Macer betrat wieder einmal das Auditorium und blickte über die nicht mehr ganz so große Schar von Zuhörern. "Es freut mich, dass Sie sich hier eingefunden haben, um mit diesem Cursus und der dazugehörigen Prüfung ihr Examen Tertiam in Angriff zu nehmen. Ich nehme an, Ihnen ist bekannt, dass sich die Prüfung aus einem schriftlichen Teil und einem Kolloquium zusammen setzt.
Gibt es Fragen zu den Formalitäten?"
Er blickte in die Runde und schritt dann zum Lesepult.
"Dann können wir uns ja nun in die Materie stürzen. In diesem Cursus möchte ich Ihnen einiges an Wissen über den Belagerungskrieg vermitteln. Wir werden uns mit dieser besonderen Situation in der Kriegsführung sowohl aus dem Blickwinkel der Angreifer als auch aus dem Blickwinkel der Verteidiger befassen und dabei technische und taktische Möglichkeiten sowohl grundsätzlich als auch an konkreten Beispielen behandeln.
Die heutige Vorlesung möchte ich einem kurzen Überblick über die Herkunft und Geschichte des Belagerungswesens widmen. Schon immer haben Menschen nicht nur die offene Feldschlacht gesucht, sondern auch versucht, den Gegner von bestimmten Plätzen zu vertreiben. Und natürlich hat der Gegner stets versucht, diese Plätze so zu befestigen, dass er die Stellung halten konnte.
Schon vor 1000 Jahren haben die Völker des Ostens, die ja schon sehr viel länger als z.B. die Barbaren im Norden stabile Bauweisen kennen und technisches Geschick besitzen, Belagerungskriege geführt. Schon die Assyrer verwendeten Belagerungsrampen, Belagerungstürme, Sturmleitern und Rammböcke im Angriff und die Verteidiger wehrten sich mit allerlei technischen Vorrichtungen, um diese Geräte zu zerstören und gruben Tunnel, um feindliche Rampen zum Einsturz zu bringen. Beide Seiten machten Gebrauch von Bögen und Geschützen, um sich mit brennenden und nicht brennenden Geschossen zu bekämpfen. Schon damals gab es zwei grundlegende Techniken für eine Belagerung: den gewaltsamen Sturmangriff und die Blockade.
Das alles - insbesondere die lange Tradition der assyrischen Bogenschützen - ist für Sie natürlich nicht neu und gehört noch heute zum Programm einer Belagerung. Was natürlich nicht weiter verwundert, denn nach den Assyrern folgten die Perser und setzten die oben genannten Techniken ebenfalls ein, bespielsweise auf ihren Kriegszügen in den heutigen Provinzen Asia, Thrakia und Achaia. Die dort lebenden Griechen steckten manche Niederlage ein, reagierten aber auch auf die Angriffe und trieben die Entwicklung von Verteidigungsanlagen weiter voran. Es wurden verbesserte Mauertechniken entwickelt, raffinierte Torkonstruktionen ersonnen und die Anordnung von Türmen in einer Mauer perfektioniert. Und in gleicher Weise wurden Techniken der Angreifer adaptiert, weiter verbessert und als Vorlage für Neuentwicklungen verwendet. So dürfen wir davon ausgehen, dass die Griechen, deren mathematisches und technisches Geschick wir ja noch heute bewundern und nutzen, die Erfinder der Torsionsgeschütze sind, die ja heute einen Großteil unseres Geschützvorrats ausmachen. Mit der vielfältigen Anwendung des Torsionsprinzips für Stein- und Pfeilgeschütze werden wir uns ausführlich befassen. Diese Geschütze finden sowohl im Angriff als auch in der Verteidigung bei einer Belagerung Anwendung und können bei richtigem Einsatz den Ausgang einer Belagerung entscheidend beeinflussen.
Bleiben wir noch kurz bei den Griechen, die nicht nur Torsionsgeschütze bauten, sondern auch riesige fahrbare Belagerungstürme planten. Über diese sollten die Angreifer an feindliche Mauern herangeführt werden und über Brücken auf verschiedenen Etagen auf die feindliche Befestigung herübersteigen können, während Geschütze im inneren des Turms oder auf seiner obersten Plattform Feuerschutz leisteten. Ganz so effektiv waren diese Türme aber eher selten, wie wir ebenfalls im Verlauf der Vorlesung sehen werden. Ein wahres Wunder an Effizienz waren allerdings die gewagten Maschinen, die angeblich ein einziger Mann - Archimedes - zur Verteidigung der Stadt Syrakus erfand und damit eine römische Belagerung beinahe im Alleingang erfolglos hätte werden lassen. Nicht nur seine äußerst sinnvolle Anordnung von Geschützen auf mehreren Mauerringen machte den Angreifern zu schaffen, sondern seine Geräte waren sogar in der Lage, mit einem langen Hebelarm angreifende Schiffe aus dem Hafenbecken zu schleudern und zu versenken!
Nun ist Ihnen natürlich bekannt, dass wir die Stadt trotzdem erobern konnten - Erfolg brachte ein Überraschungsangriff. Wir dürfen uns in einer Belagerung also niemals nur auf die Überlegenheit einer Technik oder Methode verlassen, sondern immer alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten im richtigen Augenblick nutzen.
Wie ich zu Beginn erwähnte, kommt es immer dann zur Belagerung, wenn man einen Gegner gewaltsam von einem bestimmten Platz vertreiben möchte. Die Gründe dafür können vielfältig sein. Der einfachste Grund ist natürlich, dass man diesen Gegner bekämpfen möchte, der Platz also nur deshalb von Bedeutung ist, weil sich dort der Gegner befindet. Nicht immer ist dann eine Belagerung erfolgreich, weil der Gegner sich möglicherweise rechtszeitig zurück zieht und den Platz aufgibt. Diese Erfahrung musste z.B. Gaius Iulius Caesar machen, als er im Krieg gegen die Veneter deren Küstenstädte angriff: Sobald sie sein Heer anrücken sahen, verluden sie allen beweglichen Besitz auf Schiffe und segelten schnell zu einem anderen Siedlungsplatz!
Anders sieht es aus, wenn der belagerte Ort als solcher von Bedeutung ist und der Gegner ihn daher unbedingt halten will. Möglicherweise befinden sich größere Mengen Gold oder wertvoller Rohstoffe in der Stadt oder im Hafen ankert eine große Flotte, die dem Angreifer in die Hände fallen würde, wenn man die Stadt verliert. Die Möglichkeiten auf derartige Beute sind vom Angreifer zu berücksichtigen, denn eine Belagerung ist nicht billig und lohnt sich nicht immer. Im eben genannten Fall entschied sich Caesar logischerweise gegen weitere Belagerungsversuche, da sie nutzlos waren. In anderen Fällen waren Belagerungen höchst erfolgreich, wie zum Beispiel die Einnahme von Carthago Nova durch Scipio, bei der der Wert der Beute den Wert der gewonnen Stadt als solche weit überstieg.
Nicht immer muss eine Belagerung übrigens eine langwierige, gewaltsame Konfrontation größerer Truppenmassen sein. Eine geschickte Kriegslist im richtigen Augenblick kann eine Belagerung zu einem raschen und überraschenden Ende führen. Auch solche Tricks werden im Laufe der Vorlesung immer mal wieder zur Sprache kommen."