Beiträge von Rutger Severus

    Rutger, der von Philosophie etwa soviel verstand wie der sprichwörtliche Germane, wußte nicht was ein "Entscheidungshorizont" war, doch es wunderte ihn gar nicht, dass die Römer derart beredte Wortklaubereien entworfen hatten, um - typisch für dieses schlangenzüngige Volk - alles zu verdrehen und am Ende gar behaupten zu können, ein Sklave sei genauso frei wie ein Patrizier!
    Er kniff unwillig die Augen zusammen und schüttelte verständnislos den Kopf, als Aquilius meinte, frei müsse er im Geist sein, und er habe den falschen Weg gewählt. Jedes Kind wußte doch, dass man gegen Bogenschützen keinen Sturmangriff führte! Nein, an die pirschte man sich ran und metzelte sie überraschend nieder!
    Und nein, Rutger war sich sicher dass Freiheit keine Geisteshaltung war, es war das Recht Waffen zu tragen und dahin zu gehen wo man wollte, seine Stimme im Rat zu erheben und dem Gefolgschaft zu leisten der würdig war und am meisten Beute versprach. Und er wußte auch ganz genau, dass er mit seiner Flucht schon das Richtige getan hatte, das was ein Mann von Ehre tun musste. Er war nur nicht konsequent genug gewesen, ein wenig unüberlegt vielleicht auch, und vor allem hatte er den Fehler gemacht Arrecina zu verfallen und so am Ende zu unterliegen... Aber wenigsten hatte er es versucht!
    "Frei ist man in der Welt.", murmelte er leise. "Nur dann auch innendrin. Als Sklave niemals..."


    Das Gesetz. Rutger biss die Zähne aufeinander. Wie im Carcer, so viele klingende Worte, nur um am Ende zu sagen: Du musst sterben. Keine Gnade.
    Seine Wangenknochen mahlten. Er wünschte, er hätte die Nerven behalten! Aber was machte es noch aus, jetzt wo alles gleich vorbei sein würde. Starr folgte sein Blick Aquilius, dem Riemen in seinen Händen. Das Bild brannte sich in ihn hinein. Die Sklaven kamen näher, eine gesichtslose Masse.
    Aquilius würde ihn erdrosseln. Das war, verglichen mit dem Kreuz, doch eine Art Gnade, dachte Rutger noch, und schon spürte er wie das Band sich um seinen Hals legte. Und enger wurde. Seine Halsmuskeln spannten sich an, er rang nach Luft. Es rauschte in seinen Ohren, schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen. Sein Herz hämmerte. Wieder diese schreckliche Kälte...
    Ruckartig schnürte es ihm fest die Kehle zu, und panisch stemmte Rutger sich gegen die Fesseln, wand sich in verzweifeltem Todeskampf. Die Adern traten in seinem Gesicht hervor, das sich rot färbte, dann blau, kleine Blutäderchen platzten und übergossen das Weiß in seinen hervortretenden Augen mit blutigroten Flecken. Seine Glieder zuckten. Schwärze verschlang ihn. Rutger glaubte zu fallen, und hörte von fern sein eigenes Röcheln. Immer weiter fort. Immer leiser. Sein Leben zerrann. Dann war da nur noch Dunkelheit und Kälte.


    Für uns ist er schon lange gestorben.
    Du wirst am Kreuz verrecken.
    Rutger ist fortan tot.


    Und dann bekam er auf einmal wieder Luft. Gierig sog sein Körper sie ein, pfeifend strömte sie durch seine gequetschte Kehle, und fachte aufs neue den Funken seines beinahe verloschenen Lebensfeuers an.


    Severus wird leben.


    Wild sah der Germane um sich, in den weitaufgerissenen Augen den Irrsinn und das blanke Entsetzen. Und einen Augenblick lang war es, als würde der Abgrund den er gesehen hatte, den Zuschauern selbst aus dieses Augen entgegen starren, hungrig, grauenvoll - und geduldig, in dem Wissen dass am Ende keiner von ihnen ihm würde entrinnen können. Dann legte sich ein Schleier darüber, der Blick flackerte ins Leere, und ein dumpfes Stöhnen entrang sich der Brust des Germanen, der nun Severus sein sollte.
    Sie banden ihn los und zogen ihn hoch, doch er wurde aschgrau im Gesicht, hielt sich nicht auf den Beinen, und knickte einfach zusammen wie eine Marionette deren Fäden zerrissen sind. Und so mussten die Wächter ihn, als sich die ganze Karawane nun wieder auf den Rückweg machte, zu ihrem großen Ärger auch noch tragen. Worüber sie sich mit derben Flüchen austauschten, jedoch in gedämpftem Tonfall. Denn schließlich wollten sie nicht den Unmut des Herrn erwecken.

    Sie schleiften ihn zurück und legten ihn erneut in Fesseln, diesmal so fest, dass er kein Glied mehr rühren konnte. Doch die Raserei seines letzten Aufbäumens hatte Rutgers Kräfte ohnehin vollends erschöpft, er setzte sich nicht mehr zur Wehr, kniete schwer atmend auf dem Gras, von seinen Bewachern fest- und zugleich aufrecht gehalten. Ein feuchtes Husten drang tief aus seinem Brustkorb. Wie von weit her hörte er Spott, spürte er auf sich hämisch die Blicke der Sklaven der Flavia, denen er früher seine Verachtung für sie, als feige Speichellecker der Römer, deutlich bezeugt hatte. Nun hatten sie ihrerseits Grund auf ihn herabzusehen, doch Rutger, an einem Punkt angelangt, an dem ihm sein zerfasertes und zerfranstes Selbst zu entgleiten und sich in Nichts aufzulösen drohte, war jenseits der Sorge sein Gesicht zu wahren, und es kümmerte ihn kaum. Er wollte einfach nur – leben! Existieren!
    Nach langer Zeit trat Aquilius an ihn heran. Die Hände der Bewacher lösten sich von Rutger, der ein Stück in sich zusammensank, dann wieder das schweißnasse und von Qual verzerrte Gesicht zu dem Flavier hob, als dieser die Frage stellte: Warum?


    Darauf wußte Rutger keine Antwort. Es hätte wohl der Beredsamkeit des Rabengottes selbst bedurft, um überzeugend zu leugnen was er getan hatte, doch dieser stand ihm nicht bei, ebensowenig wie bei Rutgers letztem Kampf. Er suchte mühsam nach Worten, formulierte sie schleppend mit ausgedörrter Kehle.
    "Ich wollte...", sagte er dumpf, "bei allem was ich getan habe... ich wollte doch immer nur frei sein.... Das ist kein Mann von Ehre, der nicht versucht das wiederzugewinnen was ihm geraubt wurde... sondern nur ein Hund, der die Hand seines Kerkermeisters leckt. Und Deine Leute stahlen mir das wertvollste von allem. Ich aber war der Sohn eines Rich, und ich habe immer gekämpft...."
    Ein schwerer Atemzug hob seine Brust. Er senkte zerrüttet den Kopf, und als er weitersprach war seine Stimme kaum noch lauter als das Lied der Zikaden.
    "Aber ich kann nicht mehr. Ich habe meinen Schild verloren. Ihr habt mir alles genommen Stück für Stück... ich bin hohl und leer... Aber ich will immer noch leben, Flavius Aquilius, ich weiß nicht warum... - Was nützt Dir denn schon mein Tod - eure Sklaven sind doch ohnehin in Angst und Schrecken vor euch, und haben nicht den Mut sich aufzulehnen. Doch wenn Du mir mein Leben gewährst, werde ich Dir ein treuer Kämpfer sein. Und das ist mehr wert für Dich... mehr als das hier wert sein kann..."
    Mit einer abgehackten Kopfbewegung bezeichnete Rutger bei diesen Worten das Kreuz, dann irrte sein Blick wieder zu Aquilius und heftete sich mit fiebriger Intensität auf ihn – Panik flackerte in den graugrünen Augen, bodenlose Verzweiflung und zugleich doch ein Funken wahnsinniger Hoffnung dem ausweglosen Netz der Nornen und seinem Untergan doch noch irgendwie zu entkommen, und sei es durch so etwas absurdes, widersinniges und niemals dagewesenes wie die Gnade eines Römers...

