Nachdem er hatte Platz genommen, ließ Gracchus einen Augenblick diesen, wie die vorigen Tage Revue passieren, konnte doch keiner delikaten Angelegenheit sich entsinnen, was zweifelsohne in diesem Falle nicht etwa daran lag, dass der Flavier solcherlei bisweilen nur allzu gerne verdrängte, sondern daran, dass die Cohortes Urbanae in der Angelegenheit überaus diskret ermittelten. Ehedem er indes in Verlegenheit kam, von nichts zu wissen, fuhr der Augustus bereits fort mit der ungeheuerlichen Neuigkeit.
"Die Virgo ... Vestalis Maxima?"
, presste Gracchus hervor, während alle Farbe aus seinem Gesichte wich, in seiner Brust die Luft zum Atmen ausblieb und sein einziges Glück war, dass er saß, hätte er sonstig doch den Boden unter seinen Füßen verloren. Augenblicklich war er Jahrzehnte jünger und sank neben dem Leichnam der Virgo Vestalis Maxima, seiner Schwester Agrippina, auf den Stufen zum Heiligtum der Göttin nieder, während ihr Blut auf den marmornen Stein allmählich zu einer zähen, braunfarbenen Masse gerann. Mühsam suchte der Flavier das Bild zu verdrängen, den Schmerz zu verdrängen, seinen Atem wieder in Gang zu setzen. Seine Schwester war viele Jahre bereits tot, sein Schmerz viele Jahre vergangen - zumindest verdrängt. Dies war nicht sein persönlicher Verlust, dies war Roms Verlust.
"Das... das ist eine Katastrophe. Eine Devastation der pax deorum von ungeheuerli'hem Ausmaße. Ein Frevel ohnegleichen. Eine Katas..trophe für Rom. "
Atmen. Er musste sich auf die Gegenwart konzentrieren. Auf Rom. Die pax deorum. Atmen.
"Indes... es ist nicht das erste Mal, dass eine Virgo Vestalis Maxima er..mordet wurde."
Atmen. Er musste sich auf die Gegenwart konzentrieren, gleichwohl in der Vergangenheit stöbern ob der angemessenen Reaktion.
"Es ist ... schwer erträglich, doch es gibt tatsä'hlich bereits ein kultisches Prozedere für einen solchen Fall."
Nicht etwa, dass jenes Prozedere in die allgemeingültigen kultischen Riten war aufgenommen worden, denn niemand rechnete schlussendlich, dass überhaupt je wieder es zu einer solch ungeheuerlichen Tat würde kommen können. Die Konzentration auf das Fachliche jener Angelegenheit half Gracchus allmählich zurück zu seiner Obliegenschaft angemessener Ruhe und Kompetenz zu finden, gleichwohl ein gewisses Maß an Anspannung in ihm verblieb, das vorwiegend weiterhin in seiner Aussprache sich offenbarte, was indes ihm selbst nicht bewusst war.
"Ein Präzedenzfall schafft in solchen Ange..legenheiten neue kultische Richtlinien. Sofern ich mich recht entsinne"
, und für die Anzahl an Jahren, welche dies bereits zurücklag, und der sonstigen Lücken in seiner Erinnerung war dies bereits beträchtlich,
"bedingt dies eine große Entsühnung, mehrere Rinder als Gabe an das gesamte göttli'he Pantheon - ich meine, es waren neun."
Da der Zahl Drei im Kult eine besondere Bedeutung zukam, war ihre Verdreifachung durchaus plausibel, dennoch vetat der Flavier sich in dieser Angelegenheit um ein Rind, respektive einen weißen Ochsen.
"Diese werden durch den Senat um das Pomerium geführt und hernach auf dem Kapitolium den Göttern dargebra'ht."
Gracchus ließ eine kurze Pause folgen, atmete noch einmal bewusst, ehedem er vorsichtig nachhakte.
"Gibt es... bereits Hinweise auf die Täter? Ein Angriff auf die Virgo Vestalis Maxima kommt einem Ver..brechen gleich, welches kaum größer könnte sein."
Allfällig die Ermordung eines Kaisers samt seiner Familie, doch solcherlei Gedanken wollte der Flavier in diesem Augenblicke sich auf keinen Falle hingeben.
"Sie ist Symbol für die ältesten Ordnungen und Ge..setze unseres Reiches, für den Frieden mit den Göttern, für die Reinheit und Hehrheit Roms. Ein Angriff auf sie, im Herzen unserer Stadt, im Herzen des Rei'hes... Die pax deorum wiederherzustellen ist nur ein Aspekt - ein Aspekt, der Rom letztenendes nur einige Mühen und Gelder wird kosten. Doch das Verlangen des Volkes nach Ver..geltung für diesen Frevel zu befriedigen ... dies wird uns im schlimmsten Falle in einen Krieg führen."
Es stand für Gracchus außer Frage, dass die Täter in den Reihen der Feinde Roms zu finden sein mussten, denn kein Römer würde eine solche Tat vollbringen. Die Parther kamen allen voran ihm in den Sinn, waren sie doch ein hinterlistiges Volk, das vor Meuchelmord kaum würde zurückschrecken. Und auch wenn dieser Krieg weit fort an den Grenzen des Reiches würde ausgetragen werden, so saß doch der Schrecken davor tief in Rom, und selbst in Gracchus - denn nicht ohne Grund war das parthische Reich kein Teil des römischen, nicht einmal ein Verbündeter.