„Oh, entschuldige!“ Leontia lachte sehr verlegen. „Ich wollte doch keineswegs andeuten… nur ein Missverständnis, entschuldige vielmals, wie dumm von mir…“ Sie versuchte, sich vor Augen zu führen, dass nicht alle Männer sich so radikal von ihren Verflossenen trennten, wie ihr Vater es zu tun pflegte, aber es fiel ihr schwer. Sie kannte doch, außer ihm, kaum Männer, eigentlich nur die in ihrem Verwandtenkreis. Außerdem Sklaven, die ja nicht zählten, und Gestalten aus der Literatur, die oft noch extremer handelten…
Verblüfft hörte sie Gracchus’ Empfehlungen bezüglich ihrer Lektüre. „Die Remedia Amoris, sicher, und – die Ars Amatoria?“ Wirklich? Ihre Amme hatte sie immer vor dieser Schrift gewarnt und ihr eingeschärft dass es ein ganz und gar verworfenes Werk sei… Aber wenn Gracchus es ihr ans Herz legte, würde sie es natürlich lesen! Leontia vertraute ihm in dieser Hinsicht blind. Außerdem hielt sie sich selbst in ihren Tugenden für gefestigt genug, um den Anfechtungen zu widerstehen, die aus einer Schriftrolle möglicherweise auf sie einwirken könnten. „Gut, das werde ich tun.“, beschloss sie. Aber Dido durfte nichts davon merken, sie würde sie sonst bestimmt fürchterlich ausschimpfen. Und auch wenn Leontia die Herrin war, und Dido eigentlich eine Sklavin, lehrten die Schimpftiraden ihrer alten Amme sie noch immer das Fürchten.
Kurz fragte sie sich, welche Gedanken sich wohl hinter Gracchus’ hintergründigem Lächeln verbergen mochten. Es war schon ein wenig seltsam mit Manius, mal hatte sie das Gefühl, ihn ausgesprochen gut zu kennen, dann wiederum erschien er ihr beinahe mysteriös… Sie legte den Kopf schief und lauschte ihm mit vollkommener Aufmerksamkeit als er begann von seiner Bestimmung zu erzählen, und von seinen Geschwistern… Es fiel ihr schwer, ihn sich als Kind vorzustellen. Ein wenig beneidete sie Aquilius, dass er an der Seite von Gracchus in Achaia hatte aufwachsen dürfen, dass es ihm vergönnt gewesen war, mit ihm zu lernen, und, wie es schien, ihn zu Höherem zu inspirieren.
Als er von Animus sprach, spukte wieder Minervinas Enthüllung in ihrem Kopf herum. Gerne hätte sie ihn dazu gefragt, doch auf irgendeine Weise erschien es ihr unverschämt, so schwieg sie, und nickte nur betreten. Was hatten diese Sekte bloß an sich, wie gelang es diesen Leuten nur immer wieder, aufrechte Römer vom Glauben abzubringen? Nach allem was sie gehört hatte, musste es sich doch um eine höchst absurde Lehre handeln… was konnte denn bloß so anziehend daran sein? Merkwürdig, sehr merkwürdig… ein Hauch von Neugier regte sich in ihr.
„Ich kann nicht glauben, dass du nicht mutig bist!“, widersprach sie ihm energisch. „Du bist einfach zu bescheiden, Manius. Den alltäglichen Militärdienst nicht als das Nonplusultra anzusehen, dass hat noch nichts mit mangelndem Mut zu tun. Es soll dort doch wirklich zumeist sehr ennuyant zugehen, für einen gebildeten Geist muss das wie der Tartaros sein. Doch ich bin mir ganz sicher, dass du in einer Schlacht einen mitreißenden Heerführer und glänzenden Strategen abgeben würdest!“ Vollkommen überzeugt lächelte sie ihn warm an, während sie diese Worte sprach. Manius und nicht mutig – so ein Unsinn! Niemand sonst konnte so kühne Gedankengänge verfolgen, furchtlos Hypothesen erstellen und wagemutig glänzende Schlüsse ziehen wie er. Außerdem hatte er sich gegen den Willen ihres Vaters gestellt, als er den Kontakt zu ihr gehalten hatte, und das wagten nur wenige. „Du bist wirklich zu bescheiden!“, wiederholte sie.
Ein verworrenes Netz? Leben in die Hand Iuppiters? Etwas unheilvolles schwang in diesen Sätzen mit, sie schienen Leontia trübe wie ein aufgewühlter See, dessen Grund man nicht erblicken kann. Sie legte den Kopf noch etwas schräger, lauschte konzentriert, und zupfte dabei an ihrem Ohrring. „Fluchtartig?“, fragte sie vorsichtig. „Aber welche – wenn du mir die Frage erlaubst – welche Gefahr drohte dir denn in Achaia?“
„Ich gewinne den Eindruck, dass die Götter dich über verschlungene Wege geführt haben, nur um dich am Ende doch deiner wahren Bestimmung zuzuführen.“, sprach sie schließlich nachdenklich. „Und ich glaube, dass du sowohl dem Volk Roms am besten dienst, als auch unserer Familie am meisten Ehre machst, indem du dich dieser widmest. Du … du tust doch wahrlich für beide sehr viel. - Lass mich dir bei dieser Gelegenheit noch mal danken, für das wunderbare Saturnalienfest! Du hast alles so schön ausgerichtet, das Essen und der Wein, und die Dekoration und überhaupt der ganze Ablauf, es war traumhaft, einfach perfekt.“