    Der leichte Wind kühlte Rutgers Stirn, und ließ sanfte Wellen durch das Getreidefeld laufen. Er roch den Duft von Sommerblumen, es erinnerte ihn an den Tag nach dem großen Unwetter, als er mit Arrecina in den Bergen gewesen war, in einem sonnendurchglühten Hochtal, sie schlief und er sah ihr dabei zu... das war kurz bevor Flavius Aristides sie einholte.
    Rutger hustete und sah starren Blickes in die Ferne. Dies waren die letzten Momente seines Lebens. Alles war weit weg und unwirklich, zugleich waren seine Sinne geschärft und ließen ihn seine Umgebung extrem intensiv wahrnehmen, als wolle er diesen Moment ganz tief in sich aufnehmen, ihn trinken und von ihm zehren in den Qualen und in der Leere, die ihn erwarteten. Die Welt war schön und sie würde ohne ihn weitergehen, genauso wie bisher.
    Am Rande nahm er wahr dass Aquilius ihm zunickte - und hatte er nicht soeben gar versucht ihm Trost zu spenden? Wie seltsam... Nebenbei fragte Rutger sich ob der Flavier das hier wohl gerne tat - er machte nicht den Eindruck. Vielleicht waren sie alle in einer Kette von Ereignissen gefangen, in der niemand eine Wahl hatte... und niemand jemals Schuld trug... ein wirrer Gedanke... er hatte für die Freiheit seines Volkes gekämpft, Aristides hatte sich an ihm für den Überfall gerächt, er hatte versucht seine Freiheit zurückzugewinnen, und Aquilius musste nun Arrecinas Ehre rächen, was den Tod für ihn bedeutete. Oder wahrscheinlich trug die Schuld einfach der, der unterlag.


    Es ging alles seinen Gang. Der gesittete Teil war wohl vorbei. Hände griffen nach ihm, zogen ihn zurück, drückten ihn hinunter auf das Kreuz. Er folgte mit hölzernen Bewegungen, als wäre das Leben schon aus ihm gewichen.
    Ich werde nicht schreien. Mein letzter Gedanke soll Arrecina gelten. Die Römer werden mich nicht schreien hören!
    Er lag auf den Balken, spürte wie die Ketten gelöst wurden. Ein letztes mal aufklirrend fielen sie zu Boden. Seine Arme wurden ausgebreitet, von kräftigen Händen auf den Querbalken gedrückt und festgehalten. Über ihm war der Himmel unglaublich blau. Die Sonne blendete. Ein Sklave begann, seinen rechten Arm mit einem groben Strick an den Balken zu fesseln. Auf einmal stieg eine Welle von Panik in ihm auf - dies war das Ende, er würde jetzt grausam krepieren, sie würden ihn vernichten, auslöschen, keine Spur würde von ihm bleiben...
    Rutger überlief ein eiskaltes Schaudern, er presste die Kiefer zusammen und versuchte ruhig zu atmen, ganz ruhig.
    Ich werde nicht schreien. Jeder Schmerz ist endlich. Ich bin ein Hallvardunge. Ich muss standhaft sein.
    Die Stimmen der Menschen um ihn herum verschwammen ineinander, wurden zu einem einzigen Murmeln und Summen in seinen Ohren. Ein Tropfen von kaltem Schweiß floss über seine bleiche Stirn.
    Zu seiner linken näherte sich der Sklave mit den Nägeln, er beugte sich herunter und ließ sich vom Aufseher leise erklären wo er sie ansetzen musste, damit sie gut hielten und das Fleisch nicht etwa ausriss. Einen der langen hässlichen Metallstifte setzte er an Rutgers Unterarm, suchte wohl die rechte Stelle und sah fragend zum Ausseher hinauf, der nickte bestätigend...


    Als die kalte Eisenspitze Rutgers Haut berührte und sich, wenn auch nur ganz leicht, da hineindrückte, war es um ihn geschehen. Genau wie in seinen Albträumen war das, und dieser letzte kleine Tropfen brachte das Fass zum Überlaufen - als wäre ein Damm gebrochen griff das blanke, nackte Entsetzen nach ihm, und tilgte restlos die Apathie, die ihn bisher geschützt hatte. Triumphierend starrte ihn der Abgrund an, die Kälte, das Vergehen, das gierige Nichts, dem er schon einmal nur um Haaresbreite entronnen war.
    "Nein...!", keuchte Rutger und bäumte sich unvermittelt auf. Seine letzten Kräfte flossen in dieses letzte Aufbegehren, und wie ein Tobsüchtiger entriss er sich den halbgeknüpften Fesseln und den haltenden Händen der Sklaven, die, nachdem er so lange fügsam gewesen war, gerade kaum damit rechneten.
    Alles geschah rasendschnell. Rutger packte den Nagel, schloss die Faust darum und schmetterte sie dem Sklaven zu seiner linken ins Gesicht. Es knirschte und der Mann fuhr zurück, griff benommen nach seiner Nase aus der das Blut schoss. Ein Sklave fasste Rutgers Schultern, versuchte ihn niederzuringen, ein anderer suchte seine Hände zu umklammern, doch der Germane kämpfte um sein Leben wie ein wildes Tier, biss, entwand sich, und kam auf die Füße. Als wäre die Welt zu einem Bild erstarrt sah er manche Gesichter der Umstehenden - Erschrecken stand darin, Überraschung oder Zorn.
    Fort, nur fort! Er dachte nicht, überließ sich blind der Wolfswut die ihn da gepackt hatte, und stürzte sich ohne Zögern auf den nächsten, der zwischen ihm und dem Entkommen stand - ein eher schmaler Haussklave war das, der erschrocken einen Schritt zur Seite machte.
    Doch im selben Moment schwang einer der Männer, ein stämmiger Glatzkopf, seine Keule. Ein wuchtiger Schlag traf Rutgers Rücken und Schulter, riss ihn von den Füßen und schmetterte ihn zu Boden.


    Das trockene Gras war plötzlich ganz nah vor Rutgers Augen. Er blinzelte benommen, schwarze Punkte tanzten um ihn. Mit einem Keuchen sog er die Luft ein, krallte die Hände in den Boden und versuchte sich wieder hoch zu stemmen. Ein dumpfer Schmerz pochte in seiner Schulter, und nur verschwommen sah er die Silhouetten von Menschen, schwarz vor der gleißenden Sonne... wie der Traum, genau wie der Traum.
    Rutger schloß die Augen und flüsterte leise etwas in der Sprache seines Volkes, dann waren da wieder viele Hände die ihn packten, ihn eisern und unnachgiebig zurück zum Kreuz ziehen wollten. Da zerbrach etwas in ihm. Langsam hob er den Kopf, sah mit leeren Augen zu Aquilius auf, und verzweifelt brachen die Worte aus ihm hervor:
    "Gnade. Lass mich leben!"

