Gerade stehen", bat er und griff in Carus´ Hände. Er zog an beiden gleichermaßen und schaute sich dann noch einmal die Fingerspitzen an. Er umrundete den Probanten, achtete darauf, dass dessen Füße parallel standen und drückte ihm die Schultern und den Rücken zurecht und ging dann wieder nach vorn, um ihm die Hände erneut auszurichten. Ein Arm war deutlich kürzer als der andere. Das allein war kein Problem. Die damit zusammenhängenden Beschwerden konnten jedoch eins werden. Vielleicht eine Entwicklungsverzögerung des einen Armes aufgrund der Narbe am Nacken? Aufgrund einer Mangelversorgung? Das musste er in jedem Fall genauer untersuchen.


    "Kannst die Arme wieder sinken lassen." Er trat erneut hinter den Mann und betastete gründlich die Muskulatur des Halses, des Nackens und der Schultern, auch die des Rückens. "Wie und wann hast du dir die Narbe zugezogen? Macht sie dir Beschwerden?", fragte er, während er prüfend mit den Fingern abwechselnd hier und da sein Fleisch eindrückte. Es fühlte sich fast an wie eine Massage, ein Eindruck, der nicht von ungefähr kam, denn auch bei einer Massage prüfte der Masseur unentwegt die Beschaffenheit des Gewebes, das er da gerade bearbeitete.

  • Er stand hier, um gemustert zu werden. Gleichzeitig erinnerte ihn der Vorgang an den Einkauf von Sklaven, deren Eignung auch zunächst geprüft wurde. Da Sempronius aber schon im Vorfeld wusste, was auf ihn zukam, richtete sich seine Aufmerksamkeit fort von den Gedanken hin zu den Handlungen des Optio. Auf Kommando stellte sich Sempronius so gerade hin, wie er es vermochte. Bestimmt würde er wieder zu hören bekommen, dass seine Wirbelsäule nicht gerade war, aber er wollte hier keinen Schönheitspreis gewinnen, sondern nur für tauglich befunden werden.

    Sich seiner Auffälligkeiten bewusst, wunderte er sich nicht, als der Optio seine Hände ergriff und der geschulte Blick seine verschieden langen Arme traf. Zwar erfolgte kein Kommentar, aber vielleicht folgte der noch. Zunächst kam der Optio auf die Narbe zu sprechen, während er auf der Muskulatur herumdrückte.

    "Ein Messer. Ich stand im Weg." Er presste die Lippen aufeinander. Die Hintergrundgeschichte würde hier hoffentlich keinen interessieren. "Keine Beschwerden."

    Das entsprach der Wahrheit. Sowohl Narbe als auch Wirbelsäule und Arme verursachten keine Beschwerden. Einzig das Kneten im Nacken und auf den Schultern fühlte sich unangenehm an, weil die Muskulatur hart war. Sempronius litt an Verspannungen, die einer ungünstigen Körperhaltung bei der ehemaligen Arbeit entsprangen und nicht im Zusammenhang mit dem Knochenbau standen.

  • "Du bist entsetzlich verspannt", stellte Scato klar. "Völlig steif, da muss mal einer mit viel Kraft ran. Lass dich künftig in den Thermen regelmäßig kneten und such dir dafür bitte keine zarten Griechen als Masseure aus, sondern irgendeine wandelnde Schrankwand. So einen richtigen Brecher. Das muss wehtun, damit es hilft. Wenn dir vor Schmerzen der Schweiß läuft, ist alles richtig. Wenn du dabei einschläfst, läuft was falsch."


    Er nutzte die Gelegenheit, auch die Wirbelsäule und die Ausrichtung des Beckenknochens zu befühlen. Alle Gelenke, jedes Einzelne, vom Kopf über die Beine bis in die Fingerspitzen, wurde auf Funktionsfähigkeit überprüft und die Art des Knackens darin belauscht, sofern es irgendwo knackte. Doch das war alles zu Scatos Zufriedenheit. Scato schaute sich danach die Zunge und die Zähne an - passabel - und blickte in den Rachen, die Ohren und die Augen. Bei der Gelegenheit tastete er noch nach Verdickungen unter den Ohren oder Achseln, ebenso befühlte er den Kehlkopf.


