Als Nikolaos, Nes folgend, den Garten der Anlage betrat, umhüllten ihn sogleich die schweren, feierlichen Düfte der vielen Blumen. Er atmete tief ein und behielt die Ausdünstungen der unzähligen Blüten lange in der Lunge, bis sie ihm ins Hirn zu steigen schienen und dort das Gefühl eines leichten Rausches erzeugten. Nikolaos schien, als sei dieser ganze Aufwand zu diesem Zweck betrieben worden, um die Besucher in eine Art Betäubung zu versetzen, damit sie für das Heilige empfänglicher wären. Nikolaos Augen, die soeben noch nur das trübe schmutzige Braun der Elendsquartiere und deren Bewohner gesehen hatten, mussten sich zu Anfang noch an die vielen, klaren Farben gewöhnen, an die Blütenblätter, die vom Sonnenlicht beschienen aussahen, als leuchteten sie von selbst und an die grellen Farben der bemalten Wände. Er schien eine andere Welt betreten zu haben. Konnte er seinen Sinnen trauen? Er befürchtete, vom Geist dieser Mauern schon penetriert worden zu sein, und so sehr er diese Vorstellung fürchtete so sehr gefiel sie ihm gleichzeitig. Es war längst nicht das erste Mal gewesen, da er einen heiligen Ort aufgesucht hatte, in Athen war er oft in Tempeln gewesen, vor allem im Tempel der Athene, dennoch befiel ihn jedes Mal, da er einen solchen Ort betrat, ein eigenartiges Gefühl, das keineswegs beklemmend war, sondern vielmehr erregend. Er konnte mit Nes nur schwer schritthalten, zu sehr nahm die Pracht des Gartens seine Sinne in Anspruch. Und er drehte sich mehrmals nach Artoria Medeia um, um sicher zu gehen, das s sie nicht zurückblieb. Vielleicht war dies ein Rest seiner eher konservativen (in wiefern man dieses Wort auf Hellenen anwenden wollte und konnte) Erziehung übrig geblieben, der ihm gebot, Frauen stets rücksichtsvoll und wie schutzbedürftige Wesen zu behandeln.
"Deine Vermutung ist richtig.", antwortete er auf Nes Frage und lächelte sanft. Er empfand Nes Gesellschaft durchaus als angenehm, der Tempeldiener oder welche Funktion auch immer er ausführen mochte, schien ein durch und durch höflicher Mensch zu sein.
Als Artoria Medeia auf die Frage, wessen Teil des Tempels sie zuerst besuchen wollte, antwortete, sie wolle zuerst den der Isis besuchen, ging ein freudiger Ausdruck über Nikolaos Gesicht. Teilte sie sein inniges Verhältnis zu Isis, der großen Mutter und Hexe, jener, die sowohl nährende Milch als auch Gift von sich geben konnte, die treue Geliebte und die Zerstörerin. Beim letzten Aspekt kam ihm ein Gedanke, den er seiner Begleiterin bald mitteilen wollte.
Plötzlich bemerkte Nikolaos die Narben an Nes Armen. Nikolaos hielt es für unwahrscheinlich, dass dies Spuren spiritueller Selbstverstümmelung sein konnten. Waren es also Spuren von Misshandlungen? Nikolaos war einen Moment in Gedanken versunken und verlor den Anschluss, doch Medeia hatte rücksichtsvoll auf ihn gewartet. Er bedankte sich dafür mit einem Lächeln.
Dann folgte er ihr in den Vorhof des Tempels. Am Wasserbecken legte er seine Chlamys ab, um mit den Händen unbehindert Wasser aufnehmen zu können und sein Gesicht damit zu reinigen. Mit dem Straßenschmutz und dem Schmutz seines sterblichen Charakters im Gesicht wollte er der Göttin nicht gegenübertreten. Als er fertig war, stellte er sich an Medeias Seite. Nes hatte eine Frage gestellt. "Aber ja", antwortete Nikolaos, in gewohnter Freundlichkeit. "Ich weiß, dass ich nicht einfach für Artoria Medeia sprechen kann, doch in diesem Fall bin ich mir sicher, dass sie sogar bewanderter ist, als ich selbst.", sagte Nikolaos und schenkte seiner Begleiterin einen freundlichen Blick. Dieser Satz war keine bloße Höflichkeit, Nikolaos glaubte wirklich, dass Artoria Medeia über die Verehrung der Isis besser bescheid wusste, sie war es schließlich auch gewesen, die ihn vor dem Tor dieser Anlage mit ihrem angelesenen Wissen über selbe beeindruckt hatte.
Eigentlich wollte Nikolaos mit seinem Anliegen noch warten, doch es wäre ungebührlich gewesen, im Inneren des Tempels Gespräche zu führen. Also trug er ihr jetzt sein Anliegen vor. "Artoria Medeia", begann er, "Vielleicht irre ich, doch falls ich dies nicht tun sollte, scheinst auch du Isis besonders zu verehren. Isis ist die große Mutter, in ihren Schoß kehren wir alle zurück, auch Bakhos kehrt in den Schoß der anderen, dunklen Gestalt der Isis zurück und wird zerrissen*. Doch aus dem Blut, das aus seinem zerfetzten Leib auf die Erde, zurück in Isis Schoß, tropft, wachsen Blumen, Getreide, Getier und wir Menschen. Und der Rufende kehrt immer wieder zurück in den Schoß seiner Mutter und Amme und wird genährt von ihrer Milch, die wie Wein ist, und wird zerrissen." Seine Stimme überschlug sich fast im religiösen Eifer. "Bald werden wir Dionysos empfangen, hier, in Alexandria." Er zögerte kurz. "Ich wollte dich fragen, ob du mit daran teilnehmen möchtest."
Sim-Off:* Nikolaos verquickt hier den Osiris-, den Dionysos- und den Kybele-Mythos.
edit: letzten absatz eingefügt