Beiträge von Sciurus

    Ultor - der Rächer - dies war sein erster Name gewesen, in seiner Mutters Ansinnen Rache über Rom zu bringen, und Rache war letztenendes seine Bestimmung geworden. Der Zufall hatte ihn in die Arme der Christianer getrieben, welche er zu seinem Werkzeug gemacht hatte. Bedauerlicherweise waren sie Dilettanten gewesen. Zwar hatten sie ein wenig Schaden angerichtet, sich dabei allerdings einfangen lassen. Sciurus hätte sie gerne weiter für seine Zwecke verwendet, doch nachdem ausgerechnet Decimus Serapio sie überrascht und ihn gesehen hatte, hatte er untertauchen müssen.


    Der Vogelmann hatte ihn aufgenommen und Unterschlupf geboten. Auch dies war eines der Gesetze des unterirdischen Reiches: wer einmal im Dienste des Vogelmannes gestanden hatte, gleich wie lange dies zurück lag, genoss dessen Schutz sofern er nicht gegen die Gesetze des regnum obscurum verstoßen hatte. Die Christianer interessierten den Mann mit der Maske nicht, doch die Urbaner und Praetorianer sehr wohl, und während er seiner Pflicht nachgekommen war, Sciurus Obdach zu gewähren, hatte er ihn vollkommen verschwinden lassen, um diese Spur zu verwischen. Tage waren verstrichen, Tage zu Wochen vergangen, zu vielen Wochen, und der Vogelmann hatte Sciurus vergessen.


    Sciurus indes hatte weder den unterirdischen König vergessen, noch Decimus Serapio, noch seine Bestimmung. Und so hatte er begonnen, Garamander in seine Pläne einzuweben, ihn zum Werkzeug seiner Rache zu formen wie ein Schmied, der aus einem Klumpen verdreckten Metalls eine kunstvolle Klinge formte. Der Vogelmann - die Person hinter der Maske - war dabei nur ein Kollateralschaden, denn Sciurus musste sich des Mythos bemächtigen, um seine Pläne in aller Pracht verwirklichen zu können.


    Es war einfach gewesen, beinahe zu einfach. Niemand vermisste den gefallenen Namenlosen, dessen Überreste stückweise von den Ratten in den Kanälen beseitigt worden waren oder in Feuern in ganz Rom verbrannten - vorwiegend in jenen Vierteln, in denen ein beißender Geruch nicht weiter auffiel. Und unter Rom reagierte niemand darauf, dass der Vogelmann ein wenig anders ging und ein wenig anders sprach - manche bemerkten es nicht einmal, andere ignorierten es, denn auch dies gehörte zu den Gesetzen - mische dich in nichts ein, was dich nichts angeht. Darüber hinaus waltete Sciurus unter der Maske mit Sorgfalt, führte begonnene Geschäfte fort, erteilte neue lukrative Aufträge, verteilte kleine Geschenke - er war lange genug Teil des Spieles gewesen, um die Regeln zu kennen, nach denen gespielt wurde - oben, wie unten. Und er war versiert genug, um zu wissen, dass Rache keine Hast vertrug, sollte sie nicht in einem kurzen Vergnügen enden.


    Sciurus hatte keine Eile - dann diese Rache sollte Decimus Serapio bis an sein Ende verfolgen.


    Genussvoll stieg er in das Becken mit warmen Wasser - nicht aus Freude an dem Bad, sondern aus Freude an der Zukunft.

    Das Bild, das der Mann hinter der Maske daher im Spiegel sah, war das Bild des Vogelmannes, des Mythos. Es war ein merkwürdiges Gefühl, die eigenen Hände zu sehen, wie sie den Mythos demaskierten, wie das Federkleid sich hob und ein bleiches Gesicht mit eisgrauen Augen darunter zum Vorschein kam. Auch dieses Gesicht war eine Maske, die bereits viele Namen getragen hatte: Ultor, Thesaurus, Aurichalcus, Nequam, Kreon, Obtusus, Pentheus, Scelestus, Bellerophontes, Conscius. Die längste Zeit jedoch den Namen Sciurus. Und nun? Nun trug er keinen Namen mehr, nun war er nur noch die Gestalt, die er repräsentierte. Selbst Garamander, der einzige, der die Wahrheit kannte, nannte ihn "mein König", wenn sie allein waren - es gehörte zu den unausgesprochenen Gesetzen des regnum obscurum.


    Dennoch, Sciurus war ihm eingebrannt - nicht wie das Besitzzeichen auf seiner Haut, sondern in sein Wesen, geprägt, gebrandmarkt durch das Leben und die Vergangenheit. Denn während er in den Haushalten vorheriger Herren nur ein beliebiger Sklave gewesen war, ein Gegenstand, der nach Belieben genutzt, benutzt und wieder verkauft worden war, war Sciurus ein Teil seines flavischen Herrn geworden, und sein Herr ein Teil von ihm. Nie hatte irgendwer ihn gefragt, ob er glücklich war oder was dazu fehlte, nicht einmal er selbst, denn Glück gehörte nicht zum Wesen eines Sklaven. Doch im Nachhinein betrachtet mochte dies wohl Glück gewesen sein - diese perfekte Symbiose, die Einheit mit seinem Herrn. Und nichts anderes hatte er je erstrebt - keine Freiheit, kein Reichtum, keine Familie oder ähnliche Sentimentalität, auch nicht das Reich des Vogelmannes.