    Niemals hätte Rutger gedacht, dass der Flavier ihm das Zugeständnis einer Bestattung machen würde. Er wandte den Kopf, eine steile Falte des Mißtrauens zwischen den Brauen, und blickte Aquilius voll Unglauben an. War die Frage vielleicht nur wieder ein weiteres perfides römisches Spielchen? Seine schlimmste Angst war es, dass die Raben sein Herz in diesem fremden Land fressen würden, und er sich in einen ruhelosen Draug verwandeln würde, einen von Bosheit erfüllten Wiedergänger der den Lebenden nur Schaden wollte... Arrecina wußte das - hatte sie es Aquilius gesagt? Wollte der ihn bis zuletzt verhöhnen?
    Wehmütig dachte Rutger an den Julabend zurück an dem er Arrecina gebeten hatte seinen Leichnam zu verbrennen. Ungeheuer lebhaft erinnerte er sich an den Duft des Heus, das Gefühl ihrer heißen bloßen Haut auf der seinen, ihre wilden Pläne, Arrecinas verrücktes Versprechen, das ihn so gerührt hatte... alles vergangen, alles von der Realität eingeholt.


    "Feuer." , sagte er leise.
    Seine Kehle fühlte sich trocken und rauh wie ein Reibeisen an.
    Er schluckte und fuhr mit tonloser Stimme fort: "Laß mich verbrennen. Und die Asche in einen Fluß werfen. Oder in den Wind wenn er nach Norden weht."
    Er hoffte dass es ihm so gelänge den Weg in die Heimat zu finden, doch sicher war er nicht. Forschend sah er Aquilius in die Augen, suchte zu erkennen ob der das tatsächlich ernst meinte.
    Und einen seltsamen Moment lang fragte sich Rutger, ob er selbst in seiner Rache die Grausamkeit wohl mit ähnlichem Großmut paaren würde, gegenüber einem Feind, der eine Frau seiner Sippe geraubt hätte - oder gar seine Schwester Jorun - und kam zu dem Schluß, dass er so einen Neiding vor lauter Wut wahrscheinlich sehr viel schneller töten würde, dann aber dessen Aas eigenhändig den wilden Tieren vorwerfen würde!
    Es schoß ihm durch den Kopf, dass Arrecina zu dieser Überlegung bestimmt ungerührt sagen würde: "Da merkt man eben unsere kulturellen Unterschiede, Rutger." Ach Arrecina...
    Als die Sklaven sich an den Kreuz zu schaffen machten, irrte sein Blick unwillkürlich dorthin, dann zu der Schlinge, den Nägeln... ein Albtraum war das. Ein Albtraum der jetzt wahr wurde. Rutger spürte dass er bis ins Mark fror. Eine Ader pochte an seiner Schläfe und er schmeckte schal seine eigene Furcht. Die Ketten klirrten als er sich straffte, ganz aufrecht und stolz, und mühsam behielt er seine Ich-lache-dem-Tod-ins-Gesicht-Haltung bei.
    Doch immer schwerer fiel es ihm, diese Fassade unerschütterlichen Gleichmutes wenigsten einigermaßen zu wahren. Seit seiner Flucht hatte er schon oft in angsterfüllten Träumen diesen Moment erlebt, immer schrecklich, manchmal auch bizarr* - doch er war jedesmal aufgewacht bevor sie die Nägel in sein Fleisch schlugen. Diesmal gab es kein Erwachen.

    In Ketten hatte man ihn nach Rom gebracht, in Ketten verließ er die Stadt, um zu sterben. Die schweren Eisen umschlossen Handgelenke und Knöchel, sie schleiften und rasselten, knirschten und klirrten. Die Geräusche dröhnten in seinen Ohren, mischten sich mit dem Laut seines keuchenden Atems und seiner schweren, unregelmässigen Schritte auf dem Pflaster der Straße.
    Ausgezehrt durch die endlose Kerkerhaft, zermürbt durch den vernichtenden Fluch des Goden Flavius Gracchus, war Rutger schon längst am Ende seiner Kräfte, doch mit zusammengebissenen Zähnen schleppte er seine Last weiter, starrsinnig und verbissen. Vor den Römern durfte er nicht aufgeben, keine Schwäche zeigen. Es war das letzte was ihm noch blieb, den Skrälingen zu zeigen wie ein Sohn seines Volkes starb - aufrecht und furchtlos, sein Schicksal unerschüttert tragend. Unbeugsam! So musste es sein.
    Durch die Erschöpfung in eine Art von Trance gefallen, setzte er stur einen Fuß vor den anderen. Der Schweiß rann ihm in die Augen, und die Sonne blendete ihn. So lange hatte er nur Dunkelheit und Dämmerung gekannt. Kaum sah er seine Umgebung, und als sie schließlich ihr Ziel erreichten, musste der Aufseher ihm erst den Knüppel in die Seite stoßen, bevor er es wahrnahm.


    Er ließ das Kreuz von den Schultern gleiten. Krachend prallten die Balken, an den er bald sein Leben lassen sollte, auf das Pflaster. Rutger richtete sich auf, hustete, streckte dann seinen geschundenen Rücken. Sein Atem beruhigte sich langsam, er wischte sich mit den Händen über das schweißnasse Gesicht und sah, mit schmal zusammengekniffenen Augen auf die Kreuze, die hier an diesem Richtplatz am Rande der Straße standen. Ihr Holz war verwittert, manche standen schief oder waren schon umgestürzt, keine Spur war an ihnen geblieben von den Menschen, die daran gestorben waren. An einem in der Nähe sah man noch die großen Nägel aus dem Holz ragen, von rotem Rost überzogen.
    Beinahe körperlich drängte sich vor Rutgers Augen das Bild eines Gekreuzigten, den er einmal an einer Wegkreuzung in der Nähe von Colonia gesehen hatte... der Leib ganz bedeckt von einem Gewimmel von Krähen...als sie aufgeflogen waren, war da nur eine Masse von zerfetztem Fleisch gewesen. Ein Schwindel ergriff ihn, und auf einmal war da wieder dieser namenlose Schrecken den er doch im Carcer zurückgelassen glaubte, schnürte ihm die Kehle zu und wollte ihn in die Knie zwingen.
    Mit mahlenden Wangenknochen wandte Rutger sich ab. Warum konnte es nicht einfach schon vorbei sein?! Eine eisige Kälte kroch ihm in die Glieder.


    Auf der anderen Straßenseite erstreckte sich ein Feld von Gerste. Da heftete er den Blick darauf. Das Korn leuchtete golden in der Sonne. Fruchtschwere Halme wiegten sich sacht, und am Randes des Feldes glomm rot der Klatschmohn. Schön.
    Dann stand auf einmal Aquilius vor ihm. Ja, so endete es...
    Das Rot erinnerte Rutger an den Tag als er zum ersten Mal einen Mann erschlagen hatte - einen Krieger der Hermunduren, dessen Blut war genauso rot gewesen, als Rutger es vergoss. Erinnerungen bestürmten ihn. Der Schatten einer Pinie, scharf und am Rande etwas bläulich, war wie die Schatten der Tannen auf der Lichtung, wo er einmal mit Sigmar nach der Jagd gerastet hatte... er schmeckte förmlich noch das frische Fleisch, dass sie damals gebraten hatten. Eine Frau unter den Zuschauern sah neugierig herüber und spielte dabei mit ihrem Zopf, genau wie die kleine Keltin, die er sich einmal bei einem Überfall gefangen hatte...
    All das endete jetzt. War vorbei und nichtig. Aquilius direkt vor ihm schien sehr weit weg zu sein. Sollte er ihn nicht anspringen, verfluchen, wenigstens versuchen ihn mit den Ketten zu erwürgen? Rutger war es, als stünde er neben sich, durch einen dumpfen Nebel von der Welt getrennt. Wozu noch kämpfen... alles endete hier. Ein Schatten von Trauer glitt über sein erstarrtes Gesicht, doch er antwortete mit rauher Kehle: "Was soll's!" , und zuckte hartgesotten die Schultern.


