Beiträge von Rutger Severus

    Wie vor einer giftigen Schlange zuckte Rutger vor dem Goden zurück. Jeden Moment erwartete er den tödlichen Stoß, mit dem der Hexer ihm, zur Vollendung seines unreinen Zaubers, das Leben nehmen und ihn seinen grauenvollen Göttern übergeben würde. Die Furcht schnürte ihm die Kehle zu. Im Rauch zeichneten sich jetzt deutlich Fratzen ab, und tote Hände, die sich gierig nach ihm reckten. Schrille Stimmen hörte er im Wind.
    Rutger wurde kreidebleich. Mit vor Blut und Rauch tränenden Augen starrte er an dem Flavier vorbei in das Opferfeuer, sah verschwommen Funken aufstieben und in der Schwärze verglimmen...
    Wie mein Leben. Ich verlösche. Ohne Ruhm, ohne Kampf, sang- und klanglos. Geschlachtet wie ein Tier.
    Statt dessen: ein Flüstern. Worte wie aus weiter Ferne. Benommen, die Zunge wie gelähmt, versuchte er Worte zu finden, sich gegen die ungeheuerliche Anschuldigung endlich zur Wehr zu setzen.
    "Nein!" brachte er kratzig hervor. "...kein... Fluch! Ich habe niemals einen Fluch gegen Arrecina gesprochen!"


    Scheußlich drang ihm der Rauch in die Lungen. Er hustete, krümmte sich. Als er wieder aufsah, war der Gode blutbesudelt, der Boden zu seinen Füßen dunkel getränkt.
    Eiseskälte breitete sich in dem Germanen aus. Es war ihm, als würde er da sein eigenes Blut strömen sehen. Der stechende Gestank von verbranntem Horn und Fleisch erfüllte nun den Säulenhof - ebenso könnte sein Fleisch in den Flammen verkohlen.
    Er fror entsetzlich. Langsam und stockend wandte er den Kopf zu Arrecina, heftete seine Augen, in denen noch immer das blanke Grauen stand, auf seine Geliebte - voll Furcht, dass sie ihn nun mit Hass betrachten würde, und doch sehnlich, verzweifelt auf der Suche nach einem festen Halt in diesem Schrecken und Irrsinn.

    Die Dämpfe des exotischen Räucherwerkes stachen Rutger in die Nase und kratzten unangenehm in seiner Kehle, doch es lag nicht am Weihrauch, dass sein Mund plötzlich ganz trocken wurde, als der flavische Gode auf einmal so kraftvoll die Stimme zu seinen Göttern erhob...
    Die Male, wo Rutger diesem Mann bisher begegnet war, hatte er - für einen Römer - menschlich, geradezu freundlich gewirkt, aber nun, in dieser finsteren Neumondnacht, sah er, dass dieser Mann ohne Zweifel über eine gewaltige dunkle Zaubermacht verfügte... Die er nun gegen ihn, Rutger, wandte!
    Er schluckte trocken, und wich instinktiv zurück, als der Gode auf ihn zeigte, und ihn in seiner Anrufung immer wieder beim Namen nannte. Die Eisenringe schabten übereinander, die Sklaven hielten ihn fest. Warum nur hatte er den Römern auch seinen Namen verraten, seinen vollen, wahren Namen?! Aus Stolz natürlich - aber trotzdem, wie dumm!
    "Oh ihr Asen und Wanen steht mir bei!", flüsterte Rutger bang und immer bänger, während der Gode fortfuhr, seine Götter heraufzubeschwören.
    "Ziu! Wodan! Fro Ingwe und Frowe Hulda! Donar! Donar, beschirme mich vor dem bösen Zauber!"
    Klirrend spannten sich die Ketten, hielten Rutgers Hände zurück, die das Zeichen des Hammers Mjöllnir formen wollten.
    Hilflos musste er mit anhören, wie der Gode ihn bezichtigte, Arrecina Geist und Sinn geraubt zu haben. Sie wußten es! Irgendwie waren sie dahintergekommen, was zwischen ihm und Arrecina war, und es musste, in ihren Augen, natürlich wie ein Fluch erscheinen.... Abwehrend schüttelte er den Kopf. Es war doch kein Fluch! Es war... Liebe - ...Band zwischen zwei, die nicht zusammen gehören... - oder nicht?


    Mit schreckgeweiteten Augen sah er den Goden auf sich zukommen. Er war verloren. Gänzlich verloren. Schon fühlte er die Kälte des Todes nach sich greifen, sah wieder den grauenvollen Abgrund, und die Leere, die ihn verschlingen wollte.
    Es war weniger unerschütterlicher Gleichmut als Schockstarre, die ihn still, ganz regungslos verharren ließ, als das Messer über seine Stirn fuhr. Den Schmerz spürte er gar nicht, er starrte nur entsetzt in das Gesicht des Goden, als der ihn an der Stirn berührte, und weiter seinen schrecklichen Zauber webte. Dann war da sein Blut auf Arrecinas Stirn, es sah schwarz aus, auf ihrer hellen Haut, und glänzte feucht im Feuerschein...
    Es war vorbei. Der Gode hatte das Band zwischen ihnen zerissen. Rutgers Schultern sanken geschlagen herab, sein Blick ging starr in die Ferne. Jetzt würde sie ihn hassen. Er wagte es nicht, sie anzusehen.

    Wutschnaubend bäumte Rutger sich gegen den Griff der Sklaven, die ihn gewaltsam durch die Villa schleiften. Die dunklen Ketten, in die sie ihn zu dritt gezwungen hatten, umschlossen kalt seine Glieder, machten ihn wehrlos, machten ihn wütend.
    Er hasste Ketten! Er hasste die Römer! Und ebenso ihre erbärmlichen Handlanger.
    Das Aufflammen der Feuerschalen blendete ihn, als sie das Peristyl erreichten. Er kniff die rotgeränderten Augen schmal zusammen, starrte misstrauisch auf den kleinen Altar, die düster glimmenden Kohlen, die kahlen Äste im kalten Wind...
    Ohne Zweifel war dieser Ort heute Nacht vom Unirdischen berührt. Widerlich stieg ihm der Weihrauch in die Nase, und eine abergläubische Scheu kam über ihn, als zwischen den fahlen Rauchschwaden mit einem Mal gespenstisch die Gestalt des flavischen Goden auftauchte...


    Trotzig straffte er sich, sah verächtlich auf die Römer hinab, aufrecht, mit schmal zusammengepressten Lippen. Ein feiner Blutfaden tropfte von der, in dem kurzen Handgemenge aufgeschlagenen Unterlippe und rann ihm über das stoppelige Kinn. Was auch kommen mochte, welche perfiden Pläne die Römer auch ersonnen hatten, er würde es - hoffentlich - tragen wie ein Hallvardunge.
    "Nehmt die Hände von mir!", befahl er den Sklaven mit eisigem Hochmut.
    Die Ketten rasselten, als er sich wieder gegen ihren Griff stemmte, wie ein gefangenes Raubtier ungebärdig gegen sie ankämpfte.