    Fürwahr, vermutlich war er glücklich gewesen. Bis dieses Aas Decimus Serapio alles gefährdet hatte, bis es sich in das Leben seines Herrn gedrängt hatte, erst unauffällig und leicht, wie eine Seifenblase, die ohnehin irgendwann platzen würde. Doch aus der Seifenblase wurde ein Geschwür, das sich mehr und mehr in das Leben seines Herrn fraß, ohne dass dieser die Gefahr bemerkte. Wäre Sciurus vor Jahren nur aufmerksamer gewesen, es wäre ein leichtes gewesen, Gracchus in den Anfängen von dieser Liaison abzubringen. Selbst später noch, etwa als Serapio in Aegyptus weilte, oder während des Bürgerkrieges - es wäre so einfach gewesen, einige falsche Informationen zu streuen, Nachrichten zu unterschlagen oder zu manipulieren. Doch Sciurus hatte versagt. Er hatte seinen Herrn nicht beschützt.


    Nun war es zu spät. Decimus hatte dafür Sorge getragen, dass der Sklave gefallen war, dass Gracchus ihn dem Tod überantwortet hatte ohne Zögern.

    Die Höhle des Löwen


    Der Löwenzwinger hieß so, da er unweit des Ludus Matutinus lag, unterirdisch natürlich und ohne direkte Verbindung zu der Gladiatorenschule, aber eben unweit. Es hielt sich zudem hartnäckig das Gerücht, dass einst ein Löwe aus der Schule ausgebrochen, irgendwie in das Tunnelsystem unter der Stadt gelangt war und sich in jenem großzügig dimensionierten Gewölbe versteckt hatte, das heute den Namen Löwenzwinger trug. Der Mann hinter der Vogelmaske hielt das für eine verklärte Legende, doch letztendlich waren es Legenden, welche das Leben hier unten bestimmten. So wie er - der legendäre Vogelmann, der seit Jahrhunderten das regnum obscurum, das unterirdische Rom beherrschte.


    Der Löwenzwinger war eine der größeren Bleiben des Vogelmannes, mit einigen Seitengewölben für den Hofstaat und sogar einer eigenen Wasserversorgung. Zusätzlich gab es ganze sechs Zugänge - durch die Kanalisation und durch Kellergewölbe -, alle jedoch so schmal, manche nicht einmal sehr hoch, dass dieses Versteck zu einem der besten unter Rom gehörte. Trotz, oder wegen der engen Zugänge wurden diese bestens bewacht, denn auch wenn der Mann mit der Maske in seinen Verstecken meist recht sorglos leben konnte, Vorsicht war besser als Nachsicht.


    Auch das persönliche Gemach des Vogelmannes war im Löwenzwinger größer als in den meisten anderen Verstecken - abgesehen vom goldenen Käfig -, und zu den größten Annehmlichkeiten gehörte ein Badebecken. Sehr klein, kaum groß genug für eine Person, aber eben doch ein Badebecken, in das durch ein bleiernes Rohr heißes Wasser eingelassen werden konnte, das in einem Nebenraum erhitzt wurde - ein unglaublicher Luxus für jedermann, der nicht einfach in eine öffentliche Therme spazieren konnte.


    Garamander hatte alles vorbereitet. Er war der einzige, der den Raum ebenfalls betreten durfte. Das Wasser im Badebecken dampfte daher bereits als der Mann mit der Vogelmaske eintrat und die Türe hinter sich verriegelte. Natürlich gab es noch einen weiteren geheimen Ausgang, doch auch dieser war verschlossen. Der Vogelmann trat an einen silbernen, polierten Teller - noch so eine Legende, angeblich aus dem kaiserlichen Palast zu Zeiten Claudius' entwendet - und betrachtete sein Spiegelbild: der Vogelmann, seit Jahrhunderten König des unterirdischen Roms.


    Niemand wusste es genau, und die Einfältigen glaubten tatsächlich an einen unsterblichen Mythos, manche gar an eine halb-göttliche Gestalt. Doch jene, die ihr Leben lang dem Mann mit der Vogelmaske dienten und mit Verstand gesegnet waren, vermuteten, dass dies nicht eben ein Mann war. Manche glaubten, die Maske wurde seit Generationen von Vater an Sohn weiter vererbt. Andere, dass der König seinen Nachfolger aus seinem Gefolge erkor - was sie zu besonderer Treue bewog. Wieder andere glauben, in jeder Generation werde der Sohn eines einflussreichen Patriziers geraubt und zum unterirdischen Prinzen erzogen. Manches Mal soll dies gar ein kaiserlicher Sohn gewesen sein, dessen Verschwinden im Palast durch einen natürlichen Tod überspielt worden war - wie vor nicht allzu langer Zeit bei Kaiser Aquilius' Sohn.


    Die Erscheinung des Vogelmannes zumindest stützte die Theorien, waren seine Gewänder in ihrer Art doch so, dass leicht verschiedene Männer unter ihnen wie ein und derselbe erschienen mochten, zumindest, sofern sie nicht außergewöhnlich groß oder klein, oder übermäßig beleibt waren: lange, bis zum Boden reichende, gefältelte Tuniken, umschlungen von voluminösen Togen. Dazu die tonlose Stimme, die kaum die natürliche Couleur war. Und schließlich das Gesicht verborgen unter der Vogelmaske, die Augen tief hinter den Federn liegend, und das Haupt umschlossen von seidenem Stoff.

