Beiträge von Manius Flavius Gracchus

    In behäbiger Gemütlichkeit wiederholte der Archivar den Namen und trottete mit einem Laut davon, welcher gleichermaßen davon künden konnte, dass sie am Eingang warten oder auch, dass sie mit ihm kommen sollten, oder auch nur, dass dies ein herrlicher Tag war oder aber er sich trotz allem in seiner Arbeit gestört fühlte. Gracchus war es völlig gleich, was auch immer der alte Mann zum Ausdruck bringen wollte, er hatte ohnehin nicht vor, ihm zu folgen und blieb so geduldig an der Türe stehen, denn obgleich er mit Schriften gefüllten Archiven sonstig einiges an Freude abgewinnen konnte, so war ihm dieses Archiv, gefüllt mit den Namen tausender toter Römer doch ein wenig unheimlich. Wäre dies ein anderes Archiv und der Anlass ein anderer gewesen, Gracchus hätte womöglich eine Konversation mit dem Annaer begonnen, bestand doch das ganze politische Leben aus Konversation und Kontakten, doch aufgrund der Tatsache, dass sie nach dem Verbleib der Asche des toten Sohnes des Praefectus forschten, verzichtete er darauf. Schweigen und Stille legte sich über das Archiv, durchbrochen nur vom Schlurfen des Archivars, vom Klappern einiger Tabulae, erneutes Schlurfen und nochmaligem Klappern.
    "Marcus Annaeus Metellus, Sohn des Lucius Annaeus Florus!", tönte es schlussendlich durch die staubige Stille, bevor erneut das Schlurfen zu hören war und der alte Mann hinter einem Regal hervortrat und eine Tabula in die Höhe hob. "Marcus Annaeus Metellus, Sohn des Lucius Annaeus Florus, letzter Aufenthaltsort: Rom. Verstorben ANTE DIEM XIII KAL APR DCCCLVII A.U.C.*, gemeldet von den städtischen Behörden. Die Verbrennung wurde durch die Priesterschaft der Libitina angeordnet, die Asche seines Körpers laut den Aufzeichnungen dort verwahrt." Mit einem in dieser Umgebung doch lauten Knall schlug der Archivar die beiden Hälften der Tafel zusammen. "Wenn ihn keiner abgeholt hat, ist er sicher noch da. So ist das immer wenn die Familien sich nicht darum kümmern."
    Ein Schauder durchzog Gracchus bei dem Gedanken, dass seine Asche eines Tages bei der Priesterschaft der Libitina würde liegen bleiben können, bis sie schließlich in einem der anonymen Gräber für Peregrini und Sklaven beigesetzt wurde. Er musste sich dringend um die Angelegenheit eines Erben kümmern, um dies zu verhindern.
    "Wir danken dir für diese Auskunft."
    Er wandte sich Annaeus zu.
    "Soweit ich weiß, wird die Asche eines römischen Bürgers durch die Priesterschaft nicht so bald beigesetzt wie die eines Fremden oder Sklaven, eine Folge dessen, dass römische Familien in den heutigen Zeiten oft weit im Imperium verstreut sind und es oftmals länger dauert, bis jene sich um ihre verstorbenen Anverwandten kümmern können. Vermutlich wirst du dem Wunsch deines Sohnes daher noch entsprechen können."


    Sim-Off:

    Ich hoffe, dies ist einigermaßen passend.

