Beiträge von Sibylle

    Es verging eine Weile, bis die Geräusche fast verebbten und sich wenig später eine Figur aus der diffusen Dunkelheit des Ganges löst. Zielstrebig, aber ohne Eile, schritt die Priesterin auf den Pilger zu und überreichte ihm eine Wachstafel.


    "Das Orakel hat deine Fragen beantwortet. Lies selbst, was das Fatum für dich bereithält."


    Nachdem sie die Wachstafel übergeben hatte, trat sie einen Schritt zurück, um nicht beim Lesen zu stören, aber für Fragen noch zur Verfügung zu stehen.


    Der Wald hat weit mehr Lücken als Bäume, und trotzdem erscheint er undurchdringlich. Nur wer hinein geht, kann auch wieder heraus kommen, aber weder hier noch dort wird die Arbeit ihn rufen, denn die Stille übertönt jedes Geräusch. Wer im Wald steht, kann den Mond nicht sehen, doch jener sieht mehr als nur den einen Wald. Du fragst nach einem Weg und kennst doch schon alle Antworten, denn ohne Ziel gäbe es auch keinen Start.

    Die Priesterin umschloss die Opfergabe mit der Hand und nickte.


    "Das Opfer wird zufrieden sein und deine Frage entgegennehmen. Warte hier, bis ich dir die Antwort überbringe."


    Damit drehte sie sich um, entfernte sich mit nahezu lautlosen Schritten und betrat den Gang, der in das Innere der Orakelstätte führte. Bald darauf drangen leise, undefinierbare Geräusche aus dem Gang und erfüllten diffus den Raum.

    "Dann werde ich dies so tun. Dann brauchst du mir nur noch die Opfergabe für das Orakel zu übergeben", erinnerte die Priesterin den Pilger und streckte ihre Hand aus, damit er ihr den nötigen Orakelweihrauch überreichen konnte.

    "Dann folge mir bitte und wir werden sehen, was das Orakel für dich bereithält", antwortete die Priesterin weiter mit freundlicher Stimme und ging voran, um dem Pilger den richtigen Weg zu weisen. Dann kamen sie an jenem Ort an, wo die Ratsuchenden üblicherweise warteten, während die Priesterinnen die Fragen dem Orakel übergaben.


    "Soll ich deine Frage mündlich übermitteln, oder möchtest du sie aufschreiben?"

    Im Strom der Pilger fiel ein einzelner Mann, der sich umschaute, nicht unbedingt sofort auf. Aber die Priesterinnen waren es gewohnt, die Augen offen zu halten. Nach einer Weile blieb daher eine Priesterin auf ihrem Weg stehen, drehte sich zu dem Suchenden um und ging auf ihn zu.


    "Salve. Wie kann ich dir weiterhelfen?" erkundigte sie sich mit freundlicher Stimme.

    Undefinierbare Geräusche drangen immer wieder aus dem Gang, in dem die Priesterin verschwunden war. Zu leise, um ihre Art oder Herkunft auszumachen und zu laut, um sie nicht zu bemerken. Die diffuse Dunkelheit des Ganges schien ebenso ihr Spiel mit dem Beobachter zu treiben und erschien bald abweisend und bald anziehend und blieb doch stets vor allem ein Mangel an Licht. Genauso undefinierbar wie die Quelle der Geräusche und die Dunkelheit war auch die Zeitspanne, die die beiden Ratsuchenden im Vorraum warten mussten, bis die Priesterin zurückkehrte.


    Ihre Gesichtszüge verrieten nichts und nur die Tatsache, dass sie in jeder Hand eine Wachstafel hielt kündete davon, dass das Orakel Antworten preisgegeben hatte. Als erstes wandte sich die Priesterin an den wartenden Mann, da dieser seine Frage auch zu erst gestellt hatte.


    "Diese Antwort ist für dich."


    Damit überreicht sie ihm eine der beiden Tafeln.


    Wer den Flug der Vögel kennt, findet sicher den Weg durch die Wüste.
    Kein Weg steht auf der Karte, den niemand eingezeichnet hat.
    Wer ein Bild verkaufen will, muss erst einmal Farben besorgen.
    Niemand führt das Steuer, bevor er die Taue geprüft hat.
    Die Brücke trägt den am besten, der den Balken mit eigener Hand gesägt hat.
    Wer den Faden in die Nadel führt, braucht sich um den Stoff nicht zu sorgen.
    Bücher enthalten viele Sprüche, doch nicht jeder passt zum Tag.
    Der Bote trotzt Wind und Wetter, wenn das Wachs erst die Schrift bewahrt.
    Holz gibt keine gute Suppe, aber der Topf braucht das Feuer.
    Wer den ersten und siebten der vier kennt, findet die Löwen.