    Zufrieden blickte der Mann mit der Vogelmaske auf die dargebotenen Abgaben: edle Stoffe aus Antiochia, feine Glaswaren aus Aquileia und bunte Edelsteine aus Tingis.

    "Ein guter Fang, Sosos", lobte er den dürren Mann, der daneben stand, leise. Anerkennung war ein billiges Gut mit einer großen Wirkung auf die abtrünnigen Seelen, die in dieser Welt hausten, das hatte er mittlerweile erkannt. Besonders gut, um Vertrauen zu schüren.
    "Nächsten Monat erwarte ich nochmal soviel." Sosos, der in der oberen Welt einen römischen Namen trug, war ein gewisser Stolz anzusehen.
    "Sehr gut. Garamander wird dir deine Dokumente ausstellen. Kann ich sonst noch etwas für dich tun?"
    "Nein, danke, diesen Monat habe ich schon genug von deiner Großzügigkeit im Anspruch genommen!"
    "Gut, gut. Dann grüße mir deine beiden Söhne und deine wunderschöne Tochter."
    Die Familie Sosos' scherte ihn nicht, doch es erinnerte diesen daran, dass der Vogelman sehr genau wusste, wer er in der Welt dort oben war. Mit einem Wink entließ er ihn und wies Garamander die Auszahlung zu übernehmen. Dann wandte er sich zur Seite, an Marius. "Ich habe einen Auftrag für Spartacus. Ich möchte, dass er in Trans Tiberim ein paar Hühner aufschreckt, oben auf dem lanus-Hügel, rund um die Villa Eutopia. Aber diese selbst wird nicht angerührt!"

    Marius lachte heißer. "Das muß ich Spartacus bestimmt nicht sagen, er mag ja todesmutig sein, aber nich todessehnsüchtig. Soll er irgendwas bestimmtes mitbringen?"
    "Nein, solange es wertvoll ist und seinen Zweck erfüllt ist es mir einerlei. Hauptsache die Hühner flattern aufgeregt."
    "Alles klar."
    Als Marius durch einen verborgenen Zugang in der Kanalisation verschwunden war, kehrte Garamander zurück.
    "Ich glaub, es is an der Zeit das Nest zu wechseln. Zu viel Scheiße vorm Einflugloch, wenn du verstehst."
    "Schade, ich hatte mich gerade an das Wandmosaik gewöhnt. Bereite den Abflug vor. Ist der goldene Käfig frei?"
    "Ne." Der Gaetulier grinste. Er wusste genau, dass der Vogelmann Sehnsucht nach dem goldenen Käfig hatte. "Die Verstopfung dauert immer noch an und die Stadt kümmert sich nich drum. Wenn die nich bald kommen sollten wirs vielleich selber beseitigen. Aber der Löwenzwinger is frei."
    Der Mann mit der Vogelmaske zuckte mit den Schultern. Am Ende war es einerlei, im Schein der Kerzen und Öllampen glänzte jedes Loch golden.

    Zäh floss die Zeit dahin in Sciurus' kleinem Raum, Stunden, Tage und Nächte ohne Unterschied, ohne Abwechslung, ohne Anfang und ohne Ende, trieben vorrüber wie Wolkenfetzen am Himmel, in gleicher Weise unbeeindruckt von Sciurus' Sentiment und Gedanken. Einzig Garamanders Erscheinen gab der Zeit eine lose Struktur - irgendwann am Morgen brachte er eine Schüssel voll Getreidebrei, am Abend ein karges Mahl, zumeist Brot und ein wenig Käse, manchmal etwas Gemüse dazu. Die wachen Stunden zogen sich so endlos dahin, boten Raum um Raum für nagende Erinnerungen, Analysen und Pläne, welche doch in ihrer Umsetzung so fern waren.


    "Einen wunderschön' gutn Abend, mein lieber Sciurus!" platzte Garamander an einem dieser endlosen Tage in die Stille der Isolation. "Heut hab ich einen besonderen Festschmaus." Er stellte einen Teller mit einem Stück Brot und einem Stück Fleisch auf den Tisch. "Mit freundlichen Grüßn vom Senator Anneus Florus, dem neuen Stern am Senatorenhimmel!" Ein breites Grinsen zog sich über das dürre Gesicht und formte daraus regelrecht eine Fratze.
    Sciurus hob eine Braue und suchte sich zu ensinnen, ob es bereits Zeit für die nächsten Wahlen war. "Der arme Senator, ich werde seinen Namen niemandem einflüstern können, so viel Fleisch er auch verteilt."
    "Aber nich doch, er hat seinen Lohn schon bekommen. Er hat ein Opfer durchgeführt, die Equirria stehen an. Ist doch immer wieder schön anzusehn wie die hohen Herrn von ihrem Ross steigen und barfuß durch die Stadt laufen. Auch wenn die Straßen leider vorher extra gesäubert werden, wär doch zu schön wenn sie mal mit den Füßen in der Scheiße stecken bleiben würden wie unsereins auch." Der Gaetulier winkte grinsend ab. "Aber rat doch mal, wer noch beim Opfer war?"
    Sciurus war nicht gewillt, Spielchen zu spielen, zumindest nicht solche, bei welchen er nicht die Spielregeln diktierte, daher schwieg er und blickte nur stumm Garamander an, in der Gewissheit, dass dieser seine Geschwätzigkeit nicht lange zurückhalten konnte. Dieser kicherte auch schnell und platzte schließlich heraus: "Senator Flavius Gracchus höchstselbst, der Schrecken aller ausgelassenen Straßenfeste!"
    Nur einen winzigen Augenblick zeigte sich eine Regung auf dem Antlitz des gefallenen Sklaven und in seiner Stimme lag ein Hauch von Ungeduld. "Wie sah er aus?"
    "Oh, es scheint ihm blendend zu gehn. Nach dem Opfer saß er mit Anneus am Tisch. Ich habs ja nur aus der Ferne gesehn, aber ich würd sagen er hat heftig mit den anwesenden Frauen geflirtet, der alte Charmeur."
    "Wohl kaum", warf Sciurus ein.
    "Ach, ich hab gehört als er jung war soll er ein echter Frauenschwarm gewesen sein. Zumindest für die Frauen, die auf Männer stehn die rumlaufen als hätten sie 'nen Stock verschluckt." Wieder kicherte der Gaetulier.
    "Danke für das Fleisch, Garamander", wechselte Sciurus das Thema. Doch in seinen Gedanken echoten Garamanders Worte noch eine ganze Weile, selbst als der Gaetulier längst wieder verschwunden war und das Essen in Sciurus' Magen lag. Pläne krochen aus der Tiefe seiner Seele. Pläne, die in ihrer Umsetzung fern waren. Aber doch Pläne.