    Dann kam sie. Und sah ihn an, aus ihren Sternenaugen. So schmerzlich schön, und so verloren.
    Er wurde still.
    Wandte nur mit Mühe den Blick von ihr, heftete ihn schließlich krampfhaft auf das rote Züngeln in einer Feuerschale.
    Arrecina...

    Rutger nickte langsam, im Dunkeln. Ja, es tat sehr gut. Und ihm war, als hätten doch die Idisen diese Frau geschickt, um seine Einsamkeit zu lindern und ihn an das zu erinnern, was zählte.
    "Sie ist kalt ihre Sprache. Akkurat und leblos, so wie sie selbst ... erscheinen."
    Und vereinnahmend dazu. Er verschwieg lieber, dass er selbst schon manchmal auf Latein dachte, sogar schon auf Latein geträumt hatte...
    "Du hast recht. - Ach. Ich war schon ein paar Tagesritte gen Norden gekommen, als sie mich doch eingeholt haben. Ich kämpfte, aber mein Speer zerbrach."
    Auch dass ein einzelner Römer ihn besiegt hatte, wenn auch in einem höchst ungleichen Kampf, mochte er ungern erzählen.


    "Hrannyp-hall also? Ich kenne ihn."
    Hilfreich war er gewesen... warum wohl? Sicher nur Berechnung.
    "Auch so ein Kriecher. Gepeitscht..." Und wieder diese ohnmächtige Wut.
    "Das soll er büßen!", grollte Rutger zornig, "Das wird er bereuen! Wenn ich hier lebend rauskomme, dann wird er zu seinen Sklavengöttern winseln und sich wünschen, er hätte nie die Hand gegen eine Chattin erhoben! Bei Ziu, das wird er!"
    Die wilden Worte verklangen. Sanft schloß Rutger seine Finger um Nortrunas Hand, die sich in der seinen zart und zerbrechlich anfühlte, und drückte sie kurz.


    "Ja.", sagte er leise. Er ließ - um nicht sentimental zu sein - ihre Hand wieder los, begann seine wieder zurückzuziehen, und sprach, aus tiefster Seele, und mit flammender Inbrunst:
    "Wir dürfen nicht aufgeben. Sie können uns vieles nehmen. Unsere Heimat und unsere Freiheit, aber nicht unseren Mut, unseren Stolz und Kampfgeist. Ich meine... sie können nichts daran ändern wer wir sind. Nicht wahr?"
    Er hatte in all der Zeit sehr viel nachgedacht, über diese Frage.
    "Sie nennen uns 'Sklaven', sie meinen uns zu besitzen. Und wir sind in ihrer Gewalt. Aber wir sind Chatten und von edlerer Art als diese Skrälinge. Mit Recht blicken wir auf sie herab. Weich sind sie, arg, feige und verzärtelt."
    Er dachte an Arrecina und fügte, etwas verlegen, hinzu: "Jedenfalls die meisten. - Es ist wie wenn eine Meute von kleinen Hunden sich kläffend auf den Wolf stürzt... Sie sollen nie vergessen, dass wir Reißzähne haben."
    Leise und eindringlich, und ein wenig als wolle er sich selbst überzeugen, sprach er weiter: "Wir dürfen uns nicht beugen. Auch wenn es den Tod bedeutet. Nicht wahr."
    Mit Wärme in der Stimme schloss er. "Doch ich hoffe, Nortruna, ich hoffe wirklich sehr, dass Dir beim nächsten Mal - oder beim übernächsten - die Flucht gelingt."

    "Dann sind wir vom selben Volk. Nortruna."
    Er konnte es kaum glauben. Diese Stimme zu hören, noch einmal den vertrauten Klängen aus seiner Heimat lauschen zu dürfen, war ihm ein großes, bewegendes Glück. Andächtig formten seine Lippen ihren Namen. Nortruna. Schön.
    "Es ist lange her, dass ich unsere Sprache vernommen habe... eine Ewigkeit scheint es mir."
    Überhaupt hatte er, seit er wieder hier eingesperrt war, mit keiner Menschenseele gesprochen. Es dürstete ihn nach Worten, und gierig sog er ihren Klang in sich auf, wenn der Inhalt auch bitter war.
    "So bist auch Du durch Neidingstat in Gefangenschaft geraten…? Sogar schon als Kind?"
    Eine hilflose Wut würgte ihn bei diesem Gedanken. Sie klang jung. Schon für ihn war es die Hölle gewesen, nach Rom verschleppt zu werden - wie unsäglich grausam musste es erst für ein junges Mädchen sein!
    "Eine Pest sind sie, diese Römer!", stieß er heftig hervor. "Eine Seuche die nur immer weiter fortschreiten will! - Doch… Du hast unsere Sprache nicht vergessen. Nortruna. So viele unserer Landsleute haben sich hier, im Süden, schmählich verloren, wissen nicht mehr wer sie sind…"


    Seine Kehle war rau. Er hustete, und fragte sich einen Moment lang, ob er vielleicht doch nur zu sich selbst sprach?
    "Ich bin hier drin seit den Saturn...- seit Jul! Vorher war ich woanders eingesperrt. Seit - ich weiß nicht… da wurde es gerade Herbst. Weil ich geflohen bin. Und ich habe eine Römerin entführt. Ich wollte Rache. Rache an dem, der mir die Freiheit nahm. Aber es ist schief gelaufen. Die Götter waren nicht mit mir. - Wie kommst Du hierher?"
    Er streckte die Hand aus, legte sie kurz auf das schimmlige Mauerwerk, machte sie dann schmal und tastete sich durch den Riss vor. Wenn da jetzt nur keine Ratte drinnen hockte. Aber er spürte nur Spinnweben und scharfkantigen kalten Stein. Dann war er durch, und auf der anderen Seite kam nun eine große, kräftige Hand zum Vorschein. Sie war rauh, mit Schwielen bedeckt und schmutzig, mit dicken Trauerrändern unter den eingerissenen Nägeln, und angetrocknetem Blut daran.
    "Bist Du… wirklich?"

    Rutger fuhr zusammen. Einmal mehr fragte er sich ob man selbst es überhaupt mitbekam wenn man den Verstand verlor. Da hatte er eben doch geglaubt, eine liebliche Frauenstimme zu hören, die in der Sprache seines Volkes zu ihm sprach…
    Er schüttelte heftig den Kopf und starrte wild in die finsteren Ecken des Verließes, flüsterte dabei leise vor sich hin "So ein Irrsinn… so ein Irrsinn…"
    Doch vielleicht - er zögerte - vielleicht hatten die Idisen ihm jemanden geschickt? Er erhob sich, legte den Kopf schief und lauschte. Nur das Scharren einer Ratte war jetzt zu hören, und irgendwo tropfte stetig Wasser. Alles nur Einbildung?
    Unschlüssig rieb er sich stoppelige Kinn, straffte sich dann, und gab der körperlosen Stimme laut, mit rauer Stimme zur Antwort:
    "Rutger… Rutger Thidriksohn bin ich, Krieger von Hallvards Sippe. Die Flavier halten mich gefangen. Aber wer spricht da? Haben dich die Idisen gesandt?"


