Beiträge von Sibylle

    Wissend nickt die alte Frau und lächelt unbestimmt. Dann streckt sie ihren Arm aus, das weite, weiße und ein wenig ausgewaschene Gewand baumelt um den dürren Arm und ein knöcherner Finger streckt sich zu dem langen Gang hin, an dessen Ende der Orakelraum verborgen liegt.
    "Von dort." flüstert sie als würde die Luft um sie herum keinen Laut mehr ertragen. Ihre Augen leuchten auf, ganz so als würde sie sich an etwas erinnern, was dort hinten verborgen liegt. Langsam zieht sie die Hand zu sich zurück und legt sie schließlich um Tillas Hand, auf welcher der Stein liegt. Mit sanftem Druck schließt sie ihre Hand und damit auch die der Sklavin um den blauen Stein.
    "Was zusammen gehört, findet zusammen. So war es immer und so wird es immer sein."


    Sie streicht über Tillas Hand und tritt eine Schritt zurück.
    "Aber das ist nicht deine Frage. Wähle sie weise und bedenke, dass das Orakel stets Wahrheit spricht."
    Nicht selten suchen Fragende keine Antworten, sondern nur Bestätigung. Doch das Orakel schert sich nicht um Wünsche, es verkündet unverblümt sein Wissen.

    Eine römische Dame, die ihrer Sklavin ein Orakel lesen lässt, dies wäre vielleicht nicht ungewöhnlich. Doch eine Dame, die ihrer Sklavin gewährt, der Sibylle eine Frage zu stellen, das ist ungewöhnlich. Es muss eine ungewöhnliche Dame sein. Oder eine ungewöhnliche Sklavin. Oder beides zugleich.


    Ein bisschen zittrig nimmt die Alte den Beutel entgegen und öffnet ihn, bevor sie ihn vor ihre Nase hebt, die Augen schließt und tief einatmet. Würziger Duft zieht durch ihre Sinne, intensiv und angenehm zugleich. "Gut. Das ist gut."


    Blinzelnd öffnet die Priesterin wieder die Augen als das lautlose Flüstern die Geräusche der Welt übertönt. Sie blickt auf den blauen Stein und streckt eine Hand, um ihn zu berühren. Doch sie hält einen Finger breit vor der schimmernden Oberfläche inne, streicht über die Luft als würde sie den Stein berühren. "Es ist lange her, dass ich so etwas gesehen habe. Woher hast du ihn?"

    Geduld ist die erste Tugend, welche die Fragenden im Orakel der Sibylle lernen müssen. Manchmal, weil die Priesterinnen der Sybille sich mit Absicht eine Weile verbergen, manchmal, so wie an diesem Tag, aber auch nur, weil die fürs Warten zuständige Priesterin gerade draußen ein kleines Päuschen macht und die Ankommenden nicht hört. Jene Frau, die nun auf Tilla zu schlurft, ist eine sehr alte Frau, um nicht zu sagen steinalt. Merkwürdigerweise scheint es beim Orakel nur sehr junge oder aber steinalte Priesterinnen zu geben. Das stimmt natürlich nicht, aber nur diese bekommen die Fragenden zu Gesicht. Und das kommt daher, weil die übrigen Priesterinnen im Orakelgewölbe sitzen und die jungen Mädchen noch nicht beim Orakeln dabei sein dürfen, die alten Frauen dagegen nicht mehr ganz so viele Orakelsitzungen an einem Tag vertragen oder manchmal auch einfach schon zu viele Visionen gesehen haben, um noch von irgend etwas beeindruckt zu werden.


    "Salvete!" krächzt die Alte und begrüßt die beiden jungen Frauen, weil sie im ersten Moment nicht ganz erkennen kann, dass Tilla nur eine Sklavin ist - ihr Blick ist dieser Tage nicht mehr ganz ungetrübt und oft verirren sich auch sehr einfache Bürger ins Orakel, von denen mancher schlechter gekleidet und gepflegt ist als die Sklavin.
    "Das Orakel ist bereit, eine Frage anzunehmen, doch die Götter werden nur Antwort geben, wenn die überbrachte Gabe von guter Qualität ist!"

    Irgendwann verklingt das Summen in ein leises Hintergrundrauschen. Irgendwann verweht der Weihrauch durch die Zwischenräumen hinaus ins Freie. Irgendwann legt sich der Geruch und hinterlässt der feinen Nase eine seltsame Leere. Irgendwann ebbt der Gesang zu Stille ab. Nur das beständige Tropfen des Regens hört nicht auf.


    Und auch die Zeit bleibt nicht stehen, doch ihre eintönige Monotonie wird von der Alten durchbrochen, die langsam den Gang vom Orakel her zu Lucanus schlurft. Seltsam profan sieht sie aus. Wie eine alte Frau eben, wie so viele alte Frauen in Rom. Runzlige Haut, fahle, graue Haare, ihr Gang bebückt. Vor dem jungen Mann hebt sie ihre knochige Hand, über der sich die Haut spannt, und hält ihm eine geschlossene Wachstafel hin.
    "Dies ist die Antwort der Sibylle auf deine Frage."