    Die Situation im Bruchteil eines Augenblickes abschätzend hob Sciurus beschwichtigend die Hände und setzte berechnend eine bedauernde Mine auf. "Entschuldige, Garamander! Das war nicht nett. Ich bin nur ... sehr angespannt wegen meiner momentanen Lage." Auch wenn die Narbe an seinem Auge, die er sich beim Sturz in den Montes Lucretili zugezogen hatte sein Antlitz ein wenig rau erscheinen ließ, so gelang es ihm doch eine unschuldige Miene aufzusetzen, die den Gaetulier tatsächlich rührte.

    "Ja, schon gut. Pass nur auf was de machst. Du weißt doch hier unten kann jede Regung deine letzte sein."

    "Ich weiß." Nach kurzem Zögern fragte er: "Wann war die letzte Inthronisierung des Königs?"

    Obgleich viele es vermuteten, so kannten nur wenige das Geheimnis des Vogelmannes. Garamander war einer dieser wenigen, die wussten wann der Mann hinter der Maske sich veränderte - und auch, wer den neuen Platz einnahm.

    "Ein Jahr vor Cornelius' Tod."

    Sciurus fluchte innerlich. Er hatte seine Kontakte in diese Welt lange Zeit schleifen lassen, war an der Seite seines Herrn weich und bequem geworden. Früher hatte er gute Geschäfte für den Vogelmann erledigt, war im Grunde Teil seines Imperium gewesen oder hatte zumindest seine Untertanen beschäftigt. Nach dem Bürgerkrieg jedoch hatte Gracchus ihn immer seltener mit Aufgaben außerhalb seiner Reichweite betraut und Sciurus war träge geworden. Dass der Vogelmann ihn nun behandelte wie einen lästigen Gast, war kaum verwunderlich.

    "Garamander, kannst du ihn nicht überzeugen, dass ich eine Audienz erhalte? Ich habe viele Informationen, die ihm nutzen können. Vergiss nicht die Kreise, in denen ich lebe."

    Der dürre Gaetulier schüttelte bedauernd den Kopf. "Lebtest. Du musst Geduld ham, Sciurus. Du bist nen toter Sklave und nen Verbrecher dazu. Die Praetorianer sin hinter dir her. Praetorianer, Mann! Du kannst froh sein, dass er dich überhaupt hier duldet. Also steig ihm nich aufs Dach, vergnüg dich mit der Lektüre und halt die Füße ne Weile still. Ich bring dir dein Essn und wenn de sonst was brauchst. Das wird dich am Ende schon noch genug kostn."

    Der gefallene Sklave unterdrückte ein grimmiges Schnauben und nickte nur stumm.

    "Ich komm heut Abend wieder. Lass's dir schmeckn."

    Garamander verließ den kleinen Raum und schloss die Türe hinter sich. Sciurus wartete einige Augenblicke, dann schlug er grollend mit der Faust auf den Tisch. Er würde sie umbringen, allesamt! Myron, Sulamith, Decimus Serapio, vielleicht sogar seinen Herrn. Aber allen voran Decimus Serapio!

    Missmutig starrte Sciurus auf das vor ihm liegende Papyrus, das Garamander ihm vor einer gefühlten Ewigkeit zum Lesen gebracht hatte, ohne dass er nur ein einziges Wort las. Seit er in der Nacht der Tempelschändung durch die Kloake bis in das Reich des Vogelmannes geflohen war und hier festsaß versuchte er herauszufinden, was ihn hierher gebracht hatte. Philotima und Molliculus waren ihrem christianischen Wahn erlegen und schmorten im Kerker. Myron hatte das Weite gesucht als klar wurde, dass der Tempel nicht leer war. Hatte er sie verraten und die Anwesenheit der jungen Frau war Teil seines Planes gewesen? Oder hatte Sulamith sie verraten - die kleine, unschuldige Sulamith, die womöglich gar nicht so unschuldig war? Sciurus war es gleich, er würde sie beide finden und beseitigen sobald er diesen seinen selbstgewählten Kerker wieder verlassen konnte. Ebenso wie Decimus Serapio. Dieser elende Hund. Was hatte er mit dieser Angelegenheit zu tun, warum trieb sich ein Praetorianer des Nachts auf dem Quirinal herum?