    Es war ein strahlender Sommertag. Das Pflaster der Via Appia glänzte in der Sonne, die schon zu dieser frühen Vormittagsstunde heiß vom Himmel herunterbrannte, als wolle sie die liebliche Landschaft, die sich zu den Seiten der Straße erstreckte, ausdörren und versengen. Die Grabmäler entlang des Weges zeichneten sich eindrucksvoll gegen den leuchtendblauen Himmel ab, und warfen scharfumrissene Schatten.
    Pfeilgerade führte die Straße bis zum Horizont, und nur vereinzelt waren Menschen zu sehen, die sich langsam, träge durch die Hitze, dort entlang bewegten. Allgegenwärtig war das Lied der Zikaden, eintönig und schläfrig schwebte es über den lichtdurchfluteten Gefilden.
    Da näherte sich von Rom her eine größere Gruppe von Menschen. Auch eine Sänfte war dabei. Schon von weitem war auszumachen, dass einer der Männer ein Kreuz auf dem Rücken trug. Gebeugt und taumelnd schleppte er die schweren Balken, die ein großes T bildeten, umringt von anderen die ihn vorwärtstrieben.
    Zwei Bauernmädchen, die am Strick eine Ziege mit sich führten, blieben neugierig stehen und betrachteten den sich nähernden Zug, traten dann an den Straßenrand und bestaunten sein Vorüberziehen.


    Ketten rasselten bei jedem Schritt des Verurteilten. Es war ein sehr großer und breitschultriger Mann von wahrhaft barbarischem Aussehen, totenbleich, schmutzig und mager. Viele Narben trug er, und sein blondes Haar so wie sein Bart waren ganz verwildert. Schweißgebadet, das Gesicht starr wie eine Maske aus Stein, kämpfte er sich vorwärts. Immer wieder schienen die schweren Balken ihn zu Boden drücken zu wollen. Er hustete, wankte, schien zu fallen und fing sich doch wieder. Die Adern traten an seinen sehnigen Armen hervor und sein Atem ging keuchend, als er sich mühsam aufrecht hielt und das Kreuz weiter zerrte, Stück für Stück.
    Einige kräftige Männer folgten, sie trugen Knüppel in den Händen und trieben den Verurteilten weiter wenn es ihnen zu langsam ging. Auch sie schwitzten in der Sonne, und tauschten immer wieder Flüche über die Hitze aus, und über den verdammten Germanen wegen dessen Starrsinn sie sich die Mühe hier machen mussten - aber nur halblaut. Anscheinend wollten sie nicht, dass ihre Worte bis zu der Sänfte drangen, die einige Schritt hinter ihnen, auf den Schultern ihrer Träger ruhend, folgte.


    Beim Anblick dieses eleganten Fortbewegungsmittels machten die Bauernmädchen große Augen. Golden blitzte das Wappen mit dem Caduceus-Stab auf dem kostbaren Holz. Neugierig versuchten die Mädchen einen Blick ins Innere zu erhaschen, doch durch die edlen Vorhänge hindurch konnten sie nichts erkennen.
    So schlossen sich die beiden, in der Erwartung noch mehr zu sehen zu bekommen, der bunt gemischten Gruppe an, die sich an die Fersen des Zuges geheftet hatte - teils Schaulustige, die gespannt auf die Hinrichtung waren, teils Sklaven denen es, wie ihrem unzufriedenen Gemurmel zu entnehmen war, zu ihrem eigenen Besten befohlen worden war dabei zuzusehen.
    Schon tauchten in der Ferne zwischen den Pinien die Umrisse von Kreuzen auf. Stetig hielt der Zug darauf zu.

    Das Gemüt weiß allein, das im Herzen wohnt/
    Und seine Neigung verschließt/
    Dass ärger Übel den Edlen nicht quälen mag/
    Als Liebesleid.


    Getroffen zog Rutger die Hand zurück, vor der Arrecina zurückgewichen war, und mit aller Kraft ballte er sie zur Faust zusammen.
    Es war besser so. Aber es fühlte sich an als würde ihm das Herz aus der Brust gerissen. Stumm, und mit mahlenden Wangenknochen sah er in Arrecinas Gesicht, nur ein etwas hellerer Fleck in der Dunkelheit, als sie zurücktrat.
    Du hättest nicht hierher kommen sollen, dachte er, und laut - und beinahe streng - sagte er:
    "Du sagst, Du kannst es nicht, Kleines. Du wirst es aber müssen. Und Dir muss gar nichts leid tun - gar nichts! - glaub mir das."
    Ich liebe Dich!, schrie es verzweifelt in ihm, Oh bei Frowe Hulda und Freya der Schönen, könnten wir doch nur...!, Wäre es doch möglich...!
    Doch die düstere Gewissheit dass es mit ihm bald vorbei sein würde, ließ dieses Flehen nur töricht erscheinen.


    "Die Nornen weben das Schicksal. An uns ist es, es zu tragen.", murmelte Rutger leise zu sich selbst, in seiner Muttersprache, und kämpfte gegen die Gefühle die wiederum so machtvoll in ihm aufwallten, und die Worte, die sich über seine Lippen drängen wollten - Liebesschwüre, Bedauern, Erinnerungen an die äußerst kurze Zeit, die er mit Arrecina gemeinsam gehabt hatte... - Es war unnütz. Alles war doch schon gesagt.
    "Lass Dich nicht unterkriegen, Kleines."
    Seine Stimme war rauh und voll Wärme. Er trat vom Gitter zurück und verschwand in der tiefschwarzen Dunkelheit der Zelle.
    "Leb wohl, Arrecina."

    Rutger verstand Arrecina nicht. Er hatte ihr die schlimmsten Dinge gesagt! Doch sie beharrte. Wie konnte das sein?
    Frauen liebten die Sieger, nicht die Besiegten, das war doch allgemein bekannt. Was fand sie denn noch an einem todgeweihten Unfreien?
    "Arrecina...", seufzte er, und trat langsam wieder näher heran.
    "Du bist tapfer, das weiß ich. Du willst Dich nicht damit abfinden. Das ging mir am Anfang auch so. Aber hier unten... hier zeigen sich die Dinge nackt und hässlich wie sie wirklich sind. Da kann man sich nicht lange einer Täuschung hingeben. Und Du solltest nichts versprechen dass Du nicht halten kannst."
    Kurz vor der Türe hielt er inne, sah in der Dunkelheit nur undeutlich wie sie ihre Stirn an das Gitter lehnte. Diese Geste, die ihr innewohnende Traurigkeit, griff ihm ans Herz, dass er wirklich meinte es müsse gleich zerspringen.
    Bewegt sah er sie an, antwortete dann leise: "Du machst es doch nur schwerer...... ach Arrecina!"
    Und seiner Vorsätze untreu wand er eine Hand durch das Gitter, berührte ihren Scheitel und strich ihr zärtlich über das Haar, dann über die Wange wo er verharrte. Warm und zart war ihre Haut. Unter seinen Fingern meinte er förmlich spüren zu können wie ungestüm das Leben in ihr pulsierte. Schön.