    Zugleich wandte er sich der Mauer zu, von wo er die Stimme zu vernehmen gemeint hatte. Da hatte er doch, am Anfang seiner Gefangenschaft hier, als er noch die Hoffnung hegte eine Schwachstelle in seinem Gefängnis zu finden, mal irgendwo einen Riss ertastet…
    Er stützte sich auf ein Knie ab, suchte, und fand die Stelle wieder - ein Spalt, fast zwei Faust groß, da wo die Wand schlecht mit dem Boden abschloss. Staubige Spinnweben hingen vor der Öffnung. Ungeduldig riss er sie zur Seite, beugte sich hinunter, und fragte aufgeregt, und ganz begierig darauf die Stimme wieder zu hören:
    "Bist du da drüben?!"

    Die Flammen waren längst heruntergebrannt, hatten das Wachs bis zum letzten verzehrt, und wieder erfüllte ein trübes Halbdunkel das enge Gewölbe. Nur mehr schemenhaft konnte Rutger die Runen an der Wand erkennen, mit denen er versuchte hatte, sich die Idisen geneigt zu machen.
    Das Blut war jetzt getrocknet. Noch immer lag ein brandiger Geruch in der Luft. Die Idisen, wenn sie denn jemals zu ihm gekommen waren, waren wieder verschwunden, ohne ihm ein Zeichen zu geben.
    Zürnten sie ihm denn noch immer? Oder - ein noch trostloserer Gedanke - vielleicht reichte ihre Macht nicht bis hierher, in diese fremden Südlande.
    Der Germane kauerte sich auf das faulige Stroh, schlang die Arme um die angezogenen Knie und starrte auf die Runen, stundenlang, leer.
    Die Zeit verrann zäh.
    Er war allein.


    Irgendwann drang gedämpft der Klang von Schritten an sein Ohr. Und wie jedes Mal fragte Rutger sich, ob sie ihn jetzt holen kamen, um ihn zu strafen oder zu töten. Und hoffte, dass dies alles endlich ein Ende nahm.
    Für uns ist er schon lange gestorben.
    Eine Stimme sprach, nur ein unverständliches Murmeln, dann hallte eine Türe und die Schritte entfernten sich wieder. Mit einem leisen gequälten Laut barg Rutger den Kopf in den Händen, und kämpfte gegen die Verzweiflung, die sich seiner bemächtigen wollte. Doch vergeblich versuchte er, Wälder und Berge vor seinem inneren Auge erscheinen zu lassen, sich an das Gefühl der Weite und Freiheit zu erinnern. Es war ihm, als wäre er schon immer ein Gefangener dieser Mauern gewesen, hätte nur immer Dunkel und Enge gekannt.


    Ein tonloses Flüstern stahl sich von seinen Lippen, und mechanisch begann er wieder, wie ständig in den letzten Wochen, in seiner chattischen Muttersprache die Verse aus seiner Heimat vor sich hinzumurmeln.
    "…Urzeit wars da Ymir hauste… nicht war Sand noch Meer noch Salzwogen… nicht Erde unten noch Himmel oben… nur grundlose Klüfte und Gras nirgendwo…"
    Als ein geisterhaftes Raunen erfüllte das uralte Lied von den Göttern und der Welt das Verließ. Doch jäh brach es ab. -
    "Garms Grimm, Drecksvieh, elendes!" fluchte Rutger und trat heftig nach dem räudigen Rattentier, das ihm gerade dreist über die Füße gehuscht war.

    Nein! sagte Arrecina. Enttäuscht presste Rutger die Lippen zusammen und sah betreten zur Seite. Ob sie nicht verstand, worum es dabei für ihn ging? Der Griff seiner Hände lockerte sich, schon wollten sie von ihren Schultern sinken, als er ihre Hände auf den seinen spürte. Langsam richtete er seinen Blick wieder auf ihr Gesicht, und nachdenklich versuchte er im Dunkeln ihre Züge auszumachen. Was sie dann sagte, drang nur ganz allmählich bis zu ihm vor. Zuerst ungläubig, dann zutiefst bewegt sah er sie an.
    "Du meinst… du willst wirklich…?"
    Er schluckte. Fühlte, wie eine ihrer Tränen seine Hand netzte. Setzte zum Sprechen an, schluckte wieder, und spürte, dass er jetzt besser nichts sagen sollte. Mit einem verräterischen Glänzen in den Augen hob er die Hand und berührte leicht ihre Wange, fuhr ganz zart die Spur der Träne nach, und wischte sie beiseite. Dann nickte er, und atmete tief durch.
    "Ich liebe Dich auch."
    Jetzt ging es wieder mit der Stimme. Einen Moment hatte er wirklich Angst gehabt loszuheulen. Vor Erleichterung und Rührung. Aber Frowe Hulda sei Dank, es war gerade noch mal gutgegangen.


    "Ja.", flüsterte er, und ein breites, strahlendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als diese ungeheure Last und Angst von ihm abfiel.
    "Ja. Ich danke Dir. Das ist… also ich weiß nicht was ich sagen soll."
    Überfließend von Zärtlichkeit fuhr er, mit seiner rauen Hand, sanft die Konturen ihres Gesichtes nach.
    "Das ist… ach, du bist einfach die wundervollste Frau die es gibt, auf der Welt… Nicht weinen, Kleines! - Komm."
    Und er zog sie auf seinen Schoß, umschloss sie kräftig mit den Armen und küsste zärtlich ihre Lippen. So hielt er sie lange, lauschte ihrem Atem und spürte das Pochen ihres Herzens, ihr seidiges Haar und ihre so unglaublich weiche Haut. Ein warmes Glück erfüllte ihn, und dazu eine milde Verwunderung, dass dieses zarte römische Mädchen, so leicht, so zerbrechlich in seinen Armen, ihm so kostbar geworden war, und eine solche Macht über ihn hatte.

    Entschlossen zeichnete Rutger die letzte Rune, Hagalaz, um die beschworene Zaubermacht zu halten, dann verstummte sein Gesang, und er ließ die blutigen Hände sinken. Als nächstes setzte er die halb heruntergebrannte Saturnalienkerze vor den Runen auf den Boden, kniete sich daneben und hielt einen Stoffetzen ins Feuer. Der Stoff kokelte, entflammte dann hell. Rutger warf den brennenden Fetzen auf das Wachs. Rote Zungen leckten darüber hinweg, und zerschmolzen gänzlich die Form der Kerze. Hell flackerten die Flammen auf, knisterten und erfüllten die Zelle mit einer ganz ungewohnten, zuckenden Helligkeit, während sie gierig das Wachs verzehrten.
    Die Runen glitzerten feucht in diesem unsteten Licht, einzelne Blutstropfen flossen an dem schimmligen Mauerwerk hinab, und die gezackten Formen schienen, wie belebt, eilig über die Wand hinweg zu huschen.
    Rutger goss den Rest des Rattenblutes in die Flammen, es qualmte und verzischte. Er erhob sich wieder. Aufrecht und stolz beschwor er entschieden die Schicksalsfrauen.