    Ein Schlurfen ließ Sciurus aufhorchen. Garamander.
    "Na, wie gefällt's dir? Hab ich zu viel versprochn?" Der abgemagerte Gaetulier grinste breit und dümmlich. Er stellte eine Schüssel Puls auf den kleinen Tisch, dann hielt er Sciurus einen Aushang hin. "Hier, hab ich vom Forum Boarium mitgehen lassn. Die ham dich wirklich gut getroffn. Solltest besser nich so schnell vor die Tür, hängt an einigen Stellen in der Stadt."
    "Was ist mit dem König? Wann kann ich endlich mit ihm sprechen?" Bei seiner Ankunft hatte er den Mann mit der Vogelmaske nur kurz gesehen, ehedem er ihm diese Kammer im Labyrinth der Katakomben zugewiesen hatte.

    "Ach, der König will sich nich mit dir sehen lassn, du bist ihm zu heiß, kleines Eichhörnchen."
    Sciurus stieß seine Hand nach vorn, packte das knochige Gelenk des Gaetuliers und verdrehte ihm die Hand, dass dieser aufschrie. "Nenn mich noch einmal so, und dein Hals ist das nächste, was ich dir verdrehe."
    Er ließ Garamander los, der schnell seine Hand zurück zog und einen Schritt zürück trat.
    "Pezzo di merda! Verscherz es dir nich mit deinen letzten Freuden, sonst biste schneller gegen einen Sack Sersterzen ausgetauscht als de Eichhörnchen sagen kannst", giftete der Dürre ihn an.

    Das Antlitz des gefallenen Sklaven blieb unbewegt als er sich samt seiner Geißel langsam zur Türe schob, den Rücken stets zur Wand, doch in seinem Blick, der auf Serapio geheftet war, lag eine gefährliche Melange aus Zorn, Hohn und Zufriedenheit. Nicht nur, dass sein Herr leiden würde ob der Zerstörung im Tempel, nun triumphierte Sciurus auch noch über dessen Bettgenossen, der ihn aus dem Leben seines Herrn hatte verdrängt. Fest drückte er die Sklavin Berenice an sich, dass sie seinen Atem in ihrem Nacken spürte, und das Messer an ihre Kehle als er um die Mauer herum ins Freie trat, noch immer den Rücken nah an der Tempelwand. Seine Augen benötigten einige Herzschläge, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, dennoch war es ihm unmöglich viel mehr zu sehen als den Tempelinnenhof und die Kolonnaden, die durch Fackeln erhellt wurden. Es mochten dutzende weiterer Soldaten außerhalb des Tempels warten. Die Gedanken, wo Myron abgeblieben war, wo Sulamith steckte und weshalb die Soldaten überhaupt hier waren - und weshalb ausgerechnet Serapio -, schob Sciurus vorerst beiseite. Sich Gedanken darüber zu machen, wer sie verraten hatte, dafür war später noch Zeit.


    "Wenn du schreist, Berenice, dann wird es das letzte sein, was deiner Kehle entkommt. Du weißt, dass ich nicht scherze", zischte er der Sklavin zu, dann schubste er sie vor sich die Treppen hinab, zog sie zur Säulenumrandung des Tempels und dort in einen Bereich im Schatten. Einige Augenblicke ließ er vergehen, lauschte in die Stille der Stadt, die nur durch das rasche, keuchende Atmen Berenices durchbrochen war. In Sekunden wägte er seine Optionen ab. Würde er die Sklavin zurücklassen, würde sie schreien sobald er außer Reichweite war. Würde er sie mit sich nehmen, würde ihn das nur behindern. Er blickte zurück zum Tempel, dann hinaus in die Dunkelheit der Straße. Gänzlich unvermittelt ließ er Berenice los, um sie im Bruchteil einer Sekunde später beim Schopf zu packen und ihren Kopf an die Säule hinter sich zu schlagen. Sciurus nahm sich nicht die Zeit, nachzusehen, welchen Schaden dies verursachte - er wusste, dass es hart genug gewesen war, ihr das Bewusstsein zu nehmen. Ob das Leben gleichermaßen aus ihr rann, dies war im gleichgültig. Seine Füße trugen ihn bereits in die Dunkelheit der Straßen hinaus, die Straßen nahe der Villa Flavia, seiner einstigen Heimat, die ihm so vertraut waren wie nichts sonst.

    Während Myron durch die Tür geschlüpft und geflüchtet war, betrachtete Sciurus verzückt wie Philotima und Molliculus sich nicht beirren ließen und ihr Werk - respektive das ihres Gottes - vollbrachten. Gracchus' Herz würde bluten bei diesem Anblick!


    Mit einem Male jedoch krachte die Tempeltüre auf und der Diener des Höllenfürsten persönlich stürmte die Szenerie: Faustus Decimus Serapio! Die Ursache für Sciurus' Fall, der Ursprung seiner Schande!

    Sogleich drückte Sciurus die Klinge fester an den Hals seiner Geisel, dass ein Hauch von Blut bereits sich auf der hellen Haut zeigte und die Sklavin ein entsetztes Stöhnen von sich gab. Im Bruchteil eines Herzschlages wägte er seine Optionen ab: einen Kampf würde er nicht überstehen, die Christianer würden ihn nicht retten können, ein Gerichtsverfahren würde ihm nicht zustehen. Kurz erwägte er, den Namen seines Herrn als Auftraggeber in Schande zu ziehen, doch gleichwohl dies den Flavier kurzzeitig in ein schlechtes Licht würde rücken, so stand sein Wort gegen ihn, und da Gracchus den Tod seines Sklaven hatte verkündet, würde letztendlich nur Sciurus die Konsequenzen zu tragen haben.