    Beklommen senkte Gracchus den Blick und war froh als Aquilius an das Fenster hin trat, ihm den Rücken zukehrte und dabei nicht sah, wie er sich auf die Unterlippe biss, die Augen schloss und tief durchatmete. Die Worte seines Vetters schmerzten so sehr, und immer, wenn Gracchus die Scherben seines Ichs gesammelt und zusammen gesetzt zu haben glaubte, schlugen jene Worte, jene Erinnerungen ihn wiederum in tausende und aber tausende winzige Splitter, so klein, so winzig, dass jedes einzelne davon durch ein Nadelöhr würden passen. Immer ging das Leben weiter, doch ein jedes Mal konnte Gracchus einige dieser Splitter nicht mehr auffinden, verlor ein jedes mal ein Stück von sich selbst, ein marginales nur, doch in der Häufung würde sich diese Abstinenz einst gravierend bemerkbar machen. Er hatte gehofft, Aquilius könne ihn hassen, er hatte gehofft, Aquilius' Abwesenheit würde alles erträglicher machen, er hatte gehofft, Aquilius' Rückkehr würde alles einfacher machen, er hoffte und hoffte, doch nichts änderte sich, nichts wurde erträglicher, nichts wurde einfacher. Er wollte Caius noch immer folgen, wollte zu ihm treten, ihn berühren, seine Hände an seine Schultern legen, seine Lippen an seinen Hals, seinen Nacken küssen, die Augen schließen und in Aquilius' Präsenz versinken. Doch er tat nichts, blieb wo er war und zerbrach noch einmal in tausende und aber tausende Splitter. Der Themenwechsel kam so abrupt und dennoch nicht unerwartet, denn alles war noch wie immer, nichts hatte sich geändert und letztlich blieb nur Flucht. Was hatte sich getan? Wie lange war Aquilius fort gewesen? Seit den Saturnalia in etwa musste es gewesen sein, denn schon dort hatte Gracchus ihn vermisst.
    "Aristides' Kinder sind in der Villa eingezogen."
    Es musste noch vor den Saturnalia gewesen sein, denn bereits damals hatte Arrecina nicht mehr um sich selbst gewusst.
    "Nein, dies ist keine Neuigkeit, du weißt darum bereits, nicht wahr? Nun, Marcus hatte seine Tochter einige Zeit bei sich in Mantua nach jener Misere mit dem Sklaven, doch sie weilt nun wieder in Rom. Lass mich nachdenken, meine Geschwister haben sich eingefunden, dies war wohl nach jener Nacht. Quartus Lucullus und Minervina."
    Er legte seinen Kopf leicht schief.
    "Erinnerst du dich überhaupt an sie? Lucullus wuchs auf unserem Landgut in Oberitalia auf, er sollte nach Animus' Tod seinen Weg in den Cultus Deorum gehen, während ich ... du hast das nicht alles vergessen, oder?"
    Ein wenig Furcht schwang in Gracchus' Stimme mit. Aquilius war der einzige Mensch, der um all seine Verfehlungen wusste, der den größten Teil seines Weges mit ihm gegangen und ihn in der Zeit, in welcher er sich gegen den Willen seines Vaters gestellt, nicht verlassen hatte.
    "Nun, er kam nach Rom, um diesen Weg zu gehen. Ich muss gestehen, ich bin nicht sicher, was er von all jenen Verwirrungen hält, doch er ist ohnehin nicht in der Position, mir Vorhaltungen zu machen, davon abgesehen, dass wir uns augenscheinlich beide unserer Rolle als Brüder zu bewusst sind, als dass er sein Wort gegen mich würde erheben. Er ist mir so fremd, Caius, ich kann ihn nicht einmal einschätzen. Minervina ist mir ebenfalls fremd, doch sie hat das Temperament ihrer Mutter, obgleich sie sich zu beherrschen weiß, hält sie ihre Gefühle nicht unbedingt zurück. Sie erwartet von mir, dass ich einen Gatten für sie finde, obgleich sie jegliche meiner Vorschläge ablehnt. Dann reiste sie auch noch nach Hispania, nach Hispania zu dieser Zeit, um die Welt zu sehen und dort ..."
    Gracchus schüttelte den Kopf, als könne er damit all das Übel der Welt abschütteln.
    "Sie wurde entführt."
    Er hob eine Hand und massierte sich die Schläfe.
    "Der Praefectus Praetorio löste sie aus, genaueres weiß ich nicht. Sie ist noch immer dort und ich kann nichts tun, als in Rom zu sitzen und auf das Ende meiner Amtszeit zu warten. Manches mal glaube ich, die Götter haben diese Familie verlassen, Caius. Meine Ehe gliedert sich nahtlos in all dies ein, Antonia ist eine sicherlich gute Gattin, doch ich ..."
    Gracchus brach ab und ließ seine Hand sinken, er wollte nicht wieder darüber nachsinnieren, doch gleichsam brachte ihn jene eheliche Misere auf ein Gespräch und auf eine Person, welche er bisherig noch nicht erwähnt hatte, und welche im Gedanken um sie tatsächlich ein leichtes Lächeln auf seine Lippen zaubern konnte.
    "Unsere Base Leontia ist ebenfalls in die Villa eingezogen, ihr Vater sandte sie aus Ravenna. Sie ist unschuldige Perfektion, gleich einer erblühenden Rose, ganz wie in ihren Briefen. In ihrer Gegenwart können wir alle nur verblassen, uns schäbig fühlen und unserer Verdorbenheit schämen. Was immer von uns erwartet wurde, Caius, worum wir uns bemühen müssen und uns quälen, ihr ist es von den Göttern gegeben, sie geht mit einer Leichtigkeit durch diese Welt, welche beneidenswert ist."
    Einige Augenblicke verstrichen, in welchen Gracchus seine Base ob dieser Leichtigkeit beneidete, schließlich fuhr er fort.
    "Erfolg - im Amt ist er mir tatsächlich beschieden. Nun, äußerst ruhmreich mag meine Zeit als Vigintivir nicht gewesen sein, doch was sollte ein ein Decemvir litibus iucandis schon an Ruhm ansammeln? Ich bin zufrieden mit dem Verlauf dieser Amtszeit, und auch die Kosten hielten sich in Grenzen."
    Tatsächlich waren die Kosten rückwirkend ein beträchtlicher Faktor, denn nach der Entführung seiner Schwester wusste Gracchus nicht, wie sehr die Hinterlassenschaft seines Vaters würde dadurch schrumpfen und wie viel im Anschluss für seine weiteren politischen Absichten würde bleiben, denn gerade ein Aedilat war äußerst kostspielig. Natürlich bestand die Möglichkeit seinen Vetter und Patron Felix um einen Kredit zu bitten, doch dies würde er nur äußerst ungern auf sich nehmen, gerade da er auch für Lucullus' Amtszeit und Minervinas Mitgift eine adäquates Summe zurückhalten musste.

    Seit Tagen schon war Gracchus an den Abenden mehr als leidlich, denn sein Zahn machte ihm immer dann zu schaffen, sobald er liegen ging, und so sehr sich Sciurus auch bemühte, Gracchus' Laune war nicht zu bessern, durch nichts war er zu befriedigen und wohin der Sklave seine Hände legte war dies falsch. Als an diesem späten Abend schließlich das Lärmen im Garten der Villa begann, verlor Gracchus endgültig die Geduld. Barsch riss er Sciurus' Hände von seiner Hüfte, schob den Sklaven mit einer Heftigkeit aus dem Bett, dass jener sich eilen musste auf den Füßen zu laden und setzte sich auf, bereit jeden Eindringling in der Villa mit eigenen Händen zu erwürgen.
    "Tunika!"
    Noch ehe der Sklave reagierte, hatte sich Gracchus erhoben. Die gehaltene Tunika warf er sich im Gehen über, strich sich nachlässig durch die Haare und strebte ohne seine Schuhe zu beachten aus dem Zimmer hinaus. Obgleich dies selten der Fall war, so verlor Sciurus beinahe den Anschluss an seinen Herrn, musste er doch nicht nur ihm folgen, sondern gleichsam für einen angemessenen Geleitschutz Sorge tragen. Die spitzen Kieselsteine unter seinen Fußsohlen waren dazu angetan, Gracchus' Rage weiter anzutreiben, so dass er wenig umgänglich war, als er auf seinen Vetter, seinen Neffen und dessen Hund traf. Hinter ihm folgten Sklaven mit Fackeln und beleuchteten das merkwürdige Aufeinandertreffen der drei Flavier. Obgleich Gracchus nicht genau wusste, was er eigentlich erwartet hatte, so war es doch nicht dieser Anblick - sein liebster Vetter mit einem Stecken bewaffnet in Angriff auf den Lieblingshund seines Neffen - wodurch ihm ein wenig seiner ohnehin völlig untypischen Angriffslust genommen wurde.
    "Caius! Bei Dianas Bogen, wenn du ein Jäger sein willst, so sei dies, aber nicht in dieser Villa und nicht mitten in der Nacht! Und du, Lucius Flavius Serenus, was, bei Summanus, machst du um diese Uhrzeit noch im Garten? Ist denn in dieser Familie kein normales Leben mehr möglich?!"
    Wie als Antwort auf seine Frage zuckte der stechende Schmerz aus Gracchus' Backenzahn durch seinen Kopf, dass er glaubte, jener müsse in diesem Augenblick bersten, mehr noch, dass er sich wünschte, er würde bersten, dass der Schmerz endlich ein Ende fand. Er verzog das Gesicht, sog scharf Luft ein, presste seine Hand auf die Wange und stöhnte auf. Warum hatte er auch diese Frage stellen müssen?

