Beiträge von Sun Cheng

    Nachdem er mit Pentesilea im Stadtpark angekommen war, suchte er ein Stück Wiese, wo er sich hinsetzte und seine Ledermappe öffnete. In der Mappe waren einige Blätter chinesisches Papier, die mit Tuschezeichnungen versehen waren. Neben den Zeichnungen hatte er immer einen kleinen Text auf Chinesisch an den Rand geschrieben. Das erste Blatt zeigte einen chinesischen Drachen. "Ich hatte dir ja versprochen, einen Drachen zu zeichnen. Das ist einer."

    Cheng hatte wieder seinen Wollmantel an, um seine asiatische Kleidung zu verbergen. Außerdem hatte er eine Ledermappe dabei. Als er Pentesilea sah, lächelte er. "Ich hoffe, du wartest nicht allzu lange auf mich."

    Er lächelte, durchaus ein wenig stolz. "Du wirst ganz sicher eine gute Schülerin sein. Doch nun sollte ich dich vielleicht nach Hause bringen, sonst bekommst du diese Nacht überhaupt keinen Schlaf. Und das wäre nicht gut. Morgen ist schließlich auch noch ein Tag."

    "Gib mir einen Moment Bedenkzeit."
    Er sah auf das Meer und dachte nach. War er bereit, ein Meister zu sein? Konnte er das? Hatte er selbst auch nur ansatzweise genug verstanden, um unterrichten zu können? Er ging ein paar Schritte hin und her. Wann war man ein Meister? Wer entschied, ob man ein Meister sein würde? Ein anderer Meister? Ein Schüler? Man selbst? Eine höhere Macht? Konnte er diese Verantwortung übernehmen? Hatte er überhaupt eine Wahl? Schließlich drehte er sich zu Pentesilea und verbeugte sich. "Es wäre mir eine Ehre, Pentesilea."

    "Ein Meister ist ein Lehrer. Er sollte so viel wissen, dass er alle Fragen eines unerfahrenen Schülers beantworten kann und den weit fortgeschrittenen Schülern zumindest bei der Suche nach Antworten helfen kann. Er ist eigentlich fast so etwas wie ein zweiter Vater oder ein guter Freund."

    "Wenn du die Augen nur auf das Ziel richtest, dann entgeht dir die Schönheit der Landschaft zu beiden Seiten des Weges. Oder ein anderes beispiel: Wenn du von einem Haus zu einem anderen Haus gehst, fühlst du dich vielleicht draußen, auf dem Weg, viel wohler als im Haus." Cheng lächelte aufmunternd. "Und glaube mir, du bist schlau genug. Als ich zum ersten Mal das Tao Te King gelesen hatte, war ich noch verwirrter als du jetzt. Das ist fast 20 Jahre her, und wirklich verstanden habe ich es immer noch nicht. Mach dir also nichts draus, wenn es dich verwirrt. Vielleicht wachst du in einem Jahr auf, und dir werden viele Dinge klar sein, die dich heute noch verwirren. So ist es mir ergangen und vor mir schon meinem Meister und auch meinen Eltern und vielen anderen."

    "Wenn ich meinem Meister diese Frage gestellt habe, hat er immer gesagt, dass es das Wichtigste ist, zu wissen, was das Wichtigste ist," meinte er ruhig, "und das hat mir geholfen, ohne mir zu helfen. Auch wenn das jetzt eigenartig klingt." Er dachte eine Weile nach. "Vielleicht ist ja der Weg das Ziel. Dann wäre die Entscheidung bedeutungslos. Und man könnte nie verlieren. Wichtig ist nur, nichts mit aller Kraft erreichen zu wollen. Sobald man etwas zu fest packt, schadet man ihm."

    Cheng seufzte und zog seine Augenbrauen hoch. "Das wirst du leider selbst entscheiden müssen. Man muss seinen Weg selber gehen. Andere können einem Schuhe, Pferde oder wagen zur Verfügung stellen, aber die Richtung muss man selbst bestimmen. Ich habe dir nur Möglichkeiten gezeigt. Welche du wählst, liegt an dir. Aber egal, welche Wahl du triffst, du wirst immer wieder neue Möglichkeiten entdecken und neu wählen. Beim Entdecken der Möglichkeiten kann ich die helfen, beim Wählen kann ich es nicht. Leider."

    Er dachte nach, wobei er seine Augen schloss, um sich besser konzentrieren zu können. Nach einem Moment der Stille antwortete er:
    "Ich denke es. Aber genau kann ich es nicht sagen, denn ich habe das Tao Te King noch nicht verstanden. Ich weiß aber, dass der Weg zur Erleuchtung für jeden anders ist. Und dass Wissen viel zu oft die Erkenntnis vernebelt. Vielleicht ist es also besser, wenn du wenig über dich weißt, weil es dann einfacher wird, dich selbst zu erkennen."

    "Das Tao ist nur ein Wort. Man kann es eine Art höheren Sinn sehen, der hinter allem steckt. Und auch den Weg, der zur Erkenntnis führt. Und den Weg des Lebens allgemein. Es existiert nichts in unserer Wahrnehmung, das man als Tao bezeichnet. Erst, wenn man Erleuchtung erlangt hat, wird einem klar werden, was es bedeutet. Doch eigentlich ist tao nur der Versuch, einen namen für etwas zu finden, für das kein Begriff existiert. Laotse, der Alte von Berg, hat dieses Wort zuerst verwendet. Er hat das Tao Te King geschrieben. Wer das Tao Te King versteht, der versteht auch, was Tao ist."