    "Keinen Schritt näher oder ich schlitze ihr den Hals auf und bringe sie euren Göttern als Opfer dar!" knurrte er zu Serapio. Aus seinem langjährigen Dienst im Haus eines Pontifex wusste Sciurus nur allzu gut, dass die Schändung des Tempels bereits ein gewaltiger Frevel war. Ein Mord in einem Tempel indes wäre um ein weites noch schlimmer für Rom und seinen Frieden mit den Göttern.

    "Ihr werdet zur Seite treten und mich nach draußen gehen lassen. Am Porticus lasse ich sie frei. Was ihr mit dem Rest macht, ist mir gleich."

    Das Areal um den Tempel kannte Sciurus bestens. Wie oft hatte er seinen Herrn hierher geleitet, der aus Furcht vor seinen Ahnen jene zu besänftigen suchte. Sciurus glaubte nicht an Götter, doch es würde ihm wahrhaftig eine Freude sein, die hiesigen zu reizen und ihren Zorn über die Menschen zu bringen - insbesondere über einen ganz bestimmten.


    Auch Sciurus registrierte die beiden Nachtschwärmer auf der Mauer, doch sah in ihnen keine Gefahr. Wäre erst die schwere, hölzerne Tür wieder hinter ihnen geschlossen, würde kaum Lärm nach Außen dringen. Rasch huschte er bis zur Tempelpforte hinauf und nahm einen kleinen, metallenen Haken hervor, mit dem er sich an dem Schloss zu schaffen machte. Verweichlicht und nachlässig war er geworden im Nest der Christianer - bemerkte er doch nicht, dass die Türe zwar geschlossen, jedoch nicht verschlossen war.


    Nur wenige Herzschläge später waren sie bereits im Inneren des Tempels und hinter Molliculus erkannte Sciurus seine Nachlässigkeit. Gegenteilig zu jenem indes erfasste der einstige Sklave die Situation schnell, denn nicht nur eine Frau stand vor dem Altar, sondern zu ihrer Seite vier weitere Personen, Sklaven allem Anschein nach. Eine von ihnen stieß einen spitzen Schrei des Erschreckens aus, denn auch die Eindringlinge waren nicht unbemerkt geblieben. In einem Anflug von Panik hastete sie zur Türe, doch Sciurus packte sie hart am Arm, verdrehte ihr diesen auf den Rücken und griff noch beinahe im gleichen Augenblicke nach einem Dolch, welcher neben der Türe an der Wand hing. Es war ein Beutestück, das angeblich der große Vespasianus selbst aus den Provinzen mitgebracht und den Göttern vermacht hatte - eine silbrig, beinahe bläulich schimmernde gekrümmte Klinge, welche auch nach all der Zeit ihre Schärfe nicht hatte verloren, an einem Heft aus bleichem Bein, welches geschmückt war mit fein gearbeiteten Kreisen und Spiralen. Sciurus indes interessierte die Kunstfertigkeit nicht, sondern nur die scharfe Klinge, die er der Sklavin nun an den Hals drückte. Er kannte sie - ihr Name war Berenice und sie stammte aus dem flavischen Haushalt.

    "Keinen weiteren Laut! Und keine Bewegung!" fauchte er zu ihr, aber auch zu den Opfernden. Wenn Berenice hier war, musste die Frau am Altar eine Flavia sein.

    Aus einer professionellen Perspektive heraus betrachtet waren diese Christianer nichts anderes als Dilettanten, doch was ihnen an Erfahrung im kriminellen Millieu fehlte, machten sie durch eine Melange aus unbeirrbarer Entschlossenheit, religiösem Eifer und einer unerbitterlichen Bereitschaft - im Zweifelsfalle zur Gewalt - wett. Sciurus war davon überzeugt, dass diese explosive Mischung dazu gereichen würde, die geplante Tat tatsächlich erfolgreich durchzuführen. Er bejahte Molliculus' Frage nach dem Schlüssel wortlos mit einem Nicken, schlug seine Kapuze über den Kopf und trat nach Sulamith aus dem Haus. Selbst die zögerliche Sklavin hatte sich dazu durchgerungen das Vorhaben zu unterstützen! Er legte seine Hand auf ihre Schulter und schob sie von den anderen ein Stück fort, ehedem sie losgingen. Sie waren die vordere 'Gruppe', denn Sciurus wollte sicher sein, dass er mögliche Gefahren selbst beurteilen und ihnen aus dem Weg gehen konnte. Er trug noch keine Waffe bei sich - abgesehen von seinem Gürtel - und sollten sie von Vigilen befragt werden konnte Sulamith ihnen mit ihrem Engelsgesicht ein Märchen auftischen. Andererseits war es durchaus unwahrscheinlich, dass irgendwer in Rom sich um eilige, nächtliche Spaziergänger scherte - gab es für die Nachtwachen doch genügend marodierendes oder lärmendes Gesocks, dessen sie sich annehmen konnten.

