Rutger, der von Philosophie etwa soviel verstand wie der sprichwörtliche Germane, wußte nicht was ein "Entscheidungshorizont" war, doch es wunderte ihn gar nicht, dass die Römer derart beredte Wortklaubereien entworfen hatten, um - typisch für dieses schlangenzüngige Volk - alles zu verdrehen und am Ende gar behaupten zu können, ein Sklave sei genauso frei wie ein Patrizier!
Er kniff unwillig die Augen zusammen und schüttelte verständnislos den Kopf, als Aquilius meinte, frei müsse er im Geist sein, und er habe den falschen Weg gewählt. Jedes Kind wußte doch, dass man gegen Bogenschützen keinen Sturmangriff führte! Nein, an die pirschte man sich ran und metzelte sie überraschend nieder!
Und nein, Rutger war sich sicher dass Freiheit keine Geisteshaltung war, es war das Recht Waffen zu tragen und dahin zu gehen wo man wollte, seine Stimme im Rat zu erheben und dem Gefolgschaft zu leisten der würdig war und am meisten Beute versprach. Und er wußte auch ganz genau, dass er mit seiner Flucht schon das Richtige getan hatte, das was ein Mann von Ehre tun musste. Er war nur nicht konsequent genug gewesen, ein wenig unüberlegt vielleicht auch, und vor allem hatte er den Fehler gemacht Arrecina zu verfallen und so am Ende zu unterliegen... Aber wenigsten hatte er es versucht!
"Frei ist man in der Welt.", murmelte er leise. "Nur dann auch innendrin. Als Sklave niemals..."
Das Gesetz. Rutger biss die Zähne aufeinander. Wie im Carcer, so viele klingende Worte, nur um am Ende zu sagen: Du musst sterben. Keine Gnade.
Seine Wangenknochen mahlten. Er wünschte, er hätte die Nerven behalten! Aber was machte es noch aus, jetzt wo alles gleich vorbei sein würde. Starr folgte sein Blick Aquilius, dem Riemen in seinen Händen. Das Bild brannte sich in ihn hinein. Die Sklaven kamen näher, eine gesichtslose Masse.
Aquilius würde ihn erdrosseln. Das war, verglichen mit dem Kreuz, doch eine Art Gnade, dachte Rutger noch, und schon spürte er wie das Band sich um seinen Hals legte. Und enger wurde. Seine Halsmuskeln spannten sich an, er rang nach Luft. Es rauschte in seinen Ohren, schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen. Sein Herz hämmerte. Wieder diese schreckliche Kälte...
Ruckartig schnürte es ihm fest die Kehle zu, und panisch stemmte Rutger sich gegen die Fesseln, wand sich in verzweifeltem Todeskampf. Die Adern traten in seinem Gesicht hervor, das sich rot färbte, dann blau, kleine Blutäderchen platzten und übergossen das Weiß in seinen hervortretenden Augen mit blutigroten Flecken. Seine Glieder zuckten. Schwärze verschlang ihn. Rutger glaubte zu fallen, und hörte von fern sein eigenes Röcheln. Immer weiter fort. Immer leiser. Sein Leben zerrann. Dann war da nur noch Dunkelheit und Kälte.
Für uns ist er schon lange gestorben.
Du wirst am Kreuz verrecken.
Rutger ist fortan tot.
Und dann bekam er auf einmal wieder Luft. Gierig sog sein Körper sie ein, pfeifend strömte sie durch seine gequetschte Kehle, und fachte aufs neue den Funken seines beinahe verloschenen Lebensfeuers an.
Severus wird leben.
Wild sah der Germane um sich, in den weitaufgerissenen Augen den Irrsinn und das blanke Entsetzen. Und einen Augenblick lang war es, als würde der Abgrund den er gesehen hatte, den Zuschauern selbst aus dieses Augen entgegen starren, hungrig, grauenvoll - und geduldig, in dem Wissen dass am Ende keiner von ihnen ihm würde entrinnen können. Dann legte sich ein Schleier darüber, der Blick flackerte ins Leere, und ein dumpfes Stöhnen entrang sich der Brust des Germanen, der nun Severus sein sollte.
Sie banden ihn los und zogen ihn hoch, doch er wurde aschgrau im Gesicht, hielt sich nicht auf den Beinen, und knickte einfach zusammen wie eine Marionette deren Fäden zerrissen sind. Und so mussten die Wächter ihn, als sich die ganze Karawane nun wieder auf den Rückweg machte, zu ihrem großen Ärger auch noch tragen. Worüber sie sich mit derben Flüchen austauschten, jedoch in gedämpftem Tonfall. Denn schließlich wollten sie nicht den Unmut des Herrn erwecken.