    "Woher kommst du? Aus Roma?"


    Auch eine kritische Untersuchung zwischen seinen Beinen musste der Bewerber sich gefallen lassen. Dann war Scato mit dem, was die meisten Bewerber fürchteten, fertig.


    "So. Kannst dich wieder anziehen." Scato ging sich derweil die Hände waschen.

  • In Anbetracht der Tatsache, dass der Optio nicht zu den Brechern gehörte, erzeugten dessen Hände auch schon nennenswerte Schmerzen. Sempronius wand sich, ohne entkommen zu können. Die Aussicht auf eine weitere Behandlung dieser Art oder eine noch schlimmere, ließ keine Glücksgefühle aufkommen. Sempronius beschloss, zunächst die Wirkung der aktuellen Massage abzuwarten, bevor er sich um Nachschlag bemühte. Wenn Kneten half, würde er die bittere Pille schlucken.

    "Ich war noch nie bei einem Masseur." Er musste sogar eingestehen, in den letzten Jahren nicht einmal bei einem Arzt gewesen zu sein. Es gab keinen Anlass und auch kein Geld für solche Dienste.

    "Kann ich mir das als Tiro leisten?"


    Während der Optio den restlichen Körper abtastete, wartete Sempronius auf die Antwort. Er plante gern im Voraus.

    Dann jedoch wurde er mit einer Frage konfrontiert, mit der nicht gerechnet hatte. Er vermutete Interesse oder bewusste Ablenkung, aber nicht eine für die Kontrolluntersuchung relevante Frage.

    "Ja, Rom. Bin nie rausgekommen. Ist mir auch egal, was außerhalb Roms passiert, daher kamen für mich nur die Stadtkohorten infrage."

    Sempronius griff zu den Kleidern und zog sich wieder an. Er zweifelte keinen Moment daran, angenommen zu werden.

  • "Na, dann kennst du dich ja hier schon aus, das kann ganz praktisch sein Dienst. Ich musste mich umgewöhnen von Mantua, was ein kleines Kaff ist gegen Roma. Sie haben mich hier ausgelacht, als ich sagte, Mantua sei eine Stadt." Er machte es sich hinter dem Schreibtisch bequem, wartete, während der Mensch sich umzog, und griff dann nach der Sanduhr. "Begib dich in Liegestützposition. Sobald ich das Signal gebe, machst du so viele Liegestütze, wie du schaffst, bis ich Stopp sage. Ordentliche, das Kinn auf den Boden tippen, sonst zähle ich nicht." Er wartete, bis Carus sich in Position begeben hatte, drehte die Sanduhr um und sagte: "Los."

  • Die Tunika glitt über den Kopf, musste aber über die Schultern gezogen werden. Sie saß nicht locker, was an der Statur des Rekruten lag. Die Handgriffe saßen, sodass sich Sempronius dem Gespräch widmen konnte, das seine Gedanken aus dem Raum hinaus zu alltäglichen Dingen führte.

    "Stimmt, die Hügel, die Straßen, die Foren kenne ich alle, was für jemand, der von außerhalb kommt, nicht ganz einfach ist." Als er sich nach dem Anlegen des Schuhwerks aufrichtete, schien die Plauderei ein Ende zu haben, denn es wurde eine Aufgabe gestellt: Liegestütze. Sie gehörten nicht zu seiner Spezialität, da er aber fast überall im Durchschnitt lag, machte er sich keine Sorgen, sondern ging zu Boden. Er lag nur einen Moment, dann stützte er sich auf die Arme und stemmte den Oberkörper hoch. Auf das Signal hin begann er in mittelmäßigem Tempo einen Stütz nach dem anderen zu absolvieren. Lautlos zählte er mit.

  • Scato freute sich über das breite Kreuz und die generell gute Bemuskelung von Carus. Trotz der leichten Assymetrie machte er einen tüchtigen Eindruck und Scato wünschte, es würde weniger Hänflinge und mehr Leute mit so vortrefflicher körperlicher Eignung hier aufkreuzen.