    Stoisch blickte Sciurus drein als die Frau aus dem Waisenhaus kam. Er kannte sie nicht bisher, nur aus Erzählungen der anderen, aus Berichten über Sorgen - über einen Mangel an Essen, Kleidung oder Schutz für die Kinder. Indes drohte sie den ganzen Plan, den guten Plan zu vernichten. Was scherten Sciurus die Kinder und die Schwächsten? Niemand hatte sich je um ihn geschert - außer sein Herr, der ihn verraten und fallen gelassen hatte für eine Bettgeschichte.


    "Pah!" lachte er auf. "Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass Philotimas Leben sie befriedigt? Sie werden nicht aufhören euch zu bedrohen - niemals! Sie werden wieder kommen und wieder, sie werden euch als Sündenböcke heranziehen für jeden kleinen Fehltritt, sie werden euch ihrem Wohlstand, ihrer Bequemlichkeit, ihren Göttern opfern! Die Kinder, die Schwächsten, wir alle haben nur eine Chance! Wir müssen die Menschen zum rechten Glauben führen, dass sie beginnen sich aufzulehnen gegen diese Ungerechtigkeit! Wir müssen die Menschen wachrütteln!"
    Er senkte seine Stimme. "Wenn Philotima sich stellt werden sie sie benutzen. Sie werden sie vorführen und ausschlachten, sie nutzen um Furcht zu verbreiten und unsere Sache um Jahre zurückwerfen! Und sie werden auch die Kinder benutzen - wieder und wieder um ihre Ungerechtigkeit zu verbreiten. Nein, es gibt nur einen rechten Weg und der ist furchtlos voran. Wir müssen stark bleiben und weiter machen. Wir müssen die Menschen wachrütteln und ihnen die Augen öffnen. Nur wenn die Menschen das Falsche erkennen, werden sie den rechten Weg finden und die Schwachen beschützen!"


    Was für ein ausgemachter Unsinn! Doch wenn dieser Unsinn ihm nutzen würde, mochte Sciurus ihn gerne ertragen.



    Sein Plan ging auf - zumindest schien es anfangs so als er den Zuspruch des bisher zurückhaltenden Myrons fand und sogar Volusus sich zu etwas mehr Aktionismus aufraffen konnte. Als Philotima nicht nur zustimmte, sondern einen rechten Groll gegen die flavischen Kaiser offenbarte, musste Sciurus sich beherrschen, dass auf seinem Antlitz nicht eine Braue nach oben wanderte. Zwar hatte er nicht erwartet, dass sie den Plan ablehnen würde, doch solcherlei Emotionalität mochte beinahe einer göttlichen Fügung gleichkommen. Indes glaubte Sciurus nicht an Gott - weder den in diesem Haus verehrten, noch irgendeinen anderen, so dass er den Zufall schlichtweg als solchen begrüßte.


    Dann jedoch kam das Zögern - in Form der kleinen Hebräerin, die vor dem Aufbegehren scheute. Mit eiskaltem Blick durchbohrte Sciurus Sulamith, die ihm schräg gegenüber saß. War es wahrhaft ihre Überzeugung und der merkwürdige Glaube, der sie sprechen ließ - oder war es nicht eher die Feigheit einer verwöhnten Sklavin? Sciurus hasste feige Sklaven. Nur seinen Herrn, seinen ehemaligen Herren, diesen hasste er augenblicklich noch mehr, und er weidete sich bereits an dem Gedanken, wie Gracchus auf eine Verwüstung des flavischen Tempels reagieren würde.



    Sciurus saß entspannt zurückgelehnt auf seinem Stuhl. In den zurückliegenden Wochen war er in der Gemeinschaft mit Liebe und Fürsorge bis zum Ersticken versorgt worden. Niemand fragte weiter nach seiner Vergangenheit. Niemand wunderte sich, dass er das Haus nur im Verborgenen verließ. Er hatte sich hier und dort nützlich gemacht. Doch niemand verlangte von ihm irgendetwas. Und niemand hegte Verdacht, dass er dies schamlos ausnutzte. Er wartete nur auf den passenden Moment, seine eigenen Pläne zu realisieren. Und an diesem Abend schien dieser Moment gekommen.


    "Botschaften - das sind wieder nur Worte", kommentierte er Volusus' Vorschlag mit nachsichtigem Ton. Auch wenn er alles tat was Philotima verlangte, im Grunde war der Didier viel zu weich, um die Welt zu bewegen.
    "Philotima hat Recht, wir müssen Zeugnis ablegen durch Taten! Durch deutliche Taten. Wir sollten beginnen, die Götzenhäuser nicht nur von Außen zu verurteilen, sondern im Inneren zu zerstören." Er ließ dies kurz wirken, bevor er fortfuhr. "Allerdings müssen wir vorsichtig sein. Durch unsere Aktionen wird vor den Tempeln der Trias und denen im Stadtkern häufiger patroulliert. Wir sollten ein Ziel wählen, das zwar wichtig ist, aber nicht direkt im Stadtinneren liegt. Wie wäre es mit einem Tempel der vergöttlichten Kaiser? In diesen Gebäuden werden nicht nur falsche Götzen angebetet. Nein, sie sind darüberhinaus auch Zeugnis der unglaublichen Unverfrorenheit Roms, das Menschen - Menschen! - auf eine Ebene mit dem einzig wahren Gott erhebt!"