    "Ich liebe Dich.", murmelte er, aufs neue von dieser kleinen Römerin, die seine Liebe und sein Verhängnis zugleich war, vollkommen überwältigt.
    "Ich bin Dir ganz verfallen, Arrecina, das weißt Du doch... Auch wenn's verrückt ist. Aber nein, ich bin nicht glücklich damit wie es gekommen ist..." - er zog ein schiefes Grinsen und fuhr treuherzig fort: "...mir wär's doch deutlich lieber wir hätten es geschafft, letzten Sommer... - Aber ich verstehe schon was Du meinst. Das ist etwas ganz Besonderes mit uns. Es ist für mich... hm, das ist jetzt schwer zu sagen in euerer Sprache..."
    Immerhin war es dunkel. Da kamen solche Dinge Rutger leichter von der Zunge als im Lichte des Tages, wo sie, hell und schonungslos beschienen, viel zu schnell rührselig, ja, weinerlich wirkten.
    "Unsere Liebe war für mich in meinem Leben das Allerkostbarste und Schönste und Erhabenste was mir passiert ist... auch wenn wir uns am Anfang unter, ich sage mal nicht den besten Umständen kennengelernt haben. Aber manchmal wachsen eben auf dem Mist die schönsten Blumen - also wenn Du verstehst was ich meine..."
    'Was für ein banaler Vergleich' scholt sich Rutger. Seine flache Hand streichelte Arrecinas Wange unendlich zärtlich, während er traurig aber gewiss fortfuhr:
    "Und gerade deshalb musst Du mich loslassen, Kleines. Denn Du gehörst dem Leben an, und das ist gut so. Du musst stark sein und... leben."
    Er atmete tief ein und schloss rauh:
    "Und deshalb solltest Du jetzt... wirklich gehen!"

    Wie viele Tage noch vergingen hätte Rutger nicht sagen können. Erschöpfung und eine dumpfe Teilnahmslosigkeit hatten von ihm Besitz ergriffen. In einem seltsamen Dämmerzustand erlebte er die verstreichende Zeit verschwommen und losgelöst. Der Schrecken des Bevorstehenden zehrte erbarmungslos an dem, was er noch von sich selbst bewahrt hatte, obschon gedämpft durch die Apathie, die sich schwer über ihn gelegt hatte – wie eine bleierne Last, und doch beinahe tröstend.
    Wozu noch kämpfen? Wozu noch aufbegehren? Er war am Ende und hatte nicht mehr Macht über sein Schicksal als ein Stück Treibholz in den Fluten.
    Ständig war er unter strenger Bewachung; niemand fand mehr den Weg in sein Verlies. Doch Träume entrückten ihn von dort, mal sah er sich bei seiner Hinrichtung und erwachte panisch in dem Moment als die Nägel in sein Fleisch fuhren, mal war er zurückgekehrt in seine geliebte Heimat, durchquerte Wälder, überwand Berge und Ströme um zuletzt seine Sippe wieder zu finden. Nur schemenhaft erschienen ihm ihre Gesichter, er sah sie von ferne und konnte nie ganz zu ihnen gelangen.


    Der Husten, der sich in dem feuchten Kellergewölbe in seinen Lungen festgesetzt hatte, plagte ihn hartnäckig. Manches Mal dachte er mit einer grimmigen Genugtuung, dass es wohl eine Enttäuschung für die Römer sein müsse wenn er hier unten daran stürbe und sie so um ihr Schauspiel gebracht wären.
    Sein Leben selbst zu beenden kam ihm in den Sinn. Er zerschlug den Tonkrug in dem man ihm Wasser brachte, nahm eine lange scharfe Scherbe zur Hand und erwog, sich damit die Adern zu öffnen. Doch der Gedanke erschien ihm so unsäglich feige, dass er ihn wieder verwarf.
    Für lange Zeit versank er in der Betrachtung seiner Hand. Sie war sehr schmutzig, mit abgebrochenen Fingernägeln, und eine Narbe – die er Arrecina verdankte – zog sich quer über den Handballen. Aber niemals vorher war ihm aufgefallen was für ein phantastisches, ausgeklügeltes Ding so eine Hand eigentlich war. Er krümmte die Finger, beobachtete fasziniert das Spiel der Sehnen und Muskeln unter der Haut. Was die Götter da so vollkommen geschaffen und aufeinander abgestimmt hatten, würde bald nur noch Fraß sein für die Raben – oder, wenn er Glück hatte, für die Flammen – und das schien ihm eine sinnlose und traurige Vergeudung.


    Eines Morgens kamen sie dann um ihn zu holen. Durch das Gitterfenster sickerte eine Ahnung von fahlem grauem Licht und zeigte Rutger die stumpfen Gesichter der Sklaven als sie herein traten mit Knüppeln und Ketten. Ihm war als wäre er einen Schritt aus sich herausgetreten, würde nun neben sich stehen und wie ein Unbeteiligter alles beobachten was da mit ihm geschah.
    Sie schlossen ihn in die schweren Eisen. Er setzte sich nicht zur Wehr. Sie führten ihn hinaus. Er ging zwischen ihnen, die Ketten schabten über den Boden. Nach außen war er ganz unbewegt. Er hoffte, dass er es mit Anstand hinter sich bringen würde.

    Der Römer war fort. Die Hände um das Gitter gekrallt stand der zum Tode verurteilte noch einen Moment lang aufrecht, dann sank er zu Boden und vergrub das Gesicht in den Händen.
    "Nein…" flüsterte er verzweifelt. "Nein…"
    Seine Stimme verlor sich in der Schwärze des Carcers. Die Unfassbarkeit des Gesagten lähmte ihn.
    Sterben. Vergehen. Verrotten. Das Kreuz. Die Raben. Das Kreuz! Kein Ausweg mehr. 'Zukunft'! 'Träume'! Hohn! Nur noch Folter und Tod…
    Doch er spürte nicht mal mehr Wut auf den Flavier, auch keinen Hass, da war nur eine große dumpfe Leere. Und die Angst, die ihn würgte.
    "Nein…" keuchte Rutger. Die Furcht durchdrang ihn, wollte das was noch von ihm übrig war davontragen, ihn auflösen und vernichten. Zitternd schlang er die Arme fest um die angezogenen Beine, presste das Gesicht auf die Knie, versuchte langsam und ruhig zu atmen.
    Sterben… 'Für uns ist er schon lange gestorben'… Was würde Lingwe tun wäre er an meiner Stelle… gar nichts… es gibt nichts mehr zu tun… 'Du wirst am Kreuz landen' hat Arrecina mir damals gedroht… sie wird recht behalten… und dann wollte sie mir helfen, mich schützen… vergeblich… Am Ende ist alles vergeblich.
    Unendlich weit weg schien ihm Arrecina, als er an sie dachte. War sie denn wirklich bei ihm im Carcer gewesen, hatte er sie berührt, gespürt, oder war es nur einer seiner wirren Träume gewesen? Seine Liebe, oder verrückte Leidenschaft war ihm in diesem Augenblick ebenso fern wie der Hass auf den der seinen Tod beschlossen hatte.


    Alles endet. Bleibt unvollendet. Vielleicht bin ich wirklich schon tot. Getötet durch Flavius Aristides in der selben Nacht wie Gytha. Erfroren auf einem Alpenpass. Verblutet auf einer Halde von Geröll. Oder verzehrt von den Unterirdischen, hier in diesem Gefängnis… Bin gestorben und nun ein Widergänger… und denke bloß, dass mir dies alles passiert…
    Die Kälte des Verlieses durchdrang ihn bis ins Mark. Er griff nach der alten Decke und zog sie sich eng um die Schultern, vergrub sich darin als wäre der zerlumpte Stoff ein Schutz gegen das Verhängnis und das Entsetzen.
    "Wenn etwas ist, gewaltiger als das Schicksal/
    So ist's der Mut, der's unerschüttert trägt."

    Leise und monoton flüsterte er die Worte vor sich hin, suchte in dem kühnen Wahlspruch seiner Sippe nach einem Halt. War er nicht Tiwaz' Spross? Hatte er nicht den Römern durch sein Beispiel gezeigt, dass ein Chatte sich niemals unterwarf? War er nicht standhaft und unbeugsam geblieben?
    Schal schmeckten diese Gedanken in Angesicht des Todes. Im Grunde wollte Rutger nur noch eines – endlich alles hinter sich haben!

