Der laue Wind trug das Lachen eines Kindes in den Keller hinab und beinahe hätte Gracchus glauben können, er befände sich im Vorrats- und Weinkeller neben dem Carcer der Villa Flavia, denn nicht selten war auch im Garten der Villa das Kinderlachen Serenus' und seiner Spielgefährten zu hören, obgleich jener viel besser daran getan hätte, sich seinen Studien zu widmen, statt die Tage im Garten zu vertun. Doch auf der anderen Seite konnte Gracchus' Neffe natürlich nichts für jene deplorablen Umstände, war es doch sein Onkel, welcher sich unfähig dazu sah, ihm einen geeigneten Lehrmeister beizuschaffen. Doch selbst, da Gracchus bisweilen äußerst häufig über seine Unfähigkeiten nachsann, da sie sich augenscheinlich äußerst häufig offenbarten, selbst ob dieser Tatsache dachte er in diesem Augenblick im Keller unter dem Weinberg nicht über solcherlei nach, sondern war mit seinen Gedanken ganz bei seinem Zwilling und dessen Gefährten. Die Erwähnung der freundschaftlichen Bande zwischen dem Parther und seinem Bruder verwunderte Gracchus doch ein wenig, doch die Ehrenschuld des Dardashi trug wiederum zu seinem Verständnis bei, weswegen er ein unscheinbares verständiges Nicken zeigte.
"Er war also Kommandant bei der Classis? Bei der Misenensis? Nauarchus oder Tribunus?"
Ein marginales Lächeln kräuselte seine Lippen.
"Dies erklärt zumindest, warum er mir bisher in Rom nicht aufgefallen ist. Doch trotz allem scheint es mir noch immer so unglaublich, dass wir beide völlig aneinander vorbei lebten, dass wir gleichsam zwei Leben lebten ohne jegliche Verbindung, ohne das Wissen umeinander. Natürlich ist die Ausdehnung des Imperium gewaltig und womöglich sollte ich froh sein, dass die Möglichkeit besteht, dass er dorthin zurückkehrt, wo er hergekommen ist und wir weiter so leben wie zuvor, dennoch ist der Gedanke mehr als faszinierend."
Ein Schatten drang in den Keller ein, flackerte durch das sonnengeflutete Rechteck auf dem Kellerboden und verschwand außerhalb der Sichbtbarkeit. Gracchus jedoch bemerkte ihn nicht einmal, denn er war weiterhin ein Gefangener des Quintus Tullius, nicht nur körperlich. Entschlossen, ehrvoll, doch gleichsam grausam und kalt - Quintus kam viel mehr nach ihrem Vater als er selbst. Ob Vespasianus sich zu seinen Lebzeiten manches mal gefragt hatte, wie sein zweitgeborener Sohn - denn Gracchus war sich sicher, dass Tullius der erste von ihnen beiden war - wohl geworden wäre?
"Welch eine Schande, welch deplorable Wirrung des Schicksals."
Nachdenklich sprach Gracchus diese Wort aus, nicht für Dardashi und auch nicht darüber sinnierend, dass sie für jenen völlig aus dem Zusammenhang gerissen waren. Er hob die Hand zu seinem Mund und begann seine Unterlippe zu kneten, über seinen Schatten nachdenkend, über Tullius' Schatten nachdenkend. Nach einer Weile ließ er die Hand sinken und blickte den Freund seines Zwillings an.
"Ich ... wir ... hatten einst einen weiteren Bruder, um einiges älter als Quintus und ich. Er sollte der Stammhalter der Familie werden, er war der Stolz, der Erbe und die Zukunft. Doch er ließ die Familie hinter sich, schloss sich den Christen an, gab sein Leben dafür hin und verstarb schließlich irgendwo im Osten. Ich zürnte ihm lange dafür, denn er hinterließ mir nicht nur die Verpflichtung seiner Zukunft, sondern gleichsam die Verantwortung über unsere Familie, und dennoch war auch er ein Teil dieser Familie. Du magst dies nicht verstehen und Quintus mag es ebenso wenig verstehen, doch in all diesem Leben zwischen Trug und Schein, zwischen Macht, Geld, Gier und Villen, zwischen Politik und Einfluss, Öffentlichkeit und Ehre, dort gibt es wenig, was es sich für einen Menschen persönlich zu schützen, zu bewahren und zu pflegen lohnt. Die Familie gehört hier hinzu. Wäre Quintus ein Bastard meines Vaters, womöglich würde ich ihm aus Pflichtgefühl einen Obolus zukommen lassen, womöglich würde ich seine Existenz völlig ignorieren. Doch er ist, er war nicht nur anerkannter Sohn des Flavius Vespasianus, er ist zudem familiär enger mit meiner Existenz verwoben, als irgendeine Person dies sein könnte. Er mag einen Schatten über mich ausbreiten, doch ich kann ihm dies nicht verwehren. Ich kann es nicht. Was er auch tut, es wird sein angestammtes Recht sein, und wenn er tatsächlich so entschlossen ist, wie du sagst, und daran zweifle ich nicht, und sein Streben bis zum angedrohten Ende erfolgt, so wird es enden wie Rom begonnen hat. In diesem Falle brauche ich mir ohnehin keinerlei Gedanken darüber zu machen, welche Schatten er wirft, denn im Elysium scheint keine Sonne, dort gibt es auch keine Schatten."
Es war merkwürdig dies auszusprechen und eine seltsame Ruhe legte sich über Gracchus. All die Geschehnisse der vergangenen Wochen wurden in diesem Augenblick so völlig unwichtig, marginal, beinahe nichtig, denn im Anblick des eigenen Endes war das tägliche Treiben des Lebens, die Entführung seiner Schwester, der Paedagogus seines Neffen, das verlorene Vermögen seiner Gattin, dies alles war völlig bedeutungslos, denn das Leben würde weitergehen. Das Leben würde immer weiter gehen, was auch geschah, wie sehr man sich darum sorgte, wie sehr man es ignorierte und wie viele Gedanken man sich auch darum machen würde. Es gab nur eine einzige Tat in seinem eigenen Leben, welche Gracchus bedauern würde nicht getan zu haben, doch diese würde er auch bedauern, wenn er noch hundert Jahre und älter würde werden, denn er würde niemals zulassen können, dass dies geschah, so sehr er sich auch danach sehnte.
"Im anderen Falle bleibt mir einzig zu hoffen, dass die Scherben, welche er hinterlassen mag, groß genug sind, um das Gefäß zu kitten. Dies mag uns unterscheiden, doch es scheint mir, dass die Parzen für den Nachkommen unseres Vaters nur eine Portion unumstößliche Entschlossenheit festlegten und als die Natur sich entschied, ihm gleich zwei Söhne zu schenken, so konnte nur auf einen von beiden dies übergehen. Du magst mich nicht kennen, doch da du ihn kennst, weißt du nun, woran es mir in meinem Leben schon immer am meisten mangelt. Ich kenne ihn nicht, doch da ich mich kenne, soweit es einem Menschen vergönnt ist sich überhaupt selbst zu kennen, so weiß ich nun endlich, wo all diese mangelnde Entschlossenheit geblieben ist, die in meinem Vater doch so reichhaltig vorhanden war. Mag es eine Schwäche sein, doch was würde es nun noch nützen, sie versuchen zu leugnen?"