    Noch einmal ließ er eine kurze, unverfänglich wirkende Pause folgen. "Der Tempel der vergöttlichten Flavier auf dem Quirinal wäre vielleicht eine Option. Ich könnte ... möglicherweise einen Schlüssel für das Tempeltor organisieren. Damit könnten wir unbemerkt bei Nacht eindringen und unser Werk ungestört vollbringen."
    Tatsächlich würde Sciurus keinen Schlüssel benötigen. Er würde jedes Tempeltor knacken können, denn die Mechaniken waren nicht sonderlich kompliziert, schlussendlich war üblicherweise niemand so dreist, einen Tempel etwa zu berauben. Doch der Schlüssel zum Tempel der vergöttlichten Flavier war Sciurus' Schlüssel zu seiner Rache.



    Einen Augenblick lang bäumte sein Herz sich auf, im verzweifelten Versuch sich dessen zu vergewissern, dass er bereits einen Herrn hatte, der seine schützenden Hände über ihn hielt - doch sein Verstand unterdrückte das sinnlose Sentiment und sann über die Chancen nach, welche es hier zu ergreifen galt. Er nickte dem Achatius zu, präferierte vor weiterer Konversation jedoch die Speisen, die dieser mitgebracht hatte. Es waren einfache Gerichte, doch nach den langen Tagen der Entbehrung mundeten sie wie Nektar und Ambrosia. Der mildtätige Volusus plapperte derweil munter weiter und ließ ihn auch erste Eindrücke der Welt der Christianer kosten. Eine Frau als Anführerin - wie tief konnte diese Sekte sinken?


    Die Schüssel mit Linsen war beinahe geleert als Volusus neuerlich Antwort forderte. Er spülte das Essen mit einem Schluck Flüssigkeit hinab.
    "Ich glaube, ich habe schon von ihm gehört", blieb er wieder ein Stück bei der Wahrheit, suchte jedoch einen längeren Vortrag zu vermeiden, indem er wie zufällig auf Dinge umschwenkte, die weitaus wichtiger waren. "Und ich freue mich bereits, Philotima kennenlernen zu dürfen. Wie groß ist eure Gemeinde? Wohnen alle hier in diesem Haus?"

    Er folgte dem mildtätigen Volusus durch die kleinen, schmalen Gassen Roms und prägte sich genau ein, wohin sie gingen. In seinen Gedanken fertigte er sich eine Karte, merkte sich mögliche Fluchtwege und mögliche Schwachstellen. Das Haus, welches sie schließlich betraten, war unauffällig, nicht sonderlich hübsch, aber auch nicht hässlich, nicht sehr alt, aber auch nicht neu. Auch im Inneren war es nichts besonderes, ein wenig schäbig selbstredend im Vergleich zur Villa Flavia.


    Er streifte die Kapuze von seinem Kopf und suchte nicht zu gierig zu wirken als er einen Schluck trank. Der mildtätige Volusus sprach ohne Unterlass. Bedächtig legte er sich währenddessen seine Worte zurecht, ehedem er antwortete.
    "Meine Mutter nannte mich Ultor", hielt er sich an die Wahrheit. Ein Gebäude aus Lügen war schnell errichtet aus baufälligen Substanzen, brach indes nur allzu leicht über seinem Bewohner ein. Er brauchte daher eine Geschichte, welche möglichst nahe an der Wahrheit blieb.
    "Ein Freund hat mich verraten, mir alles genommen und mich in Verruf gebracht. Daher habe ich mich am Tiber verborgen - in Rom bin ich nicht mehr sicher, doch ich habe sonst keinen Platz auf der Welt."



    Aller guten Dinge sind drei. Er hielt nichts von solch platten Sprichwörtern, doch in diesem Falle lag ein Funken Wahrheit darin. Dreimal hatte der mildtätige Volusus ihn überrascht. Eimal als er ihn ansprach, ein zweites Mal mit der Gabe des Brotes. Und nun bot er ihm zu alledem eine Unterkunft für die Nacht an. Er blickte empor, durchbohrte mit dem Blick seiner eisig graublaufarbenen Augen sein Gegenüber als könne er in dessen Gedanken hineinsehen. Der junge Mann sah nicht aus als hätte er den harten Drill der Stadtwachen durchlaufen, nicht als würde er jene von der Straße haschen, die keiner vermisste, um aus ihrem Fett Seife und ihren Knochen Leim herzustellen - eher wie ein verweichlichter Knabe aus der Verwaltung, der in seinem mildtätigen Abenteuer am Tiber eine Flucht vor der Langeweile seines Lebens suchte.


    Und er lebte in einer Sekte - eine Gemeinde Gottes, der Dienst am Menschen -, Christen vermutlich. Sciurus hatte sich intensiv mit seinem Herrn mit den Auswüchsen dieser Sekte beschäftigt, denn Manius hasste die Christen zutiefst. Sciurus waren sie stets gleichgültig gewesen. Doch nun hasste er Manius zutiefst, und der Feind seines Feindes war sein Freund, respektive ein möglicher Pflasterstein auf seinem Weg der Rache. Darüberhinaus waren diese Menschen wie Geister - verbargen sich in den Ritzen der Stadt und boten manchesmal gar ob ihres Glaubens verurteilten Verbrechern ein Versteck. Ein sicheres, warmes Obdach umringt von schwächlichen Christen war allemals besser als ein ungewisses, warmes Obdach umringt von den skrupellosen Klienten des Vogelmannes. Aus dem mildtätigen Nest heraus konnte er noch immer beginnen, seine nächsten Schritte zu planen.


    Er senkte seinen Blick. "Ich wäre dir sehr dankbar", lies er leise, ein wenig unterwürfig vernehmen.