    "Idisen! Ich gebe Euch Blut und ich gebe euch mein Licht. Fylgjen, hört mir zu!
    Ich bin Rutger, Sohn des Thidrik! Ich weiß, in letzter Zeit ward Ihr nicht gerade gut zu sprechen auf mich, aber hört mich jetzt wenigstens an! Lange genug sitze ich schon hier in diesem Drecksloch! Ich habe doch gekämpft, und ich habe mich nicht gebeugt vor den Römern… - oder jedenfalls, letztendlich nicht, und das wisst Ihr genau.
    Der Wallvater, der zürnt mir, und gönnte mir nicht das Kampfesglück, aber Ihr, Ihr seid doch von milderer Art, und ich weiß dass Ihr mich jetzt hört. Ich beschwöre Euch, steht mir wieder zur Seite! Löst meine Bande! Gewährt es mir aus diesen Mauern zu fliehen und zurückzukehren in die Heimat!
    Ich habe doch noch so viel zu tun! Ich zähle gerade erst zweiundzwanzig Winter, ihr Idisen, und Ihr wisst dass ich tapfer bin und nicht den Kampf scheue, doch noch habe ich nicht in einer großen Schlacht gefochten, und selbst Männer in den Kampf geführt! Ich bin jung, ich konnte mir noch nicht den Ruhm gewinnen, der einem Sohn meiner Sippe gebührt! Wollt Ihr mir denn gar keine Gelegenheit mehr dazu geben?! Das nenne ich eines Argen Art!"


    Wut war in diesen Worten, und ein grimmiger Vorwurf. Doch wollte er die Disen nicht beleidigen. Besser war es, sie vernünftig zu überzeugen. So zügelte sich wieder, atmete tief durch, räusperte sich, und sprach etwas ruhiger weiter.
    "Und außerdem, ihr Idisen, habe ich noch kein Weib genommen, und keine Kinder. Ist es denn so unverständlich, dass ich da noch nicht abtreten will?
    Ja, ich verstehe schon, Ihr missbilligt das mit Arrecina. Aber, ich versichere Euch, sie ist nicht wie die anderen Römer. Sie würde sogar mit mir kommen, hat sie gesagt, und ich glaube ihr das auch! Das würde doch keine normale Römerin tun.
    Ich liebe sie, hört Ihr? Sie hat mir nun mal mein Herz gestohlen, ihr Idisen, aber Ihr müsst euch deshalb nicht von mir abwenden. So was ist schon vielen guten Männern passiert, Fimbulthul selbst verlor sich einst in der Thursin weißen Armen. Es ist keine Schande."


    All die Zeit hatte Rutger, verborgen unter der Tunika, die Schwanenfibel bei sich getragen, die er, wie durch ein Wunder, auch während Flucht und Gefangennahme nicht verloren hatte. Aber jetzt zog er sie hervor, und drehte das dunkel angelaufene Schmuckstück in den Händen, so dass der rote Feuerschein über die kunstvoll verschlungenen Linien der bronzenen Schmiedearbeit glitt. Dies war das allerletzte was er aus der Heimat besaß.
    Ohne zu zögern zerbrach er die Fibel in den Händen, und warf die Bruchstücke in die Flammen.
    "Seht, ihr Idisen, ich gebe Euch alles was ich noch habe, und ich flehe um Euren Beistand. Setzt ein Ende meiner schmachvollen Knechtschaft, helft mir die Freiheit zurück zu gewinnen, und mit meiner Geliebten in mein Heimatland zurückzukehren!
    Wenn ihr mir helft, werde ich dann auch zu den Hamingjasteinen gehen und Euch ein noch viel größeres Opfer bringen.
    Bei Tiwaz, ich, Rutger, gelobe es Euch."

    Rutger zuckte verächtlich die Schultern und gab, schon beinahe automatisch, trotzig zurück:
    "Ja und? Du hast mich nicht im Kampf besiegt, als du mich gefangen nahmst, du hast mich tückisch reingelegt. Ich bin ein Krieger von edler Sippe, ein Hallvardunge und Sohn eines Rich. Kein Sklave. Niemals. Geht das nicht in deinen Kopf hinein, Römer?"
    Wann hätte man das jemals gesehen, dass ein Römer seine Versprechen gehalten hätte? Rutger verschloss sich vor den Worten des Flaviers. Er wollte nicht hoffen, nur um am Ende wieder betrogen zu sein. Doch ganz konnte er es nicht verhindern, dass sich ein feiner Hoffnungsschimmer in ihn hinein stahl, und ein wehes Sehnen ihn erfasste - die Heimat wiederzusehen… wenn das möglich wäre…
    Stumm sah er den Römer hinterher, verwirrt von dessen - anscheinender - Milde. Schließlich hatte er die ganze Zeit damit gerechnet, dass der Flavier ihn in den Bergen oben nicht gleich erschlagen hatte, um ihn später umso grausamer hinrichten zu können, und damit die Ehre seiner Tochter zu rächen.
    Von Strafe zu hören wunderte ihn wiederum nicht. Unbewegt nahm er die Ankündigung hin, ohne eine Miene zu verziehen, dann wandte er sich hochmütig ab. Erst als die Schritte des Römers sich entfernt hatten, sank Rutger erledigt auf die Bank.
    Er zog ein Bein an, umschlang es mit den Armen, und starrte müde ins Leere. Endlose Wälder sah er vor sich und klare Flüsse, weich bemoosten Grund und hohen Farn, schroffe Felsen zwischen denen struppig die Blaubeersträucher wuchsen…
    Von Heimweh überwältigt, und wie vor den Kopf gestoßen von dem, was der Flavier über Gytha gesagt hatte, saß Rutger lange Zeit, noch als die Sonne schon untergegangen war, dort unter der Pinie, und wünschte sich, wider alle Vernunft, einfach nur sehnlichst nach Hause.


    So verging der zweite Tag der Saturnalien. Und schnell zogen auch die anderen Festtage vorbei, so dass Rutger den kurzen Hauch von Freiheit nur allzu bald wieder gegen die Enge des Carcers eintauschen musste.

    "Ich danke Dir, Kleines.", murmelte Rutger, ganz gerührt, dass Arrecina ihn so energisch beschützen wollte. Liebevoll streichelte er ihr Haar und versuchte nicht daran zu denken, dass schon ein bisschen erbärmlich war, sich als Krieger von einem jungen Mädchen in Schutz nehmen zu lassen…
    Doch dass er auf eigene Faust erneut entkommen könnte, aus dem Carcer, das schien ihm nicht gerade sehr wahrscheinlich. Nicht wenn seine Götter ihm nicht beistanden, und die hatten es deutlich genug gemacht, dass sie ihm, nachdem er sich mit einer Römerin eingelassen hatte, nicht mehr hold gesinnt waren.
    "Mmhm, ja, ich auch, irgendwie, bestimmt."
    Doch eigentlich war er furchtbar skeptisch, dass Arrecina, nach allem was passiert war, ihren brutalen Neiding von Vater überzeugen könnte, und die verteufelte Mutlosigkeit wollte einfach nicht von ihm weichen.


