Das Reich des Mannes mit der Vogelmaske unterlag stetiger Änderung, mal verkroch er sich in den hintersten Winkeln der Gänge unter der Stadt, mal residierte er in einer der großen Hallen samt seines Gefolges, mal stopfte er Luxus und Pomp in eine kleine Kammer direkt neben der Cloaca, von wo der untrügliche Duft nach Leben herüber wehte, mal nahm er nur seinen Beutel und empfing seine Gäste auf bloßem Boden in einer Villa draußen vor der Stadt und manches mal, dies jedoch selten, verfrachtete er seinen Hofstaat gar mitten ins Herzen Roms. Man konnte niemals wissen, wo der Vogelmann in einigen Tagen würde sein, so dass es bereits eine Anstrengung war, ihn zu finden, doch wen er empfangen wollte, den fand er. Den Schlangenhort, wie jener Ort genannt wurde, an welchem er diesen Tages domizilierte, bevorzugte er für Feierlichkeiten dieser wie auch anderer Art, denn jeder Lärm wurde von den dicken Mauern und Türen nach Außen hin abgeschottet. Zwar gab es nur zwei Ein- und Ausgänge, einer davon jedoch, im Hinterzimmer gelegen, war derart von Außen verborgen, dass kaum je Gefahr bestand, dass ein Feind nach einem Angriff durch das Tor von der Unterwelt aus ihn dort würde erwarten.
Die Hand auf seiner Schulter ignorierend trat Sciurus vor und griff unter seinen Mantel. Fauchend rasselte Forma an ihrer Kette, doch verstummte sie in einem leisen Zischen, als es nur eine Pergamentrolle war, welche Sciurus aus dem Beutel zog, welchen er verborgen unter dem Mantel um die Schulter hängend trug.
"Sie geben es nicht heraus, aber ich konnte eine präzise Abschrift erstellen. Der Inhalt ist alles, worauf es ankommt, und sie ist auch mit einem offiziellen Siegel versehen." Er sprach dies, als wäre es selbstverständlich, doch womöglich schwang subliminal ein leiser Hauch von Stolz in der Stimme des Sklaven. Doch vielleicht trog der Eindruck auch.
"Wenn ich nicht wüsste, wer mein Besucher ist, wenn ich nicht ihn sehen könnte, an deinem ersten Satz schon würde ich dich erkennen, Sciurus. Kein Saturnaliengruß, keine Begrüßung, und selbst deine Begleiterin stellst du mir nicht vor. Wahrlich, Sciurus, man möchte nicht meinen, dass du in einem der vornehmsten Häuser Roms einem Haushalt vorstehst."
Aus dem Schatten heraus schob sich eine schlanke Gestalt, in ein wallendes Gewand aus grünfarbener Seide gehüllt, die Hände von goldfarbenen Handschuhen bedeckt, die Augenpartie und Nase hinter einer Maske verborgen. Grünfarben schillerten die kurzen Federn auf der Maske, mit einem Hauch von Goldstaub bedeckt, durchbrochen nur von den äußeren Augenwinkeln aus durch violette Federn, dazu eine spitze Nase, in Goldorange, welche so weit sich über das Gesicht zog, dass der Mund durch ihre Spitze geteilt wurde, halb in ihrem Schatten verborgen blieb. Der Vogelmann nahm die Pergamentrolle an sich, jedoch ohne sie zu öffnen.
"Das ist Dido." Ohne sich umzuwenden bewegte Sciurus den Kopf kurz nach hinten, dort, wo das Mädchen noch immer verharren musste. "Sie entstammt dem Haushalt der Flavier, doch ihr Herr weilt derzeit außerhalb Roms."
"Dido." Wie ein Geier streckte der Mann mit der Maske den Kopf vor, der goldorangefarbene Schnabel zuckte nach vorn und wandte sich der kleinen Sklavin zu, verharrte in diese Pose. "Ist sie deine Tochter?"
Einige Augenblicke lang wägte Sciurus seine Antwort ab. Es war durchaus möglich, er diente bereits lange genug seinem Herrn in Rom. Dido als sein eigen Fleisch und Blut auszugeben würde gewiss weiteren Fragen vorbeugen, zudem wäre sie zwischen den Verlorenen vor jeglichem Übergriff sicher, denn niemand würde sich an seinem Kind vergreifen. Andererseits jedoch mochte sie von anderer Seite aus gerade ob dessen wegen Ziel eines Angriffes werden, um ihn zu treffen, und obgleich es ihn nicht treffen würde, so würde dies nur unnötige Probleme aufwerfen. "Nein. Sie begleitet mich."
Die Angelegenheit war damit erledigt, der Vogelmann entrollte das Pergament und der Schnabel senkte sich, als seine im Schatten der Maske verborgenen Augen es sondierten. "Sehr schön." Als der Schnabel sich wiederum hob, zierte ein leichtes Lächeln die Ränder der Lippen dahinter. "Ich habe ebenfalls etwas für dich, nicht nur, weil heute Saturnalia sind, aber womöglich auch deswegen. Der Feuerreiter ist in der Stadt, er hat die Spur dessen aufgenommen, wonach dir der Sinn steht. Demnach scheint es sich tatsächlich in Rom oder zumindest in der Nähe zu befinden. Noch kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, in wessen Auftrag er unterwegs ist, doch es muss eine äußerst bedeutende Persönlichkeit sein, denn es steckt eine gewaltige Menge Sesterzen dahinter. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob du dabei noch mithalten kannst, obgleich ich deine Fähigkeiten kenne und schätze."
"Mein Herr ist bereit, jeden Preis zu zahlen."
"Das wird sich zeigen. Als wir ihn zuletzt gesehen haben, hat er mit Cupa, dem Gerber gesprochen. Das war noch vor den Saturnalien, im Fest hat sich seine Spur verloren, womöglich hat er sich sogar für diese Tage aus Rom zurück gezogen, auch wenn ich es bezweifle. Er ist wie ein Schatten, der nur verbrannte Erde und eine Spur aus Asche hinterlässt. Denke daran, er ist nicht von hier, niemand weiß, ob er sich an die pax saturnaliae hält."
Wortlos nickte Sciurus. Er war dem Feuerreiter bereits einmal begegnet, in dessen Heimat Sizilia. Auf Sizilia kannte man keinen Frieden und keinen Waffenstillstand, nur Krieg.
"Wenn du meinen guten Freund Cupa besuchst, dann überbringe ihm meine Saturnaliengrüße, ich bin sicher, er wird sich sehr darüber freuen." Der Schnabel der Vogelmaske senkte sich ein wenig, wies wieder in Didos Richtung. "Pass' gut auf das Eichhörnchen auf, Dido, Königin Karthagos. Und denke daran, wer Humus hat, braucht keinen Humor." Geschmeidig zog der Vogelmann sich in den Schatten im hinteren Teil des Raumes zurück, ein leises Rascheln war das letzte Geräusch, welches von ihm zu vernehmen war.