    Mit ernster Miene stand Gracchus vor der Rostra und lauschte der Trauerrede des Tiberius Vitamalacus zu Ehren dessen Schwester. Obgleich er nur wenig mit Tiberia Claudia in Kontakt gekommen war, einige male im Zuge der Arbeit im Cultus Deorum und nicht zu letzt bei der Verlobung seines Vetters Furianus, so war deren Dahinscheiden doch äußerst bedauerlich, nicht nur, da sie eine überaus untadelige Frau gewesen war, welche seinem Vetter sicherlich gut getan und eine Bindung zwischen der Flavia und Tiberia hergestellt hätte. Die Umstände, welche zum Ableben der Tiberia geführt hatten, waren ein wenig mysteriös, zumindest wenn man den Gerüchten glaubte, was Gracchus jedoch nicht tun wollte und darum nicht nachvollziehen konnte, weshalb sie sich so kurz vor der Eheschließung mit Furianus das Leben genommen hatte. Nicht selten war der Freitod ein ihrem Stand angemessener Weg, doch wie einst bei seiner eigenen Mutter konnte Gracchus auch im Tod der Tiberia keinen Sinn erkennen, weshalb einzig Bedauern und Trauer blieb. Er musterte seinen Vetter Furianus, welcher im Grunde sein Neffe war, und stellte fest, dass jener nicht nur dem Anlass gemessen grauenhaft aussah. Vorgeblich hatte jener Tiberia Claudia geliebt, tatsächlich geliebt, und Gracchus mochte sich nicht vorstellen, was er nun durchleiden musste. Es drängte ihn danach seinem Vetter beizustehen, ihm Trost zu spenden, doch sie hatten nie einen sonderlich engen Weg zueinander gefunden, waren nie über eine oberflächlich verwantschaftliche Beziehung hinaus gekommen. So wandte er denn seine Aufmerksamkeit erneut der Rostra zu und folgte der uralten Pflicht den Tod einer wahren Römerin zu betrauern.

    Für manch Familie des Imperium Romanum mochten sechzig Sesterzen im Monat ein wahrhaftes Vermögen darstellen, von welchem sie gut und gerne mehr als einen Monat lang zehren konnten, und selbst für ein patrizisches Kind sollte solcherlei ausreichend sein, dennoch war sich Gracchus nicht sicher, wie teuer Rom für kindliche Wünsche tatsächlich war. Dennoch hielt er einen Löwen für durchaus überflüssig, ebenso wie eine Prophezeiung der Sibylle, woraus er schloss, dass Serenus ohnehin bereits zu viel Taschengeld bekam. Auf die Frage jener Prophezeiung vermutete Gracchus zuerst, der Junge wolle ihn sekieren, doch die Ernsthaftigkeit, mit welcher Serenus sprach, ließ ihn sogleich daran zweifeln. Ohnehin war dies nicht das erste mal, dass sein Neffe von solchen Absichten sprach und Gracchus war sich nicht mehr sicher, ob dies nur kindliche Träumereien oder womöglich bereits feste, durch seine Großmutter vorangetriebenen Zukunftsabsichten waren. Er hob die Schrift noch einmal an und ließ seinen Blick über die Worte schweifen, sinnierend, ob dahinter tatsächlich der Weg des Serenus auf den Thron des römischen Kaisers stecken mochte.
    "Prophezeiungen zeigen nur immer einen von vielen möglichen Wegen, Serenus. Das Leben ist wie ein Netz aus Straßen, entscheidest du dich für eine Abzweigung, so mag sich alles ändern. Die Sibylle zeigt einen einzigen Gang durch dieses Labyrinth, schon dass du um die Zukunft weiß, wird sie massiv ändern. Nur wenn du dir bewusst bist, weshalb du Imperator anstelle des Imperators werden willst, nur wenn du dich deiner Pflicht aus Überzeugung stellst, nur dann kann dir der Wegweiser der weisen Frauen helfen."
    Er reichte Serenus die Tabula.
    "Weshalb willst du Imperator werden, Serenus?"

    "Lucullus, salve."
    Den Griffel zur Seite legend richtete sich Gracchus auf und wartete, bis sein Bruder Platz genommen hatte. Sie sahen und sprachen sich nicht übermäßig häufig, hatten es nie, woran sich auch in Rom nichts geändert hatte. Noch immer war sich Gracchus nicht gänzlich sicher, wie das Verhältnis zwischen ihnen gehalten war, war gar ein wenig misstrauisch, obgleich er seiner Pflichten wegen seinem Bruder gegenüber dies niemals würde offenbaren. Augenscheinlich war sich auch Lucullus dieser Pflichten nur allzu bewusst, andernfalls wäre er nicht gekommen. Als sein Bruder ausgesprochen hatte, weshalb er dies getan hatte, unterdrückte Gracchus mühsam ein Seufzen, welches in seinem Bauch im Entstehen inbegriffen war und schluckte es herunter, noch ehe die Möglichkeit bestand, dass es seine Kehle würde emporsteigen. Ihr Vater hatte für sie alle sehr genau vorbestimmt, wohin sie zu gehen hatten, doch nicht nur, dass einige von ihnen, wie er selbst und deplorablerweise auch ihr Bruder Animus, von jenem Weg mehr oder minder weit abgewichen waren, zudem hatte sich nach dem Tod des Vespasianus augenscheinlich auch in seinen Geschwistern Zweifel eingenistet, wusste doch keiner mehr so recht, was er wollte, selbst nach dieser langen Zeit. Noch bevor er einen Satz gesprochen hatte, fühlte sich Gracchus bereits mit Lucullus' Anliegen überfordert. Minervina hatte ebenfalls nicht gewusst, was sie wollte, wusste nur, was sie nicht wollte, doch wollte andererseits auch nicht auf das hören, was Gracchus ihr sagte, obleich sie seinen Rat wollte hören. Gracchus wusste nicht, was seine Geschwister von ihm wollten, war sich nicht sicher, was sie von ihm erwarteten, doch augenscheinlich waren sie wie ihr Vater der Ansicht, dass er sich um die Familie zu kümmern hatte, was er zwar nicht wollte, dennoch tat, doch heillos damit überfordert und augenscheinlich auch wenig erfolgreich war, zumindest aus seiner eigenen Sicht heraus.
    "Nun", begann er daher zögerlich. "Ich werde dir kaum sagen können, was du willst, Bruder."