    Anschließend wandte sie sich an die warten Dame.


    "Die Antwort des Orakels auf deine Frage ist hier niedergeschrieben."


    Mit diesen Worten überreichte sie die zweite Tafel.


    Der große Hase sitzt vor dem Haus und die Möhren lagern im Keller.
    Das Huhn darf nicht auf dem Zaun sitzen, aber der Bär in der Schaufel.
    Nicht nur die Buchstaben sind bunt und der mittlere Finger ist die Acht.
    Der blaue Teller ist besser als der gelbe, aber vergiss nie den zweiten Saft.
    Beide kuscheln!


    Dann trat sie zwei Schritte zurück und blieb schweigend stehen, für den Fall, dass es noch Fragen gab.

    Dass ihr die erste Frage ins Ohr geflüstert wurde, war für die Priesterin nichts ungewöhnliches. Häufig trauten sich Menschen nicht, ihre Fragen laut auszusprechen, vor allem nicht in Gegenwart anderer Personen. Manche flüsterten dann so wie dieser Mann, andere hatten sie auf einer Tafel vorbereitet und manche schienen geradezu überrascht von der Tatsache, ihre Frage überhaupt irgendwie einem anderen Menschen offenbaren zu müssen. Die Priesterin ließ sich in ihrem Dienst davon nicht beirren und behielt ihr sanftes Lächeln bei, als sie die Frage mit einem Nicken quittierte.


    "Ich werde der Sibylle deine Frage übermitteln."


    Ungewöhnlich war die Frage nicht. Junge Menschen kamen vielfach in diesen oder zumindest sehr ähnlichen Angelegenheiten und das Orakel schien vielen von ihnen eine befriedigende Antwort geben zu können. Ein Kommentar dazu stand der Priesterin aber nicht zu, denn sie war nur Mittlerin zwischen den Menschen und dem Orakel.


    Auch die Dame schien verunsichert, wie schon ihre ersten gestammelten Worte offenbar hatten. Die Not, ihre Frage in Anwesenheit fremder Ohren zu stellen, wurde ihr zwar genommen, aber im Gegenzug dazu schien ihr die Aussicht auf einen Aufenthalt ganz alleine im Vorraum ebenfalls Unbehagen zu bereiten. Ihre Frage war dann jedoch eine, die die Priesterin ebenfalls schon von mehreren Frauen gehört hatte. Und wieder verbot ihr Amt jeglichen Kommentar bis auf ein Nicken zur Bestätigung der Frage.


    "Auch diesen Wunsch nach Antwort werde ich der Sibylle übermitteln. Wartet beide hier, bis ich mit einer Antwort zurückkehre."


    Damit machte die Priesterin kehrt und ging mit ruhigen, leisen Schritten ebenso geräuschlos wie sie gekommen war wieder zum einen Ende des Vorraums, von dem aus ein mysteriöser Gang ins Innere der Orakelstätte führte und aus dem bald leise, nicht zu deutende Geräusche drangen.

    Die Priesterin lächelte sanft und ließ nicht das kleinste Zeichen von Ungeduld erkennen, während die angesprochene Dame ihre Antwort stammelte. Sie wusste, wie verwirrend dieser ehrwürdige Ort sein konnte. Außerdem waren es oft Menschen mit Sorgen oder Ängsten, die den Rat des Orakels suchten und die deshalb so sehr mit sich selbst beschäftigt waren, dass die Umgebung sie umso mehr überraschte. Eine der heiligen Aufgaben der Priesterinnen war es, diesen Gästen den Aufenthalt so leicht und angenehm wie möglich zu machen.


    "Dann seid willkommen und vertraut darauf, dass die Sibylle alles tun wird was nötig ist, um eure Fragen mit dem Allwissen des Orakels zu beantworten."


    Sie streckte dabei beiläufig ihre Hand aus, um die Gaben entgegen zu nehmen. Es sollte nicht nach Bezahlung aussehen oder nach einem Tauschhandel, sondern wie die bescheidene Annahme einer Spende.


    "Ich kann eurer beiden Fragen der Sibylle vortragen und sie wird jedem von euch eine Antwort geben. Doch es wird freilich etwas länger dauern als bei einer Frage, denn selbst wenn ihr gleichzeitig sprechen könnt, so kann das Orakel doch nur eine Frage zur gleichen Zeit beantworten."