    "Aber falls… -", brach es plötzlich aus ihn heraus. "- Ach, zu Hel!"
    Er richtete sich auf und fuhr sich fahrig übers die Stirn.
    "Falls ich doch draufgehe, Arrecina, bitte, musst Du mir einen Dienst erweisen. Es tut mir wirklich leid, dass ich Dich darum bitte, aber… es ist sehr wichtig. Du musst mich verbrennen. Vor dem Sterben ist mir nicht bange, aber wenn…, wenn mich die Raben fressen, in diesem fremden Land, dann werde ich nicht den Weg zurück finden. Nicht nach Hause, und nicht in die Halle der Einherjar. Und…"
    Seine Stimme wurde brüchig. Er hustete, starrte aufgewühlt in die Dunkelheit und sprach mühsam beherrscht schnell weiter.


    "Ich will nicht zum Draug werden, zum Wiedergänger, auf keinen Fall, verstehst du?! Wenn ich zuhause den Tod fände, dann würden sie mir die Totenlieder singen, und meine Asche in einen Hügel legen, und mir Fleisch und Met mitgeben für die Überfahrt, Waffen auch und eine Unfreie dazu, und ich würde Einzug halten in Wodans Halle und kämpfen an der Seite der Götter wenn dereinst die Wolfszeit anbricht… "
    Er wandte den Kopf und blickte Arrecina voll Verzweiflung an.
    "Ich will nicht für alle Zeiten rastlos sein, und die Lebenden hassen!"
    Fest umfassten seine Hände ihre Schultern; er beschwor sie mit größter Eindringlichkeit: "Bitte Arrecina! Versprich es mir! Verbrenne meinen Kadaver und wirf die Asche, und die Knochenreste, in einen Fluss, oder in das Meer! Vielleicht kann ich dann nach Hause finden. Wirst Du… - wenn es soweit kommen sollte - wirst Du mir diesen Dienst erweisen?"

    Ein Arm umschlang kräftig Arrecinas Schultern, den anderen legte Rutger unter ihre Knie; er hob Arrecina auf bevor sie fallen konnte und trug sie ein Stück zur Seite, weiter weg von der toten Wahnsinnigen, ihrer von wildem Lachen geschüttelten Mörderin und all dem Blut. Am Rand des Innenhofes, unter einer Überdachung, die den Regen abhielt, ließ er sich mit Arrecina vorsichtig auf dem Boden nieder; er hielt sie auf seinen Knien, stützte ihren Oberkörper und flüsterte leise beruhigende Worte.
    "Schscht, Kleines, es ist vorbei, keiner tut dir mehr was… komm ich gebe dir von dem Trank, zehn Tropfen, ja…"
    Vorsichtig bog er ihre Finger auf, die sie so verkrampft um die Phiole geschlungen hatte. Sie fühlten sich, obgleich vom Regen nass, viel zu heiß an. In dem schwachen Lichtschein, der vom Atrium herüberdrang, sah er misstrauisch auf das kleine Fläschchen, in dem die milchig trübe Flüssigkeit stand - was wenn er sie nur in noch größere Gefahr damit brachte? Doch beim Blick auf ihr gequältes Gesicht, die fiebrig glänzenden Augen, die ziellos umherirrten, ihn anscheinend schon gar nicht mehr sahen, schien es ihm, dass er keine Wahl hatte.
    Er zog den kleinen Glasstopfen heraus, umfasste Arrecinas Hand, und ließ einige Tropfen, sehr sorgfältig zählend, in ihre hohle Hand fallen.
    "Du musst das auflecken!", sagte er ihr eindringlich, und führte ihre Hand zu ihrem Mund.
    "Hörst du, Arrecina, hier, schau mal, ja… genauso so, sehr gut!"
    Und er wiederholte die Prozedur bis er ihr die ganze Dosis eingeflösst hatte.


    Die verwilderten Bäume in der Mitte des Innenhofes ächzten im Wind und schüttelten ihre Zweige. Noch immer rauschte der Regen, prasselte auf den Mamorboden, bildete rötliche Rinnsale und kleine Bäche, die sich in den Rissen des Bodens, an den Wurzeln der Bäume sammelten und versickerten. Um den reglosen Körper der Hausherrin herum waren die weißen Platten schon beinahe wieder rein gewaschen.
    Dies war das letzte Bild, das Rutger von diesem Innenhof im Gedächtnis blieb. Das Herz von furchtbarer Sorge um Arrecina erfüllt, trug er sie auf seinen Armen aus dem Peristyl hinaus.


    Bald darauf ritt er, Arrecina vor sich auf dem Sattel haltend, beide in lederne Regenumhänge gehüllt, auf dem Rücken eines Ponys auf das Haupttor zu. Ein anderes führte er am Zügel hinter sich, beladen mit etwas Gepäck, das er auf die Schnelle im Haus hatte zusammenraffen können, und mit seinem selbstgebauten Speer. Überrascht vernahm er, vom Tor her, ein heftiges Klopfen.
    Vom Rücken des Ponys aus legte er den Riegel zurück. Das Tor schwang mit grabestiefem Ächzen auf, und Rutger sah sich einer vollkommen durchnässten jungen Dame gegenüber. Die goldene Palla lag klatschnass um ihre arroganten Züge, in denen Zorn und Erschöpfung sich die Waage hielten. Flankiert wurde sie von einigen kräftigen Männern, sie hatten einen reichverzierten Tragsessel zwischen sich abgesetzt, der an der Lehne und an einer Stange gesplittert war.
    "Endlich!", fauchte die junge Dame heiser. "Habt ihr keine Ohren da drin?! Was fällt euch ein, mich hier stundenlang warten zu lassen - ich bin Antonia Lavinia! Das wird Konsequenzen haben!"
    Und aufgebracht marschierte sie, an Rutger und Arrecina vorbei, in den Hof der Villa hinein, gefolgt von ihren Begleitern und dem Tragsessel.


    Verdutzt sah Rutger ihr hinterher, dann zuckte er die Schultern, gab dem Pony die Schenkel und durchquerte mit Arrecina das Tor. So verließen sie die Villa Aspera in der sie, auf der Suche nach Zuflucht, alle beide eine Nacht des Grauens erlebt hatten.
    Sie ritten hinaus in die Nacht, die inzwischen schon wieder einer grauen Dämmerung wich, und folgten dem schlammigen Weg bergab. Riesige Pfützen standen darauf, überall lagen heruntergebrochene Äste, und an einer Stelle war der Weg durch einen Erdrutsch beinahe gänzlich weggeschwemmt worden. Allmählich ließ der Regen nach, versiegte dann ganz. Der Wind jagte die Wolken und vertrieb sie schließlich vom heller werdenden Himmel.
    Über einen langezogenen Hügelkamm hinweg ritten die beiden in den anbrechenden Morgen hinein. Die Vögel begannen zu zwitschen, und aus der vollgesogenen Erde stieg der nasse Dunst in zarten Schleiern auf.
    Rutger hielt Arrecina engumschlungen. Mit unendlicher Erleichterung erfüllte es ihn, zu fühlen, dass ihre Stirn wieder kühl war und ihr Atem ruhig und gleichmäßig ging.
    "Wir haben's geschafft, Kleines!", murmelte er froh. "Bei allen Asen und Wanen, wir haben diese Nacht überstanden! Jetzt werden wir doch den Rest auch noch schaffen!"
    Und mit einem Gefühl, als hätten sie mindestens schon die Alpen hinter sich, trieb er das Pony zu einem schnelleren Schritt.
    Als eine blasse gelbe Scheibe stieg die Sonne hinter den Bergen auf.