    Ob des vielen Rauches, welcher sich noch einmal auf Serenus' Räucherungsbemühungen hin erhob, begannen Gracchus' Augen erneut ein wenig zu tränen und er musste einige male blinzeln, um jene zu vertreiben. Doch Serenus tat seine Aufgabe sehr vorbildlich, so dass ihm genügend Zeit blieb, bis die Worte gesprochen und das Voropfer beendet war. Von seinem Sklaven Sciurus, der nun zu ihnen trat, nahm Gracchus das weiße Lämmlein auf den linken Arm entgegen und fasste es fest, die rechte Hand tunkte er in einen beigehaltenen Becher Wein und strich schließlich ein wenig der Flüssigkeit über den Kopf des Tieres.
    "Oh Apollon divinus, hochgelobter Gebieter über Wohl und Gesundheit! Oh Aesculapius divinus, hochgelobter Gebieter über Wohl und Gesundheit! Euch zu Ehren geben wir dieses Tier, Euch zu Ehren mit bescheidener Bitte! Wie es Euch zusteht sei dieses Lamm Euch angetragen mit der Bitte um Gesundung unseres Familienmitgliedes Quartus Flavius Lucullus, Sohn des Titus Flavius Vespasianus. Möget Ihr in Eurer unendlichen Güte die Leiden des Quartus Flavius Lucullus lindern und seine Krankheit von Ihm nehmen, dass auch er Euch und den Göttlichen seinen Dank beweisen kann!"
    Mit dem Opfermesser strich Gracchus über den Rücken des Tieres.
    "Apollon divinus, Aesculapius divinus, hochgelobte Gebieter über Wohl und Gesundheit, Euere Hilfe für unsere Gabe!"
    Noch im einen Augenblick starrte das Tier in den weitläufigen Garten der Villa Flavia, im nächsten bereits zog Gracchus die scharfe Klinge des Messers über seine Kehle und spürte darauf, wie das Leben aus dem Lamm hinaus wich. Das rotfarbene Blut schoss aus der Wunde heraus, befleckte seine Tunika und schaffte es in einigen Spritzer sogar bis auf die Tunika des Serenus. Doch Gracchus hatte weder Auge noch Acht für sein eigenes Gewand, noch für das seines Neffen, er drehte den leblosen Körper geschickt auf seinem Arm und schnitt den Bauch auf.
    "Die Schale, Serenus."

    Vermutlich zum letzten Male in seiner Amtszeit, doch nicht unbedingt zwangsläufig, erreichte Gracchus den Tempel der Vesta nach Bekanntgabe der letzten Lectio. Obgleich die Sacerdotes Vestales dieser Tage einige religiöse Zeremonieen zu absolvieren hatten, so hoffte er dennoch, dass sein Schwester wiederum ein wenig Zeit würde für ihn finden. Einer der Sklaven meldete ihn an der Porta in offiziellem Anliegen an, ein anderer trug bei sich die Liste mit den Namen der Verstorbenen.



    ~ Lucius Albius Seneca
    ~ Artoria Sabina
    ~ Decimus Claudius Donatus
    ~ Lucius Decimus Philippus
    ~ Flavia Calpurnia
    ~ Marcus Helvetius Scaurus
    ~ Caius Iulius Constantius
    ~ Matinia Agrippina
    ~ Titus Octavius Dio
    ~ Tiberius Petronius Sequester
    ~ Sergia Severina
    ~ Publius Terentius Pictor
    ~ Tiberia Claudia
    ~ Tiberia Livilla
    ~ Sextus Valerius Latinus

    So traten die beiden Männer den Weg zum Tabularium an, welches unweit am Ende des Forum Romanum nahe des Tempels des Saturnus gelegen war, gefolgt je von der eigenen kleinen Gefolgschaft, die gleichsam ein Garant für freien Weg war. Am Tabularium angelangt bedurfte es nur weniger Worte des Vigintiviren, dass sie in das Archiv eingelassen wurden .

    Obwohl noch vor wenigen Schritten der Tag ein sonnenbeschienener Fühlingstag gewesen war, so war im Archiv unter dem Tabularium davon wenig zu erahnen. Die staubgeschwängerte, nach verbranntem Öl riechende Luft stand zwischen den zahlreichen Regalen und die einzigen Bewegungen rührten von den Schatten, welche ob der ab und an flackernden Öllampen geworfen wurden. Selbst der Archivar gab wieder den Anschein, als würde er nicht mehr unter den Lebenden weilen, er saß auf seinem Stuhl am Tisch neben dem Eingang und las in einer brüchigen Schriftrolle. Nachdem Gracchus gemeinsam mit Annaeus Florus die Eingangstür durchschritten hatte, räusperte er sich.
    "Salve, guter Mann."
    Jener alte Mann, nur das ausgeprägte Weiß seines spärlichen Haarkranzes ließ erahnen, dass sein Haupt einst mit strohblondem Haar bedeckt gewesen war - doch dies musste schon Ewigkeiten her sein - jener Alte ließ sich wieder viel Zeit damit, sich von seiner Schrift zu lösen und aufzublicken. Mittlerweile glaubte Gracchus nicht mehr daran, dass jenes Verhalten dazu gedacht war, ihn zu sekieren, sondern dass das Alter des Archivars schnelleres Arbeiten grundsätzlich verbot.
    "Salve, Decemvir litibus iudicandis. Du benötigst wieder eine Auskunft? Ich hoffe, du hast an den Passierschein gedacht."
    Ein feines Lächeln kräuselte Gracchus Lippen und er beförderte aus einer Falte seiner Toga einen winzigen Beutel hervor, welchen er in einer unscheinbaren Bewegung auf dem Tisch platzierte.
    "Am heutigen Tage werden wir ohne einen Passierschein auskommen, wollen wir doch keinerlei schriftliche Information durch diese Tür befördern. Dies ist im übrigen Annaeus Florus, Praefectus der Classis Misenensis. Wir benötigen eine Information über seinen unlängst verstorbenen Sohn, genau genommen, woher die Information darüber stammt und wo der letzte Aufenthaltsort des Anneaus war."
    Der Beutel verschwand in einer ebenso unscheinbaren Bewegung in einer Schublade des Tisches, wie er seinen Weg auf eben jenen gefunden hatte. In einer mühsamen Bewegung stemmte der Archivar sich auf den Tisch und auf, bei Angelegenheiten mit dem Buchstaben 'A' war er besonders gütig geneigt, waren jene Aufzeichnungen doch ganz vorn im Archiv gelagert.
    "Wie ist der genaue Name deines Sohnes, Annaeus?"

    Beinahe unsichtbar tanzten die silbrigfarben glänzenden Staubpartikel durch den schmalen schimmernden Lichtstreifen, welchen die goldfarbene Abendsonne in das Cubiculum warf. Ein subliminaler Blütenduft durchzog die Luf, ein heimlicher Hauch, Reminiszenz an jenen gewaltigen Mandelbaum im Hortus der Villa Flavia, der nun Tag um Tag seine zartrosefarbenen Blüten der Frühlingssonne entgegen strecke. Gedankenverloren strich Gracchus über den lockigen Kopf des Quirinus jener kleine Statuettengruppe der alten Göttertrias, welche Furianus ihm zu den Saturnalien geschenkt hatte, spürte unter seinen Fingerkuppen das kalte Metall und lächelte versonnen als er die Figurine mit einem kleinen Stoß zum Drehen brachte. Panta rhei - alles fließt und alles dreht sich. Gerade schickte er sich dazu an, dem Mars einen Stoß an sein wohlgeformtes Hinterteil zu verpassen, als ein mahnendes Klopfen ihn davon abhalten und innehalten ließ. Er stoppte die Drehung der Figurine augenblicklich, legte ein Schriftstück vor sich hin und beugte sich, einen Griffel in die Hand nehmend darüber, um nicht den Anschein zu geben in frühlingshaften Träumereien eingesponnen zu sein, wie dies augenscheinlich der Fall war.
    "Ja."