    Niemand sonst wartete im Vorraum des Tempels. Schon seit geraumer Zeit hatte das Orakel eine nachlassenden Zuspruch erfahren. Andere Kulte schienen den Menschen mehr zu versprechen oder auf eine andere Art und Weise angenehmer zu sein. Die Priesterinnen des Orakels störte dies jedoch nicht. Sie versahen ihren heiligen Dienst weiter mit derselben Freude und Genauigkeit, wie sie es schon vor Generationen getan hatten. Und offenbar hatte sie auch genug Nachwuchs, denn die Priesterin, die jetzt den Warteraum betrat, sah nicht allzu alt aus.


    "Ihr sucht den Rat des Orakels? Dann seid willkommen und erfreut euch an seiner ewigen Weisheit und Wahrhaftigkeit. Habt ihr die nötigen Gaben mitgebracht und eure Fragen vorbereitet?"


    Sim-Off:

    Aurelia Prisca hat das gewünschte Angebot in der WiSim.

    Während der Tribun am Ende des Raumes in sich zusammensank, erstarb das Singen und Klagen langsam, bis Stille herrschte in der Grotte. Beendet wurde diese wiederum von den langsam lauter werdenden Schritten der Priesterin, wobei diese so leichtfüßig schritt, dass ihre Schritte selbst in nächster Nähe nie wirklich laut klangen. Sie zögerte einen Moment, als sie den Tribun erblickte, schritt dann aber mit einem sanften Gesichtsausdruck auf ihn zu.


    "Nur Mut. Dies ist ein Ort der Vorsehung, des offenen Blicks, der in die Ferne führenden Schritte. Dein Schicksal wird nicht hier entschieden, nur ergründet", versuchte sie ihn wieder aufzurichten, bevor sie ihm eine kleine, verschlossene Wachstafel reichte. "Die Antwort auf deine Frage findest du hier."



    Alles beginnt am Anfang
    Bevor es am Ende zerbricht
    Chaos füllt dazwischen die Leere
    Dunkelheit verhüllt das Licht
    Es ist nicht dein Weg den du gehst
    Freiheit kennt nur der Traum
    Gefühle kannst du nicht brechen
    Handeln musst du jederzeit
    Immer auf dem Weg zum Ziel
    Jeder schaut sich um
    Keiner schaut zurück
    Liebe ist ein Schritt
    Meistens steht er am Beginn
    Nur selten führt er zum Ziel
    Ohne Angst fragst du nach dem Ziel
    Planst du den Weg ohne andere
    Quer durch die Zeit
    Selbst ohne Traum
    Tief gebeugt gehst du fort
    Unsicher zum Licht
    Verfolgt von der Leere
    Wende dich nicht um
    X war deine Frage
    Y ist die Antwort
    Zuversicht ist die Unbekannte

    Die Liebe war ein häufiges Thema, dass Männer und Frauen gleichermaßen zum Orakel führte. Wie man sie fand, wie man sie band, wie man sie überstand, das waren die häufigsten Fragen. Und manchmal eben auch, wie man sie wieder loswurde, so wie bei diesem Mann. Für die Priesterin also nichts überraschendes, die seine Hände nun wieder losließ, sich das Säckchen mit dem Weihrauch unter die Nase hielt und dann nickte.


    "Ich werde der Sibylle die Frage überbringen. Wartet hier." Mit dem Säckchen machte sich die Priesterin auf, den langen Gang in die Grotte hinein zu gehen.


    Einzige Zeit, nachdem die Priesterin am Ende von der Dunkelheit verschluckt worden war, erklang aus der Grotte ein Gemisch aus Singen und Klagen.

    Die Priesterin sah den Besucher milde lächelnd an, der einigermaßen verwirrt zu sein schien. Mit einem Griff nahm sie die Gabe aus seinen Händen entgegen, nicht ohne das Zittern zu bemerken.


    "Und wie lautet die unbeantwortete Frage, die dich bedrückt und deine Hände erbeben lässt und die die Sibylle dir beantworten soll?", fragte sie ebenso freundlich wie zuvor und sah den Mann neugierig an.

    So schnell, wie der Handel abgeschlossen war, so schnell kümmerte sich später auch eine zum Orakel gehörige Jungpriester um den Pilger. Niemand sollte zu lange warten müssen, denn schließlich verstanden nicht nur die Händler ihr Geschäft, sondern auch die Orakelpriester.