    ~ Ende dieser Geschichte ~




    Fortsetzung folgt…hier

    Die Arme fest um Arrecina geschlungen reckte Rutger sich wohlig, und streckte sich lang im Heu aus. Er genoss ihre zarten Berührungen, lächelte breit als sie seine Wangen küsste, und kraulte ihr träge den Nacken.
    "Ich lass dich nie wieder los, Kleines.", flüsterte er lächelnd, zog sie einen Moment lang sehr kräftig an seine Brust, und legte besitzergreifend noch ein Bein um sie herum. Hatte er das nicht irgendwann schon mal zu ihr gesagt? Er vergrub zärtlich die Finger in ihrem Haar, sah hinauf in die Dunkelheit, wo durch ein paar Ritzen in der Bretterwand vages Sternenlicht hereindrang.
    "Ich habe noch nie eine Frau wie Dich getroffen, Arrecina.", sagte er leise. "Noch nie so geliebt. Vielleicht ist es ja mein Schicksal - ich meine, es ist doch möglich, dass all das Üble, was mir widerfahren ist, nur gewesen ist, damit ich Dich jetzt, hier, so in den Armen halten kann… - und bei Dir auch, verstehst Du, es ist unser Schicksal, es hat die ganze Zeit auf uns gewartet. Manchmal denke ich, die Nornen haben schon einen seltsamen Humor… - Aber vielleicht ist das auch Unsinn, ich weiß nicht."


    Er fuhr sich nachdenklich über die Stirn. Wieder bestürmten ihn die Gedanken an seine fragliche Zukunft, aufdringlich und störend.
    "Ich wünschte, ich könnte es Dir versprechen, Kleines…", flüsterte er wehmütig. Ganz sanft küsste er ihre Schläfe, bevor er widerstrebend weitersprach.
    "Aber ich weiß ja nicht mal, was uns der nächste Morgen bringt. Ich liebe Dich. Ich werde alles dafür geben mit Dir zusammen zu sein! Ich werde dafür kämpfen, bis zum letzten! - Aber…"
    Er stockte, sah vor sich wieder den Gekreuzigten auf dem Richtplatz, ganz von schwarzen Vögeln bedeckt. Seine Brust hob und senkte sich heftig. Eine lähmende Mutlosigkeit wollte in ihm aufsteigen. Hatten nicht die Götter ihn verlassen? War nicht sein Speer geborsten? Arrecina würde sich wieder an alles erinnern und eine andere sein, und sie würde nur noch Hass für ihn spüren.
    "Aber ich weiß eben nicht…"
    Hilflos zuckte er die Schultern, versuchte sich dann zusammenzureißen. Hier vor Arrecina rumzujammern wie ein Skräling, das war ja noch schöner!
    "Verzeih.", murmelte er leise, küsste zärtlich ihre Lippen, und streichelte wieder rauh ihren Nacken. "Wir finden schon einen Weg."

    Es schien Rutger, dass er ebenso gut gegen eine Statue hätte anschreien können. Sie hätte kaum weniger Reaktion zeigen können, als Flavius Aristides, der, selbst als er ihn übel beleidigte, diese unnatürliche, geradezu unmenschliche Kälte bewahrte.
    "Nein, es ist nicht wahr!", widersprach er. "Sie war eine Mattiakerin, von ihrem Stamm verstoßen, die bei uns Aufnahme fand. Sie hat euch gehasst…"
    Immer halbherziger wurden seine Worte. Gytha eine Römerin… oder jedenfalls eine Romanisierte, eine, die ihre Herkunft verraten hatte… eine Spionin gar? - es erklärte einfach zu gut, was passiert war!
    Ein nagender Zweifel stieg in ihm auf. Er starrte auf die kahlen Büsche und dachte an den Abend, vor einer Ewigkeit am schwarzen Weiher, als er sie geküsst hatte, und sie so plötzlich geflohen war. Ihr Tuch hatte sie vergessen, es hatte über den Erlenwurzeln gehangen. Er hatte wirklich geglaubt sie zu lieben, damals.
    Ganz genau erinnerte er sich wie ihre Lippen geschmeckt hatten, wie sich das Abendrot in ihren Haaren verfangen hatte… aber, es war seltsam, ihr Gesicht konnte er gerade nicht richtig vor sich sehen. Es war wie ausgelöscht von einem anderen, dunkelhaarigen und sternenäugigen Antlitz.


    Beharrlich schüttelte er noch den Kopf, während der Zweifel sich schon in bittere Überzeugung gewandelt hatte.
    Alle Lüge! Die er zu lieben gemeint hatte, die, deren Tod er grimmig rächen wollte, sie war eine Ruchlose, eine Lügnerin gewesen… Vielleicht sprach der Römer sogar die Wahrheit, und hatte sie gar nicht getötet - vielleicht war sie statt dessen dem Fluch erlegen, den er, wie er sich verschwommen erinnerte, in jeder Schicksalsnacht rasend und blind vor Eifersucht auf sie geschleudert hatte? Vielleicht hatte er, Rutger, sie damit umgebracht, er selbst…
    Das Blut wich aus seinem Gesicht, bei diesem Gedanken. Sein Atem stockte, und es war als würde ihm jemand mit einem Ruck den Boden unter den Füßen wegziehen. Seine Hand schloss sich krampfhaft um den Rand des Marmortisches, und umklammerte verzweifelt, haltsuchend den roten Stein.


    Wie durch einen Schleier sah er den Römer vor sich stehen. Dessen Stimme schien aus weiter Ferne zu ihm zu dringen. Mühsam suchte Rutger nach Worten, formte sie schleppend zu Sätzen.
    "Was heißt das schon", murmelte er tonlos, "unschuldig, oder falsch... Es ist eben Krieg."
    Wegwerfend zuckte er die Schultern, und sein Blick ging leer durch sein Gegenüber hindurch, verlor sich im Unbestimmten.
    "Ihr kämpft, wir kämpfen… Ich wollte nur frei sein.
    Was soll die Frage… natürlich würde ich so einen Mann töten, was sonst. Es sei denn, natürlich, ich hätte mein Wort gegeben..."

    In dem Fall er sich etwas anderes, nicht weniger unangenehmes einfallen lassen würde.
    "Von Dir, Flavius Aristides, erwarte ich gewiss keine Schonung."
    Um Rutgers Mundwinkel zuckte es humorlos, beim Versuch eines hochmütigen Lächelns.
    "Warum auch."