    Erzürnt schüttelte Gracchus den Kopf.
    "Wir waren und sind Sacerdotes, aber wir werden nicht als solche enden! Zudem habe ich dir gesagt ..."
    Er stockte. Hatte er schicklich oder schrecklich gesagt? Zweifelsohne hatte er schicklich sagen wollen, doch wenn er stattdessen schrecklich gesagt hatte, so war Serenus' Verhalten tatsächlich mit einem Mal völlig legitimiert, nun, nicht völlig, aber doch in überaus umfassendem Maße. Der arme Junge hatte nur das getan, was sein Onkel ihm augenscheinlich aufgetragen hatte, obwohl ihm diese überaus seltsame Anweisung sicherlich überaus befremdlich vorgekommen sein musste, und mehr noch als ihn nicht dafür zu schelten, so verdiente dieser Gehorsam seines Neffen geradezu Anerkennung.
    "Das habe ich gesagt? Schrecklich?"
    Nun völlig derangiert und aus jeglichem Konzept gebracht ließ Gracchus die Schultern sinken und vergaß dabei seine Rage, sogar ein tiefes Seufzen schaffte es, aus seiner Kehle zu entkommen. Er war noch nicht reif für diese Erziehungsdinge.
    "Verzeih mir, Serenus. Es lag weder in meiner Absicht, dich zu verwirren, noch dich zu kränken, noch um so weniger schrecklich zu sagen. Doch gerade letzteres ist nun wohl ohnehin von marginalem Belang, doch sollte ich wieder einmal solcherlei von dir verlangen, so ... so solltest du noch einmal nachfragen, ob ich tatsächlich meinte, was ich sagte, denn manches mal sage ich vermutlich Dinge, die ich so nicht meine ... denke ich ..."
    Ob dies des öfteren geschah? Er war noch nicht alt genug, um in geistige Senilität zu verfallen, doch sollte dies den Tatsachen entsprechen, so war womöglich ein Fluch gesprochen worden, welchen es galt zu beseitigen. Bisweilen soll Männern aus solcherlei Gründen gar die Fähigkeit zur Rede verloren gegangen sein und obgleich Gracchus sich keinerlei politischer Feinde bewusst war, so mochte es sie letztenendes geben.
    "Wie dem auch sei, dieser Paedagogus war ohnehin nicht geeignet, er hegte einige etwas merkwürdige Ansichten, welche in plebeischen Häusern als schick gelten mögen, doch unsereins hat es wahrlich nicht nötig, der Mode zu folgen."
    Bedauernd blickte er in die großen, unschuldigen Kinderaugen.
    "Ich bin natürlich nicht böse auf dich, Serenus. Dies war mein Fehler und ... nun ... ich assekuriere dir, wir werden schon einen geeigneten Paedagogus finden. Du kannst dich nun wieder deinen Studien widmen."
    Er hatte das Kind ohnehin schon viel zu lange von seinen Pflichten abgehalten. Bei allen Göttern, nicht nur, dass er nicht in der Lage war einen geeigneten Lehrmeister zu engagieren, nun würde es denn auch in seinen Schuldigkeitsbereich fallen, wenn sein Neffe völlig derangierte aufgrund der merkwürdigen Weisungen seines Onkels, schlimmer noch, wenn aus ihm nichts würde werden. Und wie sollte er Aristides nur gegenüber treten, wenn er nicht einmal selbst für den Jungen ein Vorbild darstellen konnte?

