Ein Arm umschlang kräftig Arrecinas Schultern, den anderen legte Rutger unter ihre Knie; er hob Arrecina auf bevor sie fallen konnte und trug sie ein Stück zur Seite, weiter weg von der toten Wahnsinnigen, ihrer von wildem Lachen geschüttelten Mörderin und all dem Blut. Am Rand des Innenhofes, unter einer Überdachung, die den Regen abhielt, ließ er sich mit Arrecina vorsichtig auf dem Boden nieder; er hielt sie auf seinen Knien, stützte ihren Oberkörper und flüsterte leise beruhigende Worte.
"Schscht, Kleines, es ist vorbei, keiner tut dir mehr was… komm ich gebe dir von dem Trank, zehn Tropfen, ja…"
Vorsichtig bog er ihre Finger auf, die sie so verkrampft um die Phiole geschlungen hatte. Sie fühlten sich, obgleich vom Regen nass, viel zu heiß an. In dem schwachen Lichtschein, der vom Atrium herüberdrang, sah er misstrauisch auf das kleine Fläschchen, in dem die milchig trübe Flüssigkeit stand - was wenn er sie nur in noch größere Gefahr damit brachte? Doch beim Blick auf ihr gequältes Gesicht, die fiebrig glänzenden Augen, die ziellos umherirrten, ihn anscheinend schon gar nicht mehr sahen, schien es ihm, dass er keine Wahl hatte.
Er zog den kleinen Glasstopfen heraus, umfasste Arrecinas Hand, und ließ einige Tropfen, sehr sorgfältig zählend, in ihre hohle Hand fallen.
"Du musst das auflecken!", sagte er ihr eindringlich, und führte ihre Hand zu ihrem Mund.
"Hörst du, Arrecina, hier, schau mal, ja… genauso so, sehr gut!"
Und er wiederholte die Prozedur bis er ihr die ganze Dosis eingeflösst hatte.
Die verwilderten Bäume in der Mitte des Innenhofes ächzten im Wind und schüttelten ihre Zweige. Noch immer rauschte der Regen, prasselte auf den Mamorboden, bildete rötliche Rinnsale und kleine Bäche, die sich in den Rissen des Bodens, an den Wurzeln der Bäume sammelten und versickerten. Um den reglosen Körper der Hausherrin herum waren die weißen Platten schon beinahe wieder rein gewaschen.
Dies war das letzte Bild, das Rutger von diesem Innenhof im Gedächtnis blieb. Das Herz von furchtbarer Sorge um Arrecina erfüllt, trug er sie auf seinen Armen aus dem Peristyl hinaus.
Bald darauf ritt er, Arrecina vor sich auf dem Sattel haltend, beide in lederne Regenumhänge gehüllt, auf dem Rücken eines Ponys auf das Haupttor zu. Ein anderes führte er am Zügel hinter sich, beladen mit etwas Gepäck, das er auf die Schnelle im Haus hatte zusammenraffen können, und mit seinem selbstgebauten Speer. Überrascht vernahm er, vom Tor her, ein heftiges Klopfen.
Vom Rücken des Ponys aus legte er den Riegel zurück. Das Tor schwang mit grabestiefem Ächzen auf, und Rutger sah sich einer vollkommen durchnässten jungen Dame gegenüber. Die goldene Palla lag klatschnass um ihre arroganten Züge, in denen Zorn und Erschöpfung sich die Waage hielten. Flankiert wurde sie von einigen kräftigen Männern, sie hatten einen reichverzierten Tragsessel zwischen sich abgesetzt, der an der Lehne und an einer Stange gesplittert war.
"Endlich!", fauchte die junge Dame heiser. "Habt ihr keine Ohren da drin?! Was fällt euch ein, mich hier stundenlang warten zu lassen - ich bin Antonia Lavinia! Das wird Konsequenzen haben!"
Und aufgebracht marschierte sie, an Rutger und Arrecina vorbei, in den Hof der Villa hinein, gefolgt von ihren Begleitern und dem Tragsessel.
Verdutzt sah Rutger ihr hinterher, dann zuckte er die Schultern, gab dem Pony die Schenkel und durchquerte mit Arrecina das Tor. So verließen sie die Villa Aspera in der sie, auf der Suche nach Zuflucht, alle beide eine Nacht des Grauens erlebt hatten.
Sie ritten hinaus in die Nacht, die inzwischen schon wieder einer grauen Dämmerung wich, und folgten dem schlammigen Weg bergab. Riesige Pfützen standen darauf, überall lagen heruntergebrochene Äste, und an einer Stelle war der Weg durch einen Erdrutsch beinahe gänzlich weggeschwemmt worden. Allmählich ließ der Regen nach, versiegte dann ganz. Der Wind jagte die Wolken und vertrieb sie schließlich vom heller werdenden Himmel.
Über einen langezogenen Hügelkamm hinweg ritten die beiden in den anbrechenden Morgen hinein. Die Vögel begannen zu zwitschen, und aus der vollgesogenen Erde stieg der nasse Dunst in zarten Schleiern auf.
Rutger hielt Arrecina engumschlungen. Mit unendlicher Erleichterung erfüllte es ihn, zu fühlen, dass ihre Stirn wieder kühl war und ihr Atem ruhig und gleichmäßig ging.
"Wir haben's geschafft, Kleines!", murmelte er froh. "Bei allen Asen und Wanen, wir haben diese Nacht überstanden! Jetzt werden wir doch den Rest auch noch schaffen!"
Und mit einem Gefühl, als hätten sie mindestens schon die Alpen hinter sich, trieb er das Pony zu einem schnelleren Schritt.
Als eine blasse gelbe Scheibe stieg die Sonne hinter den Bergen auf.
~ Ende dieser Geschichte ~
Fortsetzung folgt…hier