    Ungestüm erwiderte Rutger den Kuss, spielte mit ihrer Zunge, versetzte ihrer Unterlippe sacht einen zärtlichen Biss. Atemlos flüsterte er ihren Namen, während er sie in der Dunkelheit entkleidete, und dann auch sich selbst. Ihre bloße samtigweiche Haut auf der seinen zu spüren, ließ seine Begierde heiß aufflammen. Am ganzen Körper bebend umschlang er sie kraftvoll und vergrub, schwer über ihr liegend, sein Gesicht tief in ihrem Haar, ihrem Duft… Heftig kämpfte er gegen die wölfische Gier, die ihn dazu drängte, jetzt einfach zu nehmen, zu verschlingen, sich wie ein Raubtier an ihr zu sättigen.
    "Ich liebe Dich, Arrecina…", flüsterte er rau, dringlich wie eine Beschwörung, und zügelte sich, nahm sein Gewicht von ihr und küsste sie ganz langsam. "…ich liebe dich…"
    Zärtlich liebkoste er sie, erforschte mit Fingern und Zunge jeden Zoll ihres köstlichen Leibes, wollte, dass in ihr das selbe Feuer brannte, das auch in ihm loderte. Und als er schließlich mit ihr schlief, war er noch immer vorsichtig und zärtlich.


    Ermattet hielt er sie danach in den Armen. Das Haar klebte ihm in der schweißnassen Stirn. Seine Brust hob und senkte sich rasch, und ein leises Pfeifen klang in seinen Atemzügen mit. Im Dunkeln tastete er herum, das Heu raschelte, dann bekam er eine Decke zu fassen, die er über sie beide zog. Er war glücklich, wunschlos glücklich, und bis ins letzte erfüllt von Arrecina. Liebevoll fuhren seine Hände über ihren Rücken, streichelten sie sanft, während er mit den Lippen an ihrer Halsgrube war. Selig atmete er ihren Duft, und mit vielen kleinen Küssen leckte er das Salz von ihrer zarten Haut.

    "Du warst auf unserem Land!", versetzte Rutger wutschnaubend.
    "Im Kriegsgebiet! Ein schneller Pfeil wäre noch zu gut für dich gewesen! Ihr kommt zu uns, stehlt uns mit Hinterlist und Niedertracht unser Land - das Land unserer Götter und Ahnen, das Wertvollste von Allem! - und das obwohl ihr nicht mal was damit anfangen könnt! Für euch Skrälinge, euch verweichlichte Südländer ist es doch viel zu rau! Und du glaubst, du könntest ganz einfach und sicher dort herumreiten um uns auszuspionieren?! Da hast du dich geirrt, und da irrt ihr euch alle! Niemals werdet ihr dort sicher sein, keiner von euch!"
    Er bebte vor Wut, und krallte mit Ingrimm die Fäuste zusammen, als der Römer von Gytha sprach, es wagte, ihren Namen in den Mund zu nehmen, sich gar rechtfertigte.
    "Ich glaube dir kein Wort!", fuhr er auf, "Kein Wort! Du hast sie ermordet, kaltblütig, obwohl sie dir zur Flucht verholfen hat! Sie hat dir doch die Waffe verschafft! Sie hat uns alle angelogen, hat behauptet, du lägest noch immer auf den Tod und würdest keine Fesseln brauchen! - Und natürlich hast du MIR das Messer an die Kehle gesetzt, weil ich der Sohn des Rich bin, für wie dumm hältst du mich?!"
    Allerdings - wozu sollte der Römer ihn eigentlich anlügen? Egal. Es lag doch in deren Natur.
    Fest presste er die Lippen zusammen, als der Neiding von seiner Tochter sprach. Natürlich machte Rutger sich Vorwürfe, und natürlich wollte er nicht dass der Römer das merkte. Verstockt starrte er ihn an, sah ihm trotzig ins Gesicht. Erst vierzehn? Oh, ein bisschen älter hätte er sie schon geschätzt…
    Er sah beschämt zur Seite, sagte tonlos: "Arrecina ist noch immer am Leben. Wäre ich das, was du denkst, hätte ich ihr die Kehle durchgeschnitten, als du uns eingeholt hast."


    "Dein Wort!?" Höhnisch lachte er auf.
    "Dein Wort ist wie das Zischen einer giftigen Natter! Ich hätte dich niemals nach Colonia führen dürfen, wären wir doch beide da im Wald gestorben. Du versprachst mir mein Leben, und, ja, du hast mich nicht abgestochen, viel Schlimmeres hast du mir angetan, übelste Schmach…"
    Der Hass glomm in seinen Augen, er biss die Zähne aufeinander und kämpfte gegen den rasenden Drang, dem Römer jetzt an die Kehle zu springen.
    "Als du in unserer Gewalt warst, Römer", sprach er mühsam artikuliert, "haben wir dich da … gepeitscht? Gedemütigt? Haben wir dich … - Nein, bei uns BARBAREN wurdest du aufgepäpelt! Gut versorgt! Und wir hätten dich bald gegen Leute von uns ausgetauscht, oder dich nach altem Brauche den Göttern übergeben, aber keiner, keiner von uns, hat je versucht, dich zu Dreck unter seinem Stiefel zu machen!"
    Er richtete sich hoch auf, mit Stolz und Würde. "Und dir wird das auch nicht gelingen. Was auch immer ihr euch vormacht, ich bin kein Sklave. Ich bin in eurer Gewalt, ja, euer Gefangener, ja, aber ich habe nichts gemein mit jenen jämmerlichen, hündischen Kreaturen, die vor euch buckeln, euch die Füße lecken. Ich bin freier Chatte, und niemand wird von mir je die Worte hören 'Ich bin ein Sklave', niemals werde ich… - "


    Ein Husten stieg in seiner Kehle auf, schnitt ihm die stolzen Worte ab. Er keuchte, hustete erbärmlich, rang wütend nach Luft.
    "Ich spucke auf dein Wort, Römer.", flüsterte er, als er seine Stimme, wenn auch kratzig, wiedergefunden hatte.
    "Du tötest mich nicht, ja, ich verstehe, du überlässt es einfach jemand anderem. Flavius Aquilius? Ich spucke auf euch alle…"
    Und mit abgrundtiefer Verachtung spuckte er dem Römer vor die Füße. Von loderndem Zorn und bittersten Groll erfüllt stand er da, sprungbereit, die Fäuste geballt, und die Zähne gebleckt, wie ein in die Enge getriebener Wolf. Und langsam drang die Bedeutung dessen, was der Flavier gerade gesagt hatte, bis zu ihm vor.
    "Eine Römerin?", wiederholte er vollkommen ungläubig. "Du lügst. Das ist unmöglich…"

    Ein scharfes Knacken riss Rutger jäh aus seinen Träumereien und seinem Gesang. Er verstummte und wirbelte erschrocken zum Ursprung des Lautes herum, wobei seine Hand zum Gürtel fuhr - dort aber natürlich kein Messer fand. Der Neiding! Sein Gesicht verdüsterte sich, zum einen wegen dieses Mannes, den er hasste, zum anderen weil er sich ärgerte, dass er gerade so erschrocken war.
    Kühner schlagen die Herzen, höher steigen die Seelen, sicherlich, aber seit der Römer ihn in den Bergen mit einem Stich seines Gladius beinahe, so haarscharf, ins Jenseits befördert hätte, seit der Hauch eines entsetzlich leeren und kalten Abgrundes Rutger angeweht hatte, seit das Nichts ihn lauernd angestiert hatte, begierig ihn zu verschlingen… seitdem machte dieser Mann ihm - Angst.
    Feindselig starrte er ihn an, angespannt und kampfbereit, und beklommen bei der Vorstellung, dass der Römer womöglich herausbekommen hatte, dass er sich letzte Nacht mit Arrecina getroffen hatte…
    "Was willst du?!", fauchte er wütend, stieß sich von dem Baum ab, und ging herausfordernd auf Flavius Aristides zu. Angriff, die beste Verteidigung.