    Der laue Wind trug das Lachen eines Kindes in den Keller hinab und beinahe hätte Gracchus glauben können, er befände sich im Vorrats- und Weinkeller neben dem Carcer der Villa Flavia, denn nicht selten war auch im Garten der Villa das Kinderlachen Serenus' und seiner Spielgefährten zu hören, obgleich jener viel besser daran getan hätte, sich seinen Studien zu widmen, statt die Tage im Garten zu vertun. Doch auf der anderen Seite konnte Gracchus' Neffe natürlich nichts für jene deplorablen Umstände, war es doch sein Onkel, welcher sich unfähig dazu sah, ihm einen geeigneten Lehrmeister beizuschaffen. Doch selbst, da Gracchus bisweilen äußerst häufig über seine Unfähigkeiten nachsann, da sie sich augenscheinlich äußerst häufig offenbarten, selbst ob dieser Tatsache dachte er in diesem Augenblick im Keller unter dem Weinberg nicht über solcherlei nach, sondern war mit seinen Gedanken ganz bei seinem Zwilling und dessen Gefährten. Die Erwähnung der freundschaftlichen Bande zwischen dem Parther und seinem Bruder verwunderte Gracchus doch ein wenig, doch die Ehrenschuld des Dardashi trug wiederum zu seinem Verständnis bei, weswegen er ein unscheinbares verständiges Nicken zeigte.
    "Er war also Kommandant bei der Classis? Bei der Misenensis? Nauarchus oder Tribunus?"
    Ein marginales Lächeln kräuselte seine Lippen.
    "Dies erklärt zumindest, warum er mir bisher in Rom nicht aufgefallen ist. Doch trotz allem scheint es mir noch immer so unglaublich, dass wir beide völlig aneinander vorbei lebten, dass wir gleichsam zwei Leben lebten ohne jegliche Verbindung, ohne das Wissen umeinander. Natürlich ist die Ausdehnung des Imperium gewaltig und womöglich sollte ich froh sein, dass die Möglichkeit besteht, dass er dorthin zurückkehrt, wo er hergekommen ist und wir weiter so leben wie zuvor, dennoch ist der Gedanke mehr als faszinierend."
    Ein Schatten drang in den Keller ein, flackerte durch das sonnengeflutete Rechteck auf dem Kellerboden und verschwand außerhalb der Sichbtbarkeit. Gracchus jedoch bemerkte ihn nicht einmal, denn er war weiterhin ein Gefangener des Quintus Tullius, nicht nur körperlich. Entschlossen, ehrvoll, doch gleichsam grausam und kalt - Quintus kam viel mehr nach ihrem Vater als er selbst. Ob Vespasianus sich zu seinen Lebzeiten manches mal gefragt hatte, wie sein zweitgeborener Sohn - denn Gracchus war sich sicher, dass Tullius der erste von ihnen beiden war - wohl geworden wäre?
    "Welch eine Schande, welch deplorable Wirrung des Schicksals."
    Nachdenklich sprach Gracchus diese Wort aus, nicht für Dardashi und auch nicht darüber sinnierend, dass sie für jenen völlig aus dem Zusammenhang gerissen waren. Er hob die Hand zu seinem Mund und begann seine Unterlippe zu kneten, über seinen Schatten nachdenkend, über Tullius' Schatten nachdenkend. Nach einer Weile ließ er die Hand sinken und blickte den Freund seines Zwillings an.
    "Ich ... wir ... hatten einst einen weiteren Bruder, um einiges älter als Quintus und ich. Er sollte der Stammhalter der Familie werden, er war der Stolz, der Erbe und die Zukunft. Doch er ließ die Familie hinter sich, schloss sich den Christen an, gab sein Leben dafür hin und verstarb schließlich irgendwo im Osten. Ich zürnte ihm lange dafür, denn er hinterließ mir nicht nur die Verpflichtung seiner Zukunft, sondern gleichsam die Verantwortung über unsere Familie, und dennoch war auch er ein Teil dieser Familie. Du magst dies nicht verstehen und Quintus mag es ebenso wenig verstehen, doch in all diesem Leben zwischen Trug und Schein, zwischen Macht, Geld, Gier und Villen, zwischen Politik und Einfluss, Öffentlichkeit und Ehre, dort gibt es wenig, was es sich für einen Menschen persönlich zu schützen, zu bewahren und zu pflegen lohnt. Die Familie gehört hier hinzu. Wäre Quintus ein Bastard meines Vaters, womöglich würde ich ihm aus Pflichtgefühl einen Obolus zukommen lassen, womöglich würde ich seine Existenz völlig ignorieren. Doch er ist, er war nicht nur anerkannter Sohn des Flavius Vespasianus, er ist zudem familiär enger mit meiner Existenz verwoben, als irgendeine Person dies sein könnte. Er mag einen Schatten über mich ausbreiten, doch ich kann ihm dies nicht verwehren. Ich kann es nicht. Was er auch tut, es wird sein angestammtes Recht sein, und wenn er tatsächlich so entschlossen ist, wie du sagst, und daran zweifle ich nicht, und sein Streben bis zum angedrohten Ende erfolgt, so wird es enden wie Rom begonnen hat. In diesem Falle brauche ich mir ohnehin keinerlei Gedanken darüber zu machen, welche Schatten er wirft, denn im Elysium scheint keine Sonne, dort gibt es auch keine Schatten."
    Es war merkwürdig dies auszusprechen und eine seltsame Ruhe legte sich über Gracchus. All die Geschehnisse der vergangenen Wochen wurden in diesem Augenblick so völlig unwichtig, marginal, beinahe nichtig, denn im Anblick des eigenen Endes war das tägliche Treiben des Lebens, die Entführung seiner Schwester, der Paedagogus seines Neffen, das verlorene Vermögen seiner Gattin, dies alles war völlig bedeutungslos, denn das Leben würde weitergehen. Das Leben würde immer weiter gehen, was auch geschah, wie sehr man sich darum sorgte, wie sehr man es ignorierte und wie viele Gedanken man sich auch darum machen würde. Es gab nur eine einzige Tat in seinem eigenen Leben, welche Gracchus bedauern würde nicht getan zu haben, doch diese würde er auch bedauern, wenn er noch hundert Jahre und älter würde werden, denn er würde niemals zulassen können, dass dies geschah, so sehr er sich auch danach sehnte.
    "Im anderen Falle bleibt mir einzig zu hoffen, dass die Scherben, welche er hinterlassen mag, groß genug sind, um das Gefäß zu kitten. Dies mag uns unterscheiden, doch es scheint mir, dass die Parzen für den Nachkommen unseres Vaters nur eine Portion unumstößliche Entschlossenheit festlegten und als die Natur sich entschied, ihm gleich zwei Söhne zu schenken, so konnte nur auf einen von beiden dies übergehen. Du magst mich nicht kennen, doch da du ihn kennst, weißt du nun, woran es mir in meinem Leben schon immer am meisten mangelt. Ich kenne ihn nicht, doch da ich mich kenne, soweit es einem Menschen vergönnt ist sich überhaupt selbst zu kennen, so weiß ich nun endlich, wo all diese mangelnde Entschlossenheit geblieben ist, die in meinem Vater doch so reichhaltig vorhanden war. Mag es eine Schwäche sein, doch was würde es nun noch nützen, sie versuchen zu leugnen?"

    Nun entsann sich Gracchus an die genaueren Umstände, zumindest insofern sie ihn betrafen. Es war jene testamentarische Verfügung gewesen, welche ob des Standes unter der Patria Potestas keine Anwendung gefunden hatte. Die Schicksalsgöttinen waren Annaeus augenscheinlich wohl gesonnen, dass er von allen Vigintiviren tatsächlich denjenigen antraf, welcher mit diesem Fall betraut war, obgleich sie ihm hinsichtlich seiner Familie natürlich nicht ganz so gewogen schienen. Gracchus nickte bestätigend.
    "Ich erinnere mich an diesen Brief und vor allem anderen möchte ich dir mein Bedauern über die Umstände, welche zu jenem führten, aussprechen. Ferner kann ich dir leider nichts genaueres hinsichtlich jener Umstände berichten, da diese für uns Decemviri nicht von Belang sind und wir nur dann Nachforschungen anstellen, wenn Unklarheiten auftauchen. Dennoch werde ich dir vermutlich helfen können, denn es steht mir frei, das Tabularium bezüglich der notwendigen Investigationen aufzusuchen und die dortigen Archive in Anspruch zu nehmen. Wenn du es wünschst, so kannst du mich direkt begleiten, deine Angaben werden den Prozess der Nachforschung womöglich ein wenig beschleunigen."
    Obgleich Gracchus an diesem sonnigen Tag nur ungern jenes dunkle Archiv mit den Akten der Verstorbenen würde aufsuchen, so war es ihm dennoch ein Anliegen Annaeus zu helfen, denn ein rastloser Lemur war weitaus unangenehmer, denn ein staubiges Archiv. Zudem hatte er bereits herausgefunden, wie an Informationen in jenem Archiv zu kommen war, denn wie an so vielen anderen Verwaltungsstellen des römischen Imperium öffnete auch hier die Münze eine Tür und beschleunigte vor allem die Arbeit des Archivars, so dass mit einer längeren Suche ohnehin nicht zu rechnen war.