    "Stopp! Aufstehen, das Gleiche noch mal mit Kniebeugen." Scato wartete, bis der Probant so weit war und griff nach einer zweiten Sanduhr, damit er die erste nicht erst zurück rieseln lassen musste. Er drehte sie um. "Los!"


    Er hatte keine Zweifel daran, dass auch die Kniebeuge solide erfolgen würden. Was ihm Sorgen bereitete, war das leichte Schielen ...

  • Solide, so würde Sempronius seine Leistung auch bezeichnen. Er gehörte nicht zu den Strebern, aber er hielt sich für zuverlässig. Beim erteilten Kommando brach er umgehend die Liegestütze ab, kam auf die Beine und schnaufte er einmal durch. Eine Konversation blieb aus, daher begab er sich in Position, wartete auf das nächste Kommando und starte die Kniebeugen. Das Tempo wählte er wieder mittelmäßig, weil er nicht wusste, wie lange er durchhalten musste. Während er die Übungen ausführte, beschäftigte er sich im Geist mit dem Entwurf und der Herstellung eines gedrechselten Tisches. Er roch fast den Duft des Holzes und merkte kaum, wie die Zeit verging, in der er diesen Teil der Tauglichkeitsprüfung ableistete.

  • Scato fiel auf, dass er im Arbeitseifer versunken vergessen hatte, die Frage nach dem Masseur zu beantworten. Das tat er nun , während Merula seine Kniebeuge absolvierte.


    "Masseure gibt es in den öffentlichen Thermen. Die sind für dich als Tiro tabu, da du deine Einheit am Anfang nicht verlassen darfst. Es gibt also folgende Möglichkeiten: Erstens, du fragst einen deiner neuen Kameraden und bietest ihm dafür irgendeine Gefälligkeit zum Tausch. Für Geld macht man das untereinander eher weniger, putz dafür nach dem Dienst seine Rüstung oder so. Später hat dann jede Einheit einen eigenen Capsarius, der wäre dann zuständig, aber noch muss es anders gehen. Oft kristallisiert sich allerdings schon recht früh jemand heraus, der sich dafür interessiert und der wird dir dann helfen. Sag dazu, dass ich es so verordnet habe, da sollte sich schon wer finden, der sich in der Richtung beweisen möchte. Zweitens, falls du wider Erwarten niemanden findest, weil du in ein Contubernium kleingeistiger Faulpelze geraten bist, kommst du ins Valetudinarium und wirst hier von fachkundigen Händen zurechtgeknetet. Das notwendige Rezept bekommst du von mir. Melde dich einfach noch mal, falls niemand dich tatsächlich massieren will. Manche haben sich da albern."


    Verächtlich rümpfte er die Nase. Er registrierte die gleichmäßigen Kniebeugen des Probanten, die ihn wieder mit der Welt versöhnten. "Stopp, hör auf." Scato fuchtelte einmal. "Jetzt stell dich da hinten an die Wand."


    Scato schloss die Fensterläden und löschte die Öllampen, so dass nur das Kohlebecken glomm. Die Lichtverhältnisse waren nun ziemlich schlecht. Außerdem stank es nach dem Qualm der gelöschten Flammen. Miasma, stellte er entsetzt fest und wünschte sich, zu lüften, doch das musste noch warten. Er stellte sich an das andere Ende des Raumes in den Schatten. Dann flüsterte er so leise, dass es nur für gute Ohren verständlich sein würde:


    "Ich werde dir jetzt einige Finger zeigen und du sagst mir jeweils, wie viele es sind. Verstanden?"

  • Er unterbrach das gedankliche Drechseln des imaginären Tisches, als der Optio Tipps in Bezug auf das Massieren gab. Sempronius wollte den Versuch unternehmen, die lästigen Verspannungen loszuwerden, also hörte er genau zu. Wie befürchtet, reichte sein Sold nicht, aber vor allem käme er erst nach der Grundausbildung in öffentliche Thermen und so lange wollte er nicht warten. Als Versuchskaninchen sah er sich allerdings auch nicht. Da musste schon ein bewährter Masseur unter den Mannschaftskameraden sein, dem er sich anvertrauen würde. Immerhin schmerzte die Behandlung sehr.