    "Was willst du von mir?! Lass mich doch in Frieden! Lass mir diese Tage, ihr sperrt mich doch früh genug wieder in das Drecksloch, kreuzigt mich oder was weiß ich!"
    Seine Hände ballten sich zu Fäusten, und weiß traten die Knöchel hervor. Zornbebend brachen die Worte aus ihm hervor, als ein wilde, bittere Anklage.
    "Wäre ich so grausam wie du, Römer, hättest du deine Tochter nie wieder in die Arme schließen können! Sie wäre nur noch Asche, deine Tochter, wenn ich so gehandelt hätte wie du! Asche und verkohlte Knochen, so wie Gytha, die du auf dem Gewissen hast!"

    "Wirklich…?", murmelte Rutger träumerisch. Es war zu schön um wahr zu sein. Leise lachte er auf, ganz befreit, und zog sie stürmisch an sich. "…meine wunderbare Arrecina…" flüsterte er atemlos, fuhr ihr innig über den Rücken, und schlang einen Arm fest um ihre Taille, "…ich kann Dir gar nicht sagen wie… wie unbändig glücklich ich bin…"
    Warm und rau legte seine Hand sich in ihren Nacken, und wieder suchte er ihre Lippen, küsste sie voller Liebe. Es wurde ein langer, langer Kuss, von anfangs verhaltener, dann immer glutvollerer Zärtlichkeit, und mit einem Mal hob er Arrecina ganz überschwänglich von den Füßen, hielt sie fest in den Armen, küsste sie weiter, immer weiter, wirbelte ungestüm mit ihr herum, bis sie beide mit einem Plumps im weichen Heu landeten. Rutger versank in knisternen, würzig duftenden Halmen, wühlte sich lachend hervor, und umschlang Arrecina wieder, liebkoste und küsste sie leidenschaftlich, flüsterte liebestrunken immer wieder ihren Namen.


    "Wir werden zusammen fliehen, Kleines…" flüsterte er irgendwann ganz nah an ihrem Gesicht, zwischen zwei Küssen, und war in diesem Moment tatsächlich felsenfest davon überzeugt, "aber jetzt geht es nicht, verstehst du, ich habe mein Wort gegeben, damit die mich während der Saturnalien überhaupt aus dem Carcer rauslassen…mein Wort, dass ich während dieser Tage nicht abhaue. Aber wir finden schon einen Weg! Bei Fenris Fängen, Kleines, Deine Leute wollen mich umbringen, aber wenn Du mich liebst, da kann ich mich doch nicht einfach ans Kreuz nageln lassen!"
    Mit einem schiefen Grinsen schüttelte er entschlossen den Kopf. "Nein, das geht nicht, auf keinen Fall."
    Glühend küsste er ihr Gesicht, dann Hals und Schulter, sein Atem ging schwerer, und er schob immer mehr von ihrer lästigen Tunika beiseite.
    "…du machst mich vollkommen verrückt…" murmelte er und knabberte spielerisch an ihrem Ohr, während seine Finger ihren Bauch kraulten, und ganz von selbst tiefer wanderten. Mit einem Mal stieg da unangenehm die Erinnerung an das, gelinde gesagt, schief gelaufene erste Mal mit ihr, auf. Aber war das hier nicht die Gelegenheit, ihr zu zeigen, dass er auch ganz anders sein konnte?
    "Ich will Dich…" flüsterte er heiß an ihrem Ohr, "…willst Du auch?"

    Es war am zweiten Tag der Saturnalien, am späten Nachmittag, in einer abgelegenen Ecke des großen Gartens. Eine Weile lang war Rutger kreuz und quer den kleinen Pfaden gefolgt, die sich verspielt durch das Gelände schlängelten, bis ihn seine Schritte zufällig zu diesem lauschigen Fleckchen hier geführt hatten. Es war eine kleine Rasenfläche, auf einer Seite umfasst von hohen, jetzt kahlen Rosenbüschen, auf der anderen grenzte sie bereits an die efeuberankte Gartenmauer an. In der Mitte wuchs eine große Schirmpinie, unter der eine Bank und ein kleiner runder Tisch aus rot geädertem Marmor zum Verweilen einluden.
    Die Sonne stand blass am eisigen Winterhimmel, doch einige Strahlen fanden ihren Weg durch die milchigen Dunstschleier, ließen den Marmor rötlich leuchten und die rissige Struktur der Baumrinde plastisch hervortreten.
    Rutger trat über das vergilbte Gras auf den Baum zu, fuhr kurz mit der Hand über die Oberfläche des Tisches, auf dem ein paar welke Blätter lagen, und lehnte sich dann mit dem Rücken gegen den breiten Stamm der Pinie. Er drehte sein Gesicht zur Sonne, schloss die Augen und spürte die wärmenden Strahlen auf der Haut. Schön.


    Mit einem versonnenen Lächeln auf den Lippen genoss er die Ruhe und die Weite um sich herum, und die Luft, die frisch nach Erde und Holz roch. Dass man ihn sicher schon bald wieder in das dunkle Drecksloch sperren würde, schob er weit von sich, brach ein Stück von der Rinde ab und sog den harzigen Duft ein. Die Bilder des Vorabend standen ihm noch immer lebhaft vor Augen, zuerst das bizarre Fest, dann das langersehnte Zusammensein mit Arrecina. Er schlug die Augen wieder auf, sah verträumt hinauf zu den Zweigen der Pinie, die sich dunkel vor dem verschleierten Blau des Himmel abzeichneten, und ein schiefes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er seinen Gedanken nachhing… wie forsch sie ihn geküsst hatte… wie hold ihr Antlitz war… wie berauschend ihre Nähe… wie vollkommen sie ihm den Kopf verdreht hatte…
    Leise begann er vor sich hinzusummen, eine schwungvolle Melodie, in die er einzelne Worte einflocht, bis sie zu einem Lied wurden, einem langen Lied aus seiner Heimat, das in vielen prahlerischen Strophen die verwegenen Taten seiner Ahnen rühmte. Rutgers Stimme war rau, und er sang nicht sehr laut, doch klangvoll. Stürmischer Überschwang und Trotz lag darin, und auch eine vage Wehmut.
    "…Heilsa! wir sind Hallvardungen / Tiwaz' Spross
    Wie grausam das Schicksal auch sei / stärker ist unser Mut
    Kühner schlagen die Herzen / höher steigen die Seelen
    Keine Angst kann uns schrecken / keine Macht uns entzweien
    Heilsa! Hallvards Söhne / werden siegreich und tapfer sein…"