    Da den Vigintiviren von Staats wegen her kein Officium zustand, waren jene schwerlich in einem öffentlichen Gebäude ausfindig zu machen, sondern überall dort zu suchen, wo sie ihre Arbeit taten. Die Tresviri capitalis hielten sich oft in der Basilica Ulpia in Nähe der Praetoren oder aber in den Kerkern der Stadt auf, sofern sie nicht unterwegs waren, und Nachforschungen hinsichtlich begangener Straftaten anstellten oder Prozessbußen eintrieben. Die Tresviri aere argento auro flando ferunde suchten die Nähe der Münzprägeanstallten, wie die Quattuorviri viis in urbe purgandis die Nähe des Praefectus Urbi suchten, obgleich jene auch oft in den Straßen Roms bei Beaufsichtigung der Straßenreinigung anzutreffen waren. Die Decemviri litibus iudicandis schließlich pendelten zwischen Basilica Ulpia samt der Praetoren, zwischen dem Tempel der Vesta um Testamente einzusehen und dem Tabularium, wo Informationen bezüglich der Verwandschaftsverhältnisse Verstorbener hinterlegt waren. Allen Vigintiviri gemeinsam war zudem, dass sie die zu erledigenden schriftlichen Arbeiten wohl in ihren eigenen, privaten Räumlichkeiten tätigten, wodurch manche im Vorteil gegenüber anderen waren. Gracchus selbst, vom Senat den Decemviri litibus iudicandis zugeordnet, hatte ein geräumiges, um nicht zu sagen wohnliches Arbeitszimmer in der Villa Flavia und erledigte dort tatsächlich den Großteil seiner Arbeit. Doch gerade die Einsicht der Testamente im Tempel der Vesta ließ er sich nicht nehmen, da dies immer eine Möglichkeit bot, seine Schwester dort zu sehen. So war es auch an diesem Tage gewesen, als er vom Tempel der Vesta kommend den Platz des Forum Romanum betrat und ein braungebrannter Junge, ein wenig älter als sein Neffe Serenus womöglich, zu einem der Sklaven rannte und laut Kund tat, dass der Praefectus Classis einen Vigintivir suche. Ein unscheinbares Nicken deutete dem Sklaven an, dem Kind ein paar Münzen zu geben, auf dass es Gracchus zu jenem Praefectus Classis führte. Er entsann sich daran, dass er erst kürzlich an jenen eine Nachricht gesandt hatte, doch mehr als der Name Annaeus wollte ihm nicht mehr einfallen. Wie dies in merkwürdiger Weise üblich war, wenn sich mehr oder weniger wichtige Männer auf dem Forum Romanum begegneten, bildete sich eine kleine Gasse zwischen den beiden sie umgebenden Gruppen, so dass ihr Aufeinandertreffen ohne Hindernisse vonstatten ging.
    "Salve, Praefectus. Man unterrichtete mich davon, dass du auf der Suche nach einem Vigintiviren bist. Mein Name ist Flavius Gracchus und ich bin Vigintivir, genau genommen Decemvir litibus iudicandis. Wenn du mir nennst, in welcher Angelegenheit du einen Magistraten benötigst, so werde ich dir sicherlich weiterhelfen können, und sei es, dass ich dir sagen kann, wo du den entsprechenden Mann am wahrscheinlichsten finden kannst."

    Zögernd erst, doch schließlich bestimmt, erhob sich Gracchus, umrundete den Schreibtisch und trat nah vor Antonia hin. Obwohl die Bindung zu ihrer Familie augenscheinlich nicht sonderlich ausgeprägt gewesen war, so stand sie nun doch völlig allein in der Welt, von ihrer weitläufigeren Verwandtschaft abgesehen. Mochte Gracchus auch zu seinen Vettern und Basen ebenfalls eine weitaus engere Bindung denn zu seinen Geschwistern haben, so waren jene doch seine Familie und ein gewichtiges Faktum seines Lebens, selbst da er sie in seinem Leben kaum gesehen hatte, ohne welches dieses Leben sicherlich einfacher würde sein, doch im Grunde auch ebenso ein wenig sinnleer. Er legte eine Hand unter Antonias Kinn und hob ihren Kopf, so dass sie ihn ansehen musste, und die Berührung ihrer zarten Haut brachte ein seltsames Gefühl in ihm hervor. Antonia gehörte ebenfalls zu seiner Familie, mehr noch, sie würde gemeinsam mit ihm eine eigene Familie gründen für die er mehr noch würde verantwortlich sein als für seine Geschwister. Zumindest, wenn sie dieses marginale Hindernis hinsichtlich der Nachkommenszeugung würden lösen können.
    "Verliere dich nicht selbst und dir wird immer ein Platz in der Flavia zustehen."
    Ein feines, subliminal Lächeln kräuselte seine Lippen und er legte den Kopf leicht schief als er sie betrachtete. Obwohl sie ihm nicht körperlich begehrenswert schien, so passte sich ihr Bildnis doch perfekt in die Erhabenheit des Frühlings mit ein, gleich den filigranen, rosafarbenen Mandelblüten, gleich den goldenen Blättern der sprießenden Frühlingsblumen und dem zarten Grün des frischen Grases.

    Ein Bote aus Rom brachte eine Nachricht für den Duumvir zur Casa Helvetia.


    Duumvir Publius Helvetius Gracchus, Ostia


    Decemvir litibus iudicandis Manius Flavius Gracchus Publio Helvetio Graccho s.d.


    Tiefes Mitgefühl über den Verlust deines Sohnes Lucius Helvetius Caesoninus sei dir mit diesem Schreiben versichert. Die Erinnerungen an jene Zeit, welche wir mit ihnen teilen durften, sind sicherlich das Wertvollste, was die Verstorbenen uns zurücklassen. Doch obwohl es dir im Augenblicke womöglich unerheblich erscheinen mag, so hat dein Sohn dennoch gleichsam weltliche Güter hinterlassen, deren Verteilung unter den Erben meine Aufgabe als Decemvir litibus iudicandis ist. Aufgrund deiner Position als Pater Familias des Helvetius Caesoninus geht selbstredend die gesamte Hinterlassenschaft zurück in deinen Besitz, dies wird innerhalb der anstehenden Wochen veranlasst werden.


    Das Vermögen beläuft sich auf 1705,68 Sz Sesterzen, hinzu kommen diverse Waren.


    Zudem hinterlässt dein Sohn ingesamt vier Betriebe:
    - IVUS SANCTUS LAURENTIUS - Schneider
    - officina helvetiae - Töpfer
    - Silva Vindobona - Via Nadler - Geflügelhof
    - Vinosia - Roms beste Kelterei - Weinkelter
    Zur Überschreibung dieser Betriebe melde dich bitte unter Vorlage dieses Schreibens bei einem der Aedilen.


    Zum Trost bleiben letztlich einzig die Worte der Weisen unserer Welt, so sprach denn schon Seneca: »Der Tod ist die Befreiung und das Ende von allem Übel, über ihn gehen unsere Leiden nicht hinaus, der uns in jene Ruhe zurückversetzt, in der wir lagen, ehe wir geboren wurden.«


    M.F.G.

    Ein Bote brachte eine Eilnachricht, bezahlte und ging.