    Sempronius lächelte nie, aber innerlich griente er, als das Angebot des Einsatzes fachkundiger Hände im Valetudinarium zur Sprache kam.

    "Ja." Er prustete die Antwort auf dem Weg in die Knie hinaus. Bald darauf erfolgte die Anweisung zum Halt.


    Sempronius folgte der Anweisung und stellte sich an die Wand. Besäße er einen Hang zu Romantik, würde er die heimelige Beleuchtung schön finden, allerdings fehlte es ihm an Leidenschaft und dem Willen, sich zu öffnen. Daher betrachtete er die neuen Verhältnisse nüchtern und konzentrierte sich auf die Anweisungen.

    "Hmm", knurrte Sempronius auf die Frage hin. Das Flüstern wirkte sonderbar auf ihn, denn erst am Abend, wenn er den Tag noch einmal durchdachte, würde er verstehen, aus welchem Grund die Lautstärke litt. Dunkelheit in Kombination mit Flüstern erzeugte zunächst Unwohlsein in ihm.

  • Das Gehör war also in Ordnung. Scato wartete, bis Carus so weit war. Hätte er gewusst, wie unwohl sich dieser fühlte, hätte er empfohlen, dass dieser sich solchen Situationen in Zukunft absichtlich auszusetzen hatte, mit einer leckeren Lukanerwurst in der Hand, bis er dagegen abgestumpft sei. So aber würde dessen Ausbilder die Macken allein herausfinden und abschleifen müssen. Er hob die Hand und zeigte nacheinander fünf, drei und vier Finger.

  • Sempronius sah scharf, trotz seines Silberblickes. Nur zuweilen, wenn das linke Auge kurzzeitig noch mehr nach innen rutschte, bildeten sich die Dinge doppelt ab. Müdigkeit löste dieses Phänomen aus, das nur selten auftrat und auf das er noch nie angesprochen wurde. In der für ihn normalen Position der Pupillen sah er nur geringfügig doppelt, was aber nichts daran änderte, dass die Hand zunächst fünf, dann drei und am Ende vier Finger aufwies. Sempronius hatte gelernt, mit diesem Doppelbild umzugehen, denn es begleitete ihn schon sein ganzes Leben lang.

    "Zuerst fünf, dann drei und am Ende vier." Sehr lange würde er bei diffusem Licht aber nicht ohne Kopfschmerzen sehen können. Für die Untersuchung reichte das Durchhaltevermögen aber aus und wenn nicht, ging es auch mit Kopfschmerzen weiter.

  • Da er schon mal hier war wollte auch wissen was Scato so trieb. Der letzte Stand war dass der Iunier im Valetudinarium arbeitete.

    Vom Exerzierplatz wanderte also Appius durch die Castra und betrat die Krankenstation.

    Anscheinend hatte man gerade einen Rekruten in Beschau, zumindest war es nach den Auffirderungen so herauszuhören. Einen kurzen Moment wartete Appius und klopfte dann kurz an, trat ein und grüsste.

    " Salvete." Immer noch im Zwirn in dem er zur Anhörung erschienen war stand er da und ließ den Blick kurz schweifen.

  • "Salve ... Optio?! Ist der Optio noch korrekt?! Das ist ja eine Überraschung." Scato war ehrlich erfreut, seinen alten Schleifer wiederzusehen und grüßte ihn so, wie es sich für ranggleiche Unteroffiziere ziemte. Etwas müde wirkte der, doch das erschien Scato normal in Anbetracht einer langen Reise, auch wenn sie schon einige Tage zurückliegen mochte. "Ich komme gleich zu dir, wir sind hier fast fertig. Nimm doch bitte derweil auf dem Stuhl dort platz." Mit der körperlichen Untersuchung war er zum Größtenteil ja schon fertig, so dass es für Carus´ keinen Anlass gab, sich in Grund und Boden zu schämen, falls er zur prüden Sorte gehörte.