    "Du bringst eine Gabe für die Sibylle, damit sie dich von der Last einer unbeantworteten Frage befreie?", fragte sie freundlich.

    Für einen Tauben wäre die Zeit in der Grotte wohl stehen geblieben, so regungslos zeigte sich der Raum um das Ehepaar. Für alle anderen ließ sich die Zeit an dem Gesang abmessen, der aus dem Inneren des Orakels drang. Der Gesang schwoll an. Der Gesang erstarb. Der Gesang setzte ein. Der Gesang schwoll an. Der Gesang verwandelte sich in ein regelrechtes Kreischen. Der Gesang erstarb. Der Gesang setzte ein. Der Gesang schwoll an. Der Gesang erstarb. Der Gesang setzte ein.


    Irgendwann dann schob sich ein weißer Fleck vor die dunkle Öffnung zum Orakel, der sich bald als die junge Priesterin herausstellte, die dem Ehepaar durch Licht und Schatten immer näher kam. Als sie vor ihnen stand hob sie eine Wachstafel und sprach ohne sich darum zu kümmern, ob sie ein Gespräch unterbrach: "Hört, was das Orakel euch zu sagen hat!"


    Dann verlas sie mit monotoner Stimme die Worte, die in grober Handschrift in das Wachs geritzt waren:



    manchmal ergeben drei fünf Räder am Wagen
    manchmal ist der Abend rot
    manchmal fällt das Ei von der Mauer
    und fängt es keiner auf dann ist es tot


    manchmal fährt das Schiff ohne Segel
    manchmal hört ihr Stimmen die keine sind
    manchmal spricht das Kind hinter dem Spiegel
    manchmal ist es nur der Wind


    manchmal dreht sich die Welt und steht dabei still
    manchmal nehmt ihr den Löffel anstatt das Messer
    manchmal ist das durchaus von Vorteil
    denn mit stumpfer Klinge schneidet es sich besser


    wenn ihr den Regen nicht spürt steht ihr am Grunde der See
    wenn keine Trauben aus den Ranken wachsen leidet der Boden Not
    dreht euch dreimal im Kreis und sagt die Losung
    denn sonst ist das Ei am Abend tot



    "Möchtet ihr die Weissagung des Orakels mitnehmen?" Sie hielt Aurelius Corvinus die Tafel hin, denn sie ging davon aus, dass er sie tragen musste.

    Da die Priesterin nicht nur jung war, sondern auch schon sehr lange der hiesigen etwas weltfremden Priesterschaft angehörte, verstand sie wenig von arrangierten Ehen und damit einhergehenden politischen Arrangements. Während sie den Beutel öffnete und an dem Weihrauch schnupperte, überlegte sie deshalb, was wohl der Zweck dieser merkwürdigen Frage war? Richteten sich die beiden neu ein und wollten so die Anzahl der zu kaufenden Gedecke ermitteln? Oder ermittelten sie die notwendige Summe für die zukünftig auszurichtenden Hochzeiten, um frühzeitig mit dem Sparen anzufangen? Das allerdings würde nicht funktionieren, denn die Frau hatte nur nach der Anzahl gefragt, aber nicht nach dem Geschlecht der Kinder.


    Der Duft des Weihrauchs kitzelte in der Nase der Priesterin und diese nickte. "Ich werde der Sibylle die Frage überbringen. Wartet hier."


    Mit dem Säcklein machte die junge Frau sich auf, den langen Gang in die Grotte hinein zu gehen.


    Nachdem die Priesterin am Ende von der Dunkelheit verschluckt worden war, erstarb der hintergründige Gesang für einen Augenblick. Dann hob er um so lauter wieder an. Aus der Grotte drang ein Gemisch aus Singen und Klagen.

    Die junge Priesterin griff nach dem Weihrauch, zögerte jedoch als Corvinus weiter sprach. Der Mann schien fast wie der Sklave seiner Frau. Er trug das Geschenk und sprach für sie.


    "Wie lautet deine Frage?" wand das Mädchen sich an Celerina. Dann nahm sie das Säcklein aus Corvinus Hand, öffnete ihn aber noch nicht.



    Sim-Off:

    das Angebot solltest du haben

    Der Anschein, daß sie allein mit sich selbst waren, trügte. Längst stand eine junge Priesterin schräg hinter ihnen. Sie war fast noch ein Kind. Der milchig weiße Stoff ihres Kleides war hauchzart und durchscheinend, bedeckte sie jedoch mit mehreren Lagen. Auch ihr Schleier war aus diesem Stoff und darunter schimmerte hellblondes, beinahe weißes Haar.