    Praefectus Castrorum Decius Germanicus Corvus, Legio II Germanica, Mogontiacum, Germania



    Decemvir litibus iudicandis Manius Flavius Gracchus Decio Germanico Corvo s.d.


    Tiefes Mitgefühl über den Verlust deines Bruders Sextus Germanicus Sollianus sei dir mit diesem Schreiben versichert. Die Erinnerungen an jene Zeit, welche wir mit ihnen teilen durften, sind sicherlich das Wertvollste, was die Verstorbenen uns zurücklassen. Doch obwohl es dir im Augenblicke womöglich unerheblich erscheinen mag, so hat dein Bruder gleichsam weltliche Güter hinterlassen, deren Verteilung unter den Erben meine Aufgabe als Decemvir litibus iudicandis ist. Nach den gesetzlichen Richtlinien kommt dir als Bruder des Verstorbenen ein Anteil von 0,25 Sesterzen zu, welchen es dir gestattet ist, abzulehnen.


    Ich bitte dich, mir bis zu den Kalenden des Maius DCCCLVII A.U.C. (01.05.2007/104 n.Chr.) mitzuteilen, ob du gewillt bist, dieses Erbe anzutreten, welches gleichsam keinerlei weitere Verpflichtungen nach sich zieht. Solltest du diesen Termin versäumen, so wird dein Anteil dem zu verteilenden Erbe hinzugefügt werden, ebenso wie sich der deinige Anteil durch den Verzeicht eines der anderen Erben erhöhen kann.


    Zum Trost über den erlittenen Verlust bleiben letztlich einzig die Worte der Weisen unserer Welt, so sprach denn schon Seneca: »Der Tod ist die Befreiung und das Ende von allen Uebel, über ihn gehen unsere Leiden nicht hinaus, der uns in jene Ruhe zurückversetzt, in der wir lagen, ehe wir geboren wurden.«


    M.F.G.

    Ein wenig mehr als ein Monat war verstrichen, da gab erneut ein Bote aus Rom am Tor der Classis Misenensis eine Nachricht für den Praefectus Annaeus Florus ab.


    Praefectus Classis Misenensis Lucius Annaeus Flours, Misenum


    Decemvir litibus iudicandis Manius Flavius Gracchus Lucio Annaeo Floro s.d.


    Tiefes Mitgefühl über den Verlust deines Sohnes Marcus Annaeus Metellus sei dir mit diesem Schreiben versichert. Die Erinnerungen an jene Zeit, welche wir mit ihnen teilen durften, sind sicherlich das Wertvollste, was die Verstorbenen uns zurücklassen. Doch obwohl es dir im Augenblicke womöglich unerheblich erscheinen mag, so hat dein Sohn dennoch gleichsam weltliche Güter hinterlassen, deren Verteilung unter den Erben meine Aufgabe als Decemvir litibus iudicandis ist.


    Dein Sohn hat Zeit seines Lebens für diesen Fall Sorge getragen und ein Testament bei den Sacerdotes Vestales in Rom hinterlegt. Aufgrund deiner Position als Pater Familias des Annaeus Metellus ist dieses Testament ohne Gültigkeit, doch da es ohnehin nur jene Verteilung verfügt, welche die Gesetze vorschreiben, ist es diesem Schreiben zu deiner Kenntnisnahme beigelegt. Die Überführung der Hinterlassenschaft in deinen Besitz wird innerhalb der anstehenden Wochen veranlasst werden.


    Das Vermögen beläuft sich auf 5,99 Sesterzen, dazu kommen diverse Waren.


    Zum Trost bleiben letztlich einzig die Worte der Weisen unserer Welt, so sprach denn schon Seneca: »Der Tod ist die Befreiung und das Ende von allem Übel, über ihn gehen unsere Leiden nicht hinaus, der uns in jene Ruhe zurückversetzt, in der wir lagen, ehe wir geboren wurden.«


    M.F.G.


    Testament des Marcus Annaeus Metellus


    Hiermit verfüge ich, Marcus Annaeus Metellus,
    Sohn des Lucius Annaeus Florus :


    Im Falle meines Todes, sollen alle meine Besitzungen, als da wären:
    - Mein Bargeld (auf dem Konto und dem Sparkonto)
    - Meine Waren
    - Und meine Betriebe (die derzeit von Freunden geführt werden)
    allesamt an meinen Vater und Patron, Lucius Annaeus Florus, gehen.


    Er möge diese doch recht umfangreichen Mittel nutzen, und sie innerhalb der Gens Annaea, sowie der Factio Albata, nach seinem Ermessen verwenden und verteilen. Möge er mir meinen letzten Wunsch erfüllen, und meine Asche auf den Feldern meiner Heimat verteilen. Wohin auch immer die Götter mich führen werden, ich werde stets bei meiner Familie sein. Teneote, Annaea

    Ein Bote aus Rom überbrachte eine Nachricht für den Probatus Iunius Lucullus und gab diese am Tor der Legio I Traiana ab.


    Appius Iunius Lucullus, Legio I Traiana, Mantua



    Decemvir litibus iudicandis Manius Flavius Gracchus Appio Iunio Lucullo s.d.


    Tiefes Mitgefühl über den Verlust deines Bruders Manius Iunius Macro sei dir mit diesem Schreiben versichert. Die Erinnerungen an jene Zeit, welche wir mit ihnen teilen durften, sind sicherlich das Wertvollste, was die Verstorbenen uns zurücklassen. Doch obwohl es dir im Augenblicke womöglich unerheblich erscheinen mag, so hat dein Bruder gleichsam weltliche Güter hinterlassen, deren Verteilung unter den Erben meine Aufgabe als Decemvir litibus iudicandis ist. Nach den gesetzlichen Richtlinien komm dir als Bruder des Verstorbenen ein Anteil von 150 Sesterzen, nebst diverse Waren, zu, welchen es dir gestattet ist, abzulehnen.


    Ich bitte dich, mir bis zu den Kalenden des Maius DCCCLVII A.U.C. (01.05.2007/104 n.Chr.) mitzuteilen, ob du gewillt bist, dieses Erbe anzutreten, welches gleichsam keinerlei weitere Verpflichtungen nach sich zieht. Solltest du diesen Termin versäumen, so wird dein Anteil dem zu verteilenden Erbe hinzugefügt werden, ebenso wie sich der deinige Anteil durch den Verzeicht eines der anderen Erben erhöhen kann.


    Zum Trost über den erlittenen Verlust bleiben letztlich einzig die Worte der Weisen unserer Welt, so sprach denn schon Seneca: »Der Tod ist die Befreiung und das Ende von allen Uebel, über ihn gehen unsere Leiden nicht hinaus, der uns in jene Ruhe zurückversetzt, in der wir lagen, ehe wir geboren wurden.«


    M.F.G.