Mein lieber Freund Quintus,
Wie beginnt man wohl am besten einen Brief, von dem man weiß, dass es der letzte an seinen besten Freund und Bruder im Geiste sein wird?
Wenn du diese Zeilen liest, dann werde ich meine letzte Ruhestatt schon längst unter dem Olivenbaum auf jenem Hügel gefunden haben, von dem ich in den vergangenen Jahren immer meine Güter betrachtet habe. Doch nun schaffe ich den Marsch dorthin nicht mehr aus eigenen Kräften, sogar den Wortlaut dieser wenigen Zeilen muss ich meinem Sohn diktieren. Und so gerne ich dich noch einmal gesehen hätte, mein Bruder Quintus, so sehr bin ich letzten Endes froh darüber, dass du mich als den alten, tatkräftigen Lucius in Erinnerung halten wirst, nicht den darbenden Greis, den nun mein Sohn vor sich liegen hat.
Meine Pferdezucht läuft gut, und ich bin stolz auf das Erreichte. Doch zwei Söhne hat meine geliebte Frau Claudia zur Welt gebracht und hat beim zweiten im Kindbett den Tod gefunden, und so stehe ich vor dem Dilemma eines scheidenden Vaters. Das Gut ist nicht groß genug um es zu teilen, es wäre nicht wirtschaftlich. Genauso wenig möchte ich meinen Sohn Marcus zu einem Leben als besserer Knecht verurteilen, hatte ich doch versäumt, ihn rechtzeitig auf das Verlassen des Hofes vorzubereiten. Nun, ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst, Bruder Quintus, aber eines Tages, unter dem Einfluss der täglichen Strapazen des Alltags hatten wir versprochen, die Familie des anderen zu unterstützen. Ich schäme mich, dass ich und mein Sohn mit leeren Händen vor dir stehen, als Bittsteller, doch außer meiner ewigen Freundschaft zu dir kann ich keinen Faustpfand aufbieten. Ich bin also vollständig deiner Gnade ausgeliefert, wenn ich bitte: Nimm Marcus in deiner Familie auf!
Als du vor langer Zeit mein Gut besuchtest, hattest du den kleinen Marcus schon kennen gelernt. Er hat auf deinem Schoß gesessen und du nanntest ihn Neffen. Lass ihn bitte zu einem echten „Nepos“, einem Angehörigen deiner Familie werden, Bruder Quintus!
Marcus ist ein guter Junge und ich bin stolz auf ihn. Er ist loyal und strebsam. Du weißt wie wichtig mir stets die Bildung war, und so habe ich ihn so gut ausbilden lassen, wie es einem kleinen Pferdezüchter aus Kampanien möglich war. Er kann schreiben und spricht griechisch fließend. Marcus ist wirklich ein kluger Kopf, doch benötigt er strenger Führung! Manchmal kann man eine gewisse Verweichlichung feststellen, er ist zu großer Freund der griechischen Schriften und vernachlässigt allzu oft die römischen Tugenden. Lehre diese ihn, die Virtus des römischen Bürgers. Die Gens Decima ist eine Zierde Romas und ich weiß meinen Sohn in guten Händen.
Wie beendet man einen Brief, von dem man weiß, dass er der letzte an seinen besten Freund und Bruder im Geiste sein wird?
Mir bleibt nur ein letzter Gruß und Dank für alles, was du mir Gutes getan hast und was du mir auch noch in Zukunft Gutes tun wirst.
In ewiger Freundschaft, dein Bruder
Lucius