    Er widmete er seine Aufmerksamkeit wieder seinem Patienten, während er sich gedanklich über prüde Rekruten aufregte, ohne dass diese Gedanken einen Weg auf sein Gesicht fanden. Er trat an Carus heran und war nun wieder ganz bei der Sache. "Achte jetzt genau auf meinen Finger, ohne den Kopf zu bewegen. Sieh ihn an, schau auf nichts anderes." Er hob den Zeigefinger wie ein mahnender Lehrer und hielt ihn so auf der Höhe von Carus´ Nase zwischen dessen Augen und bewegte ihn dann langsam einige Male vor und zurück, um zu beobachten, ob beide Augen trotz des natürlichen Schielens gleichmäßig reagierten oder ob eines hängen blieb oder andere Dinge tat, die Scato nicht sehen wollte. Es folgten einige Bewegungen von ganz links nach ganz rechts und von ganz oben nach ganz unten. Danach malte er mit dem erhobenen Zeigefinger langsam Kreise, erst in die eine Richtung, dann in die andere.

  • Es klopfte an der Tür und kurz darauf stand ein Mann im Raum, der wegen der diffusen Lichtverhältnissen schlecht zu identifizieren war. Aus der Überraschung des Optio Valetudinarii schlussfolgerte Sempronius, dass ein Besucher nicht Bestandteil einer üblichen Tauglichkeitesuntersuchung war. Er reagierte aber nicht unwirsch, sondern verwickelte den anderen in ein Gespräch, das Sempronius nicht unterbrechen wollte, indem er grüßte, zumal sein Gruß weder relevant noch zu hören gewesen wäre.

    Schneller als gedacht gehörte Sempronius wieder die Aufmerksamkeit und nicht nur das, denn der Optio begann mit unangenehmen Fingerspielen. Normalerweise bereitete der Silberblick keinerlei Probleme, weil diese Fehlstellung der Augen nicht das kritische Maß überschritt und das Gehirn aus den leicht abweichenden Bildern beider Augen noch ein räumliches Gesamtbild erschaffen konnte. Aus diesem Grund litt Sempronius nicht an einer Sehschwäche, denn das Gehirn blendete keine der Abbildungen aus. Zu seinem Glück trat das stärkere Schielen nur bei Übermüdung und in Stresssituationen auf, denn ansonsten wäre es bereits in seiner Kindheit zu einer Sehbehinderung gekommen.

    Alles wäre unkompliziert, gäbe es nicht zusätzlich die Muskelschwäche, aber sie war da und trat meist in den unpassendsten Situationen auf.


    Bei schlechten Lichtverhältnissen auf einen Finger zu sehen, machte keine Freude. Sempronius folgte trotzdem brav und atmete erleichtert auf, als das Vor und Zurück aufhörte. Kreise und Schwenkbewegungen fielen ihm weniger schwer. Irgendwann überkam ihn aber doch das Bedürfnis, den Kopf nach unten zu beugen, das betroffene Auge zu schließen, mit dem Finger zu drücken und anschließend wieder zu öffnen. Er schielte nicht, aber das Auge tränte leicht.

  • Scato beobachtete genau, was die Augen von Carus bei diesem Stresstest trieben. Doch dabei beließ er es nicht. "Streck beide Arme gerade aus. Die Zeigefinger zeigen aufeinander." Er demonstrierte, was er meinte. "Nun versuche zu erreichen, dass die Fingerspitzen sich treffen." Scato wartete ab, ob Carus das gelang oder ob seine Fingerspitzen aneinander vorbeigleiten würden.

  • Die Aufgabe stellte kein Problem dar, wenn sich die Muskelschwäche nicht zeigte, und darauf hoffte Sempronius. Er wollte die Untersuchung endlich hinter sich wissen und vor allem der Dämmerbeleuchtung entkommen. Als er zur Übung ansetzte, hielt er die Luft an und gab sein Bestes, indem er so konzentriert wie möglich die Finger aufeinander zuführte. Zu seiner Freude gelang die Übung, was daran lag, dass seine Augenmuskeln den für ihn typischen Blick gewährleisteten, mit dem er sich bereits seit Kindesbeinen arrangiert hatte. Der schwache Augmuskel gab in dieser Situation nicht nach, wofür sich Sempronius prompt und in Gedanken bei den Göttern und Geistern bedankte.

    Er verharrte in der Position, weil er nicht wusste, ob er die Übung selbstständig beenden durfte.

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