    "Bringt ihr ein Geschenk für Apollo?" fragte sie unvermittelt mit unschuldiger, melodischer Stimme ohne eine Begrüßung und ohne sich vorzustellen. Sie selbst war nicht mehr als ein Staubkorn im ewigen Kreislauf des Orakels.

    Die Priesterin nickt aufmunternd, dass Tilla die Tafel ruhig öffnen könne. Das Mädchen vor ihr tut ihr etwas leid, doch so ist das mit der Wahrheit. Sie lässt sich nicht leugnen, nicht biegen und nicht aufblähen. Die Frage der Sklavin ist beantwortet wie jede andere Frage, die der Sibylle gestellt wurde, mit der Wahrheit.


    Schon viele Menschen hat die alte Frau von diesem Ort fort gehen sehen. Die wenigsten haben ihre Antwort nach dem ersten Lesen verstanden. Der Großteil von ihnen hat sie vermutlich niemals verstanden. Dennoch gingen viele mit einem Aufleuchten in den Augen, denn sie glaubten genau die Antwort erhalten zu haben, die sie hören wollten. Auch keine Antwort ist eine Antwort, doch der Interpretationsspielraum ist viel geringer.

    Allmählich verstummen die seltsamen Geräusche und Stille zieht durch den Raum. Ganz still ist es natürlich nicht, denn Tilla Romania und Aurelia Prisca sind noch da, ihre Gewänder rascheln, ihre Füße hinterlassen leise Spuren auf dem Boden und ab und zu zischt eine flackernde Flamme. Und dann mit einem Mal steht die alte Priesterin hinter den beiden jungen Frauen.
    "Die Antwort des Orakels."


    Sie wartet, bis die beiden sich zu ihr umdrehen und reicht Tilla eine verschlossenen Wachstafel. Sie wird sie nicht vorlesen, denn sie kennt die Antwort bereits und weiß, dass kein Laut aus ihrer Kehle dringen muss.




    Die beiden jungen Frauen scheinen sich nicht bewusst zu sein, was dort hinter dem Gang liegt. Es ist mehr als nur eine Höhle im Fels, mehr als ein Kultraum, es ist das Orakel und doch nur Teil dessen, nichts ohne die Sibylle, nichts ohne die Götter. Es ist das Tor zur Welt, das Tor ins Elysium und das Tor in den Hades, das Tor in jeden einzelnen Menschen und aus jedem Gedanken heraus. Es ist ein Raum wie es Zeit ist, es ist Vergangenheit und Zukunft, Gegenwart und Traum, Anfang und Ende. Blass ist die Erinnerungen der alten Priesterin, voller lebendiger Farben, jede Sekunde, in der sie selbst Teil des Orakel war ist tief in ihr verankert und doch nur nebulöses Andenken an ein fernes, längst vergangenes Leben. Wissend nickt sie Aurelia Prisca auf ihre erstaunte Frage zu und nimmt dann die Tafel der Sklavin entgegen.


    Die Worte Tillas über ihre Vergangenheit gleiten an der Alten vorbei wie ihre eigene Erinnerung. Nichts von alledem ist bedeutend für das Orakel, nur die Frage, die sie in ihren Händen trägt.
    "Wartet hier, ich werde dem Orakel deine Frage überbringen."


    Ohne einen Blick zurück verschwindet die Priesterin in dem Gang, welchen sie schon so oft mit Fragen betreten hat. Der dunkle Schatten der Felsen verschluckt sie, nur dass das helle Tageslicht, das durch die Öffnungen im Stein fällt, sie danach wieder einhüllen kann. Licht und Schatten, Frage und Antwort, Schatten und Licht, Frage und Antwort, bis dass das Orakel die Alte verschluckt.




    Während Prisca und Tilla im nun leeren, gewölbeartigen Raum warten, ertönt vom Ende des Gangs her ein leises Pfeifen, dann ein Summen und Surren, vielleicht von menschlichen Stimmen erzeugt, vielleicht von merkwürdigen Instrumenten. Heulend zieht ein Windhauch durch den Gang zu ihnen, vielleicht ist es auch das Klagen einer Frau, doch was immer es ist, die Flammen in den Feuerschalen, die den Raum erhellen, flackern in seinem Luftzug.