    Sie war noch da. Im Dunkeln an den kalten Stein der Mauer gelehnt, griff sich Rutger an die Stirn, schüttelte heftig den Kopf. Er konnte – er durfte doch Arrecina nicht mit sich ins Verderben ziehen!
    "Kleines.", erklärte er bemüht nüchtern. "Deine Leute wissen Bescheid über uns. Sie werden mich umbringen. Das ist nun mal so. Niemand wird uns helfen. Ich… es ist mir ein unerwartetes und unverdientes Geschenk dass Du noch immer an uns glaubst! Aber Du solltest Dir nichts vormachen Arrecina. Die Götter sind gegen uns. Es ist nun mal vorbei. Ich… ich würde mir wünschen dass Du Dich rettest. Dass Du mich vergisst… na ja, vielleicht nicht ganz. Aber ich will nicht der Grund sein dass Du traurig bist. Und Du wirst schon jemand anderen finden."


    Allein bei der Vorstellung seiner Arrecina in den Armen eines Anderen überlief Rutger eine Woge glühender Eifersucht. Trotzdem sprach er weiter, verfolgte halsstarrig den Weg den er als am besten für Arrecina befunden hatte.
    "Weißt du es denn noch immer nicht? Ich habe Dich entführt, nicht aus Liebe sondern um mich an Deinem Vater zu rächen. Zuerst wollte ich Dich töten. Das ist mir nicht gelungen. Aber ich habe Deine Unschuld geraubt. Mit Gewalt meine ich. Unsere Liebe ist das absurdeste Ding auf der Welt!"

    Nortruna sprach Rutger aus der Seele, und er war stolz, dass sie, eine junge Frau seines Volkes, so viel Mut und Kampfgeist in sich trug.
    "Ja. Lachhaft. Genau.", stimmte er zu und prophezeite:
    "Aber die Zeit wird kommen wenn die Stämme sich wieder erheben. Und wenn wir beim nächsten Mal nicht wieder den Fehler machen, den verräterischen Hundsfötten von Hermunduren zu vertrauen – Schande über sie, mögen Garms Fänge sie zerfleischen und Nidhöggs Gift sie verzehren! - dann werden uns die Römerstädte in unserem Land, satt und vollgefressen wie die sind, geradezu in den Schoß fallen! Und dann werden wir abrechnen, und die Skrälinge ein für alle mal dahin zurückjagen, wo sie hergekommen sind! Oder gar den Spieß umdrehen und in ihre Heimat einfallen! Dieses Land hier quillt ja über vor Schätzen…"


    Grimmig ballte Rutger die Fäuste und wünschte sich, an diesem Festtag dabei zu sein. Plündernd und brandschatzend in Rom einzufallen – was für eine traumhaft schöne Vorstellung! Die allerdings, vernünftig besehen, natürlich nur ein Wunschtraum bleiben konnte… Aus dem ihn Nortrunas Frage unangenehm weckte.
    "Ich weiß es nicht.", antwortete er leichthin.
    "Sie sagen mal dieses mal jenes… Man wird sehen. Aber Du, weißt Du was sie mit Dir vorhaben? – Und sag, von wo kommst du denn genau, weißt du das noch? Also ich bin aus dem Hlodfyrgau, mein Vater war dort der Drichten. Später haben wir an der Wirraha gelebt, in der Nähe der Hamingjasteine. Die kennst Du doch bestimmt! Vielleicht sind wir uns ja schonmal begegnet, früher, bei den Sonnwendfeiern dort!"

    Wie aus weiter Ferne drang der Urteilsspruch zu Rutger.
    Das Kreuz.
    Und obwohl dieses Urteil mitnichten überraschend kam, obwohl er ein mutiger Mann war und in langen, endlosen Stunden versucht hatte, sich gegen den Schrecken dieses Momentes zu wappnen, umfing ihn schlagartig eine entsetzliche Furcht. Eine kalte Hand, die sich um das Herz legt, die erbarmungslos zudrückt.
    Das Kreuz.
    Die grausamste Todesart die die Römer ersonnen hatten. Seine Fingerknöchel wurden weiß, als seine Hände sich krampfhaft um die Eisenstäbe krallten, ihn so aufrecht hielten. Er wollte nicht wanken, nicht vor dem Römer. Starr erwiderte er Aquilius' Blick, benommen, die nackte Angst flackerte in seinen Augen. Mehr denn je erinnerte der Germane in diesem Moment an ein in die Enge getriebenes Tier.
    Das Kreuz.
    Eine Marter, die die tapfersten Männer in jämmerliche, zuckende Fleischbündel verwandelte. Schwer hob und senkte sich Rutgers Brust, und er verspürte eine seltsame Art von Unglauben, dass ihm das hier tatsächlich passierte, das ihm nun wirklich genau das widerfahren sollte, was er am meisten gefürchtet hatte, und dass es ganz unabänderlich war.
    Das Kreuz.
    Er schloss die Augen. Vor ihm stiegen die Bilder seiner Heimat auf, die endlosen Wälder, die schweigenden Seen und nebelverhangenen Berge die er niemals wiedersehen sollte. Nimmer. Er öffnete sie wieder und sah zermürbt durch Aquilius hindurch ins Leere.
    "Ich habe... von euch nichts anderes erwartet.", antwortete er dann tonlos. Mühsam entrangen sich die Worte seiner zugeschnürten Kehle, und aus seiner Stimme war jedes Leben gewichen.
    "Lass mich allein."

    "Niemals habe ich diesem Hexer irgendwas gesagt!", widersprach Rutger empört.
    "Gar nichts! Kein Sterbenswörtchen! - Aber ja, sie wissen es, woher auch immer..."
    Seine rauhe, kalte Hand fand die ihre an den Gitterstäben, und er umfasste sie sanft.
    "Kleines, wie kann das sein dass Du mich noch liebst? Euer Gode hat das Band zwischen uns zerrissen, und sein Zauber war von großer Macht. Er warf mich den Unterirdischen zum Fraße vor, und sie zehren mich auf, hier an diesem lichtlosen Ort..."
    Vorsichtig, andächtig, hielt er Arrecinas Hand, fühlte ihre Wärme, ihre Feinheit, das Leben darin... so unwirklich hier in diesem Hort seiner Gefangenschaft und seines Verfalls. Er beugte sich vor, näherte sich dieser Hand, hielt dabei gebannt den Atem an, und war darauf gefasst, dass das süße Hirngespinst sich sogleich wieder in Luft auflöste... doch es bestand, und vorsichtig streifte er die weiche Haut mit seiner stoppeligen Wange, presste auf einmal die schrundigen Lippen in einem wilden und verzweifelten Kuss auf Arrecinas zarte Hand.


    "Du musst gehen, Kleines!"
    Seine Worte waren ein gequältes Aufkeuchen; vollkommen hoffnungslos fuhr er fort:
    "Es ist vorbei! Ich werde nicht nochmal entkommen, das weiß ich... Ich liebe Dich, Kleines, ich liebe Dich rasend, aber Du musst gehen und mich vergessen. Ich werde vergehen, unweigerlich... und ich will nicht dass Du Dich unnötig grämst. - Es gereut mich sehr was ich Dir angetan habe."
    Sanft strich er mit dem Daumen über ihren Handrücken, ganz langsam und zärtlich, dann ließ er widerstrebend ihre Hand los und trat fort von den Gitterstäben, wurde vom Dunkel der Zelle verschluckt. Da überkam ihn wieder dieses erbärmliche Husten, es schüttelte ihn und hallte rasselnd von den feuchten Wänden wieder. Er hielt sich an der Mauer aufrecht, schöpfte mühsam wieder Atem, und hoffte - und fürchtete zugleich noch viel mehr - nun das Geräusch sich entfernender Schritte zu hören...

    Eine steile Falte trat zwischen Rutger Augenbrauen. Ein Bad, Nahrung! Das war doch der blanke Hohn! Natürlich konnte er sich gerade nichts schöneres vorstellen, und natürlich würde Aquilius nicht im Traum daran denken, ihm diese Dinge wirklich zu gewähren. Da hätte er ja verrückt sein müssen! Mit einer abfälligen Kopfbewegung tat er das Thema ab, wollte sich nicht auf weitere perfide Spielchen von Hoffnung und unweigerlich darauf folgender Enttäuschung einlassen.


    "Du kennst nicht meine Heimat! Du hast keine Ahnung wie wir leben - und vor allem wozu mein Volk und die anderen Stämme fähig sind!!", fuhr er dann wütend auf.
    "Ihr Römer seid doch solche Narren! Ihr überschätzt euch maßlos! Euer dekadentes Zeugs brauchen wir nicht und wollen wir nicht! Ihr seid weichlich und entartet, ihr glaubt keiner würde Euch mehr die Stirn bieten. Aber da täuscht ihr Euch! Im Grunde seid ihr schwach, wenn ihr siegt dann einzig durch eure Masse, durch List und Ränkespiel! Eure Soldaten sind ja so feige, dass sie sich nicht mal in den Kampf wagen, wenn sie sich zuvor nicht dick mit Metall umhüllt haben!"
    Rutger schnaubte verächtlich und spie aus, um zu demonstrieren was er von solcher Hasenherzigkeit hielt. Ein bedrohlich über die Wand huschender Schatten zog plötzlich seinen Blick auf sich, er beäugte ihn unruhig und verlor darüber den Faden.
    "...genau."
    Er fuhr sich über die Stirn, befeuchtete nervös die trockenen Lippen mit der Zunge und starrte Aquilius aus rotgeränderten Augen momentan verunsichert an.


    "Niemals werden wir uns beugen.", kam es dann wieder, beinahe automatisch, wie ein Mantra, von seinen Lippen.
    "Niemals. Und ich werde auch nicht vor Dir kriechen... Nein. Sowieso bin ich verloren. Die Unterirdischen. Und erzähl mich doch nicht Du wolltest mich ernsthaft am Leben lassen. Das ist doch schwachsinnig... ich meine so schwachsinnig bin ich nicht, Dir das zu glauben. Dieses Spiel hat schon Flavius Aristides mit mir getrieben. Ich hab es satt. - Zwischen unseren Völkern ist Krieg. Am Ende hat keiner eine Wahl. Ich weiß nicht wovon Du sprichst, von was für 'Alternativen', aber eines weiß ich genau..."
    Kaum stockend übersetzte er den Stabreim ins Lateinische:
    "Vieh stirbt, Freunde sterben/
    Ebenso stirbt man selbst/
    Doch eines weiß ich, das immer bleibt: /
    Das Urteil über den Toten."


    Und nimmer mag ihm der Nachruhm sterben/
    Welcher sich guten gewann.

    Ob der letzte Vers allerdings auf ihn zutraf, da war sich Rutger nicht sicher.
    "Also was wirst Du mit mir machen?", fragte er schließlich geradeheraus. Finster fixierte er den Römer, den das widrige Nornenwerk zum Richter über ihn aufgeschwungen hatte, und verlangte bestimmt:
    "Sag es mir. Ich will es endlich wissen!"
    Äußerlich unbewegt erwartete er die Antwort - das Urteil, während in ihm alles schrie:
    Nicht das Kreuz! Nur nicht das Kreuz! Ihr Asen und Wanen, Fro Ingwe und Frowe Hulda, lasst es bitte nicht das Kreuz sein!

    Dunkelheit. Stille. Regungslos saß Rutger auf dem Boden seines Gefängnisses, die alte Decke fest um die Schultern gezogen, den Rücken an die Wand gelehnt. Er lauschte. Starrte mit weit geöffneten Augen ins Dunkle, völlig übermüdet, und horchte angespannt. Auf das Scharren ihrer Klauen auf dem Stein. Auf das hungrige Wispern des Windes, den sie mit sich brachten. Auf das dunkle Grollen, wenn sie ihn umschlichen, belauerten. Er durfte nicht einschlafen. Nur nicht die Wachsamkeit erlahmen lassen! Noch hielt seine Acht sie fern. Die Unterirdischen, die sich an ihm laben wollten...
    Sein Atem ging rauh, mühevoll, immer wieder von Husten unterbrochen. Dann war da noch ein anderes Geräusch. Leichte Schritte. Ein Vorüberstreichen an der Wand. Arrecinas Stimme!


    "Du...?", flüsterte Rutger ungläubig, fürchtete einem listigen Trug der Unterirdischen anheim zu fallen.
    "Bist Du das.... Arrecina?! Ja. Ich bin noch hier."
    Die Decke fiel auf den Boden, als er sich erhob, und langsam der vergitterten Öffnung in der Türe näherte.
    "Arrecina...." , flüsterte er leise, wie beschwörend, "Arrecina... Kleines... bist Du in Ordnung?"
    Seine Hand schloß sich um einen Eisenstab und angestrengt spähte er nach draußen, versuchte in der Dunkelheit ihre geliebten Züge zu auszumachen.
    "Ich habe so gehofft dass Du kommst..." murmelte er aufgewühlt, dann wurde seine Stimme mit einem Mal kühler:
    "Aber ich habe es nicht mehr geglaubt. Erinnerst Du Dich nun? Hast Du uns deshalb verraten?"

    Unglauben, Enttäuschung und ein schmerzliches Nicht-glauben-wollen spiegelte sich unverhohlen in Rutgers schmutzigen Zügen. Arrecina selbst hatte es Aquilius verraten?! Er war nur ein... Abenteuer für sie?! 'Es tut mir leid' hatte sie ihm stumm zu verstehen gegeben. War es das, was sie damit gemeint hatte?
    Zudem verwirrte ihn die Gelassenheit, mit der Aquilius von dieser Angelegenheit sprach, masslos. Er hatte ja mit eigenen Augen gesehen, wie sittenlos und verworfen die Römer sich gebärdeten - aber dass sie scheinbar nicht mal was daran auszusetzen hatten, wenn ihre jungen Frauen mit den Unfreien anbändelten, das fand Rutger doch sehr bedenklich, und den Gipfel der Unmoral!
    Er löste den Griff vollends und ließ die Hand wieder sinken. Ein bitteres Grinsen trat in sein Gesicht, als ihm auffiel, dass Aquilius nun tiefer atmete, und abfällig bemerkte er: "Raubt Dir der Gestank den Atem, Flavius Aquilius? Beleidigt er Deine römische Nase? Tja weißt Du, man gewöhnt sich dran."


    Das Gefühl, dass Aquilius nur gekommen war, um ihn zu verhöhnen wurde bei dessen letzter Frage zur Gewissheit.
    "Was?" fragte Rutger entgeistert. "Du willst wissen wovon ich geträumt habe, früher? Du kommst nach... nach endlosen Monden, die ihr mich hier unten habt verrotten lassen, und willst mit mir plaudern über - Träume?! Wer sagt Dir denn, dass ein Barbar, ein Sklave in Deinen Augen, sowas überhaupt kennt?"
    Mit einem Wiederaufflackern seines alten Kampfgeistes starrte er Aquilius eindringlich in die Augen und sprach hochmütig zu ihm:
    "Ich will Dir sagen wovon ich geträumt habe: von einem Freien Germanien! Von meiner Heimat, befreit vom Joch eurer Truppen und eurer blutsaugenden Parasiten von Statthaltern! Von einem Land, in dem es überhaupt erst möglich ist, sich diesen beschaulichen kleinen Träumen zu verschreiben, von denen Du gesprochen hast."
    Er hustete feucht, spie aus, und schloß mit ungebrochenem Stolz:
    "Und, bei Ziu, ich habe nicht nur geträumt! Seit ich den Ger halten kann, habe ich dafür gekämpft."

    'Du lebst noch.' Langsam schüttelte Rutger den Kopf, und widersprach stockend: "Nein... ich gehöre schon den Unterirdischen... Aquilius."
    Wieder näherte er sich den Gitterstäben, richtete den Blick unstet auf Aquilius.
    "Du kommst hierher, so... so lebendig - ja lebendig siehst du jetzt aus, erfüllt von Leben, strahlst Leben aus... - und willst mit mir sprechen über Zukunft... aber euer Gode hat mich dem Verderben anheim gegeben...unwideruflich... dem Chaos... dem Inferno... dem Verlöschen..."
    Er grub die Finger in sein schmutzstarrendes Haar, schloß die Augen und schüttelte gequält den Kopf.
    "Nein, nein, dafür ist es zu spät! - Du willst richten über mich, dann richte, entscheide, was auch immer, aber mach dem hier ein Ende, lass es endlich, endlich vorbei sein! Sie fressen mich auf, hier unten, sie lauern, sie kommen wenn ich schlafe... ganz hohl bin ich schon, ganz hohl und leer..."
    Und mit leeren Augen, vollkommen zermürbt von seiner Gefangenschaft und der wahnsinnigen Angst vor dem Todeszauber des Goden, starrte er auf die huschenden Schatten, schien Aquilius nicht mehr zuzuhören und widersprach nicht mal bei den Worten 'mein Besitz'.


    Doch die letzte Frage traf ihn tatsächlich wie ein Pfeil, riss ihn abrupt aus der Starre seiner Verzweiflung.
    "Woher weißt Du...?!" fuhr er erschrocken auf, und richtete die Augen zum ersten Mal direkt und klar auf Aquilius, so dringlich, als wolle er ihm die Antwort entreißen. Wie war er dahintergekommen?!
    Jäh schnellte Rutgers Hand vor, der zernarbte Arm wand und quetschte sich zwischen den Gitterstäben hindurch, und blitzschnell hatte er Aquilius im Nacken gepackt, zog ihn mit einem Ruck an das Gitter heran, so dass nur noch eine Handbreit Luft und etwas Eisen sich zwischen ihren Gesichtern befand.
    "Woher!?" verlangte Rutger aufgebracht zu wissen. "Habt ihr ihr etwas getan?! Sie hat doch keine Schuld daran, überhaupt nicht! Ja, ich liebe sie, aber... was schert es Dich, das ist meine Sache! Und meine Schuld, allein meine. Arrecina dagegen hat sich da nie etwas zu schulden kommen lassen! Nie!"
    Rutgers Griff lockerte sich etwas, und unendlich bitter schloß er: "Und überhaupt hat doch euer Gode das Band längst zerrissen, zerfetzt, und eure verfluchte römische Ordnung wieder hergestellt!"

    "Zukunft!"
    Er spuckte das Wort förmlich aus.
    "Welche Zukunft denn?!"
    Sein Lachen, als Aquilius von Sühne und Vergeltung sprach, war nicht höhnisch, nur müde.
    "Wozu..." wiederholte Rutger leise, "...wo ihr mir doch schon alles genommen habt?"
    Er näherte sein Gesicht langsam den Gitterstäben, presste die Stirn gegen das kalte Eisen und fixierte Aquilius mit einem fiebrigen Blick bar jeder Hoffnung.
    "Ich habe sie nicht verflucht, Flavius Aquilius, weißt Du? Kein Fluch, kein Fluch aus meinem Mund... Aber vielleicht bin ich ja der Fluch, das könnte natürlich sein... in euren Augen... nicht wahr..."


    Seine Augen schweiften, folgten furchtsam gebannt dem Huschen der Schatten auf der schimmelfleckigen Steinwand. Kurz spiegelte sich düsterrot die Flamme der Öllampe in ihnen wieder, wie Funken in der Nacht, die verloschen, als er den Kopf zur Seite drehte.
    "Er hat sie auf mich losgelassen...", flüsterte Rutger, und das namenlose Grauen jener mondlosen Nacht schwang eisig in seiner Stimme mit, "Euer Gode... Sacerdos sagt ihr... - die Unterirdischen... Chaos, Inferno, das hat er auf mich herabgerufen... und sie zehren mich auf, Stück für Stück, hier unten, hier in der Tiefe... bis nichts mehr bleibt... "
    Gequält richtete er abermals den Blick auf Aquilius.
    "Also was sprichst Du zu mir von Zukunft, Flavius Aquilius, und von den Strafen, die ihr da oben bereithaltet..."
    Ein Husten stieg in ihm auf, schüttelte ihn. Das rasselnde Geräusch klang von den Mauern wieder. Er löste sich vom Gitter und spuckte etwas feuchtes in eine Ecke der Zelle.


    "Und was kümmert es Dich überhaupt warum ich es getan habe?"
    Mit unruhigen Schritten durchmaß er das enge Gewölbe, fuhr sich fahrig über die Stirn und murmelte leise Sätze in seiner Muttersprache vor sich hin. Abrupt drehte er sich auf einmal wieder zur Türe, zu Aquilius und fragte voll Verwunderung:
    "Aber... kannst Du es Dir denn nicht denken!? Seid ihr uns wirklich so fremd...? - Ich wollte frei sein. Das war natürlich der Grund. Und Rache."

    In einem wirren Dämmertraum gefangen, lag Rutger zusammengekrümmt auf dem fauligen Stroh. Ein unerbittlicher Sturm von Bildern drang auf ihn ein - schwere schwarze Ketten - das kalte Gesicht des Goden - strömendes Blut - der Sturz in das Nichts - das Verlöschen...
    Ein Zittern ging durch den schweißnassen Körper, dann drang Aquilius' Stimme in das dunkle Gewölbe, zeriss das düstere Traumgespinst. Der Germane fuhr auf, hustete, starrte wild auf das Meer von Schatten, das, durch das Flackern der Öllampe heraufbeschworen, sich wogend auf den Wänden der Zelle abzeichnete - wie die Fänge der Unterirdischen, der Götter des Chaos und des Inferno... Der Gode hatte sie auf ihn gehetzt, und sie sammelten sich um ihn, seit jeder Neumondnacht, witterten, lauerten. Kalt und gierig glitzerten ihre Augen im Dunkeln, ihr Atem war wie Eis, und wenn er schlief, schlichen sie sich heran, um ihn langsam, Stück für Stück aufzufressen...


    Stockend wandte Rutger den Blick zur Türe, sah blinzelnd und mit leerem Blick in das unstete Licht - war dann auf einmal aufgesprungen, krallte die Hände um die Eisenstäbe, die Finger blutig von den Versuchen, mit bloßen Händen durch die Türe zu dringen.
    "Aquilius..."
    Aus dem hohlwangigen Gesicht, unter dem Schmutz fahl von den Monaten ohne Sonne, starrten die Augen mit einem fiebrigen Glanz, einem unsteten Flackern, dass sich mal auf Aquilius richtete, mal auf das Licht, mal in die Leere hinein. Äußerlich aber zeugte nur noch ein schmaler roter Strich auf der Stirn von dem Ritual, das den Germanen so vollkommen erschüttert hatte.
    "Sprechen... sprechen mir mir...", flüsterte Rutger tonlos, und wieder drang ein feuchtes Husten aus seiner Kehle bevor er, lauter, fragte: "Wozu magst Du wohl mit mir sprechen wollen, Flavius Aquilius....?"