    Wer den Weg nicht hehr beschreitet,
    Der riskiert, dass im Halse ihm stecken bleibet
    Der goldene Löffel aus seiner Hand,
    In dessen Laffe er stets Weisheit fand.
    Vertraue der Krümmung in deinem Gesicht,
    Denn jene kennt das Rückwärts nicht.
    Wer stets gedenkt der Unsterblichkeit,
    Dem fällt zuteil die Heiterkeit
    Sich in des Lebens Rund zu laben,
    Nicht an des Weges Pfad zu zagen.
    Gegeben dir von deinem Stamme
    Glüht unersättlich eine Flamme,
    Steig du empor, hinauf nach oben,
    Wird unersättlich er dich loben,
    Fällst du hinab bis auf den Grund,
    Treibt er dich tiefer in den Schlund.
    Magst du wählen zwischen Rüben oder Kraut,
    Am Ende wird es nur in dir verdaut,
    Drum iss, um deinen Magen stets zu füllen,
    Deinen Geist in Höheres zu hüllen,
    Denn solange dich hehres Tun geleitet,
    Der Weg zum Gehen dir wird bereitet.

    Vier Fragen oder eine einzige, der Priesterin ist es gleich. Die Sibylle würde ihre Antwort finden wie immer. Doch mehr Fragen als Antworten bringen nur um so mehr Verwirrung ins göttliche Spiel, ebenso wie mehr Antworten als Fragen.


    "Warte hier, junger Herr, ich werde der Sibylle deine Frage überbringen." Mit wogenden Schritten und ohne Lucanus noch eines Blickes zu würdigen, geht die Alte zum Orakel davon. Die Zeit scheint sich zu dehnen während sie die Teilstück aus Licht und Schatten durchschreitet. Aus dem Licht in den Schatten, aus dem Schatten ins Licht, nur um wieder im Schatten zu vergehen.



    Ein Handtuch, gefaltet, um den Kopf während der Wartezeit darauf zu legen, wäre jetzt sicher nicht verkehrt. Während Licht und Schatten sich noch abwechseln, verschluckt die Orakelkammer die alte Priesterin. Stille breitet sich aus. Dann, langsam, erhebt sich ein Summen, vielleicht aus der Orakelkammer, vielleicht aber auch um Lucanus herum. Vielleicht ist es Weihrauch, der den Gang entlang schwebt, vielleicht sind es die Manen seiner Vorväter, die kommen, um Lucanus auf seiner Suche beizustehen, vielleicht sind es die Larven seiner verstorbenen Anverwandten, die kommen, um Lucanus auf seiner Suche in den Wahn zu treiben. Vielleicht ist es der Regen, der unablässig vor dem Heiligtum auf den Steinboden tropft, vielleicht ist es der Herzschlag der Götter. Vielleicht ist es der Geruch nach Weihrauch, der langsam auch Lucanus umgibt, vielleicht ist es der Geruch, welcher den göttlichen Gefilden entschwebt, wenn sie sich zur Erde hin öffnen, vielleicht ist es der Geruch des Orcus, denn auch dieser hält Antworten parat. Vielleicht sind es die Klänge einer Lyra, welche aus der Ferne herüber wehen, vielleicht ist es der Gesang einer Sirene, vielleicht ist es nur der Wind. Vielleicht vergehen nur Sekunden, vielleicht vergehen aber auch Minuten und vielleicht vergeht Zeit, die nicht gemessen werden kann, während Lucanus auf die Antwort seiner alles entscheidende Frage warten muss.

    Gerade mal so lässt die Priesterin die Entschuldigung durchgehen. Sie war schließlich auch irgendwann einmal jung - auch wenn das schon ziemlich lang her ist, denn sie hat schon alle Kaiser seit Claudius miterlebt. Aus diesem Grund empfindet sie fast auch ein bisschen Mitleid für Lucanus. Diese Fragen, deren Antworten das ganze Leben bestimmen, sind tatsächlich eine Plage, die man sein Lebtag nicht mehr los wird. Mit dem Unterschied, dass sie im Alter nicht mehr ganz so wichtig erscheinen, denn das Leben, das sie dann bestimmen, ist sowieso nicht mehr lang.


    Ein bisschen milder ist ihre Stimme deswegen als sie antwortet. "Dann lass mich sehen, was du als Opfer für die Götter dabei hast." Viel wichtiger als ein Handtuch ist in diesem Augenblick das passende Göttergeschenk. Die Alte lässt ihre knorrige Hand durch den Beutel mit Weihrauch wandern und schnuppert daran. Sie reibt ein paar Körner aneinander und zieht den Duft durch ihre Nase, bevor sie mit einem zufriedenen Lächeln nickt.
    "Nun stelle deine Frage, ich werde sie der Sibylle überbringen."

    An diesem Tag wachte eine alte Priesterin im Eingangsbereich des Orakels. Denn längst gab es nicht nur ein einziges Medium in diesen Gewölben, ebenso wie eine ganze Priesterschaft sich um sie herum angesammelt hatte. Das Echo nach der Sibylle reißt die Alte aus ihren Gedanken. Die absteigenden Gesänge lassen sie die Augen in Empörung auseinander gehen. Das Fass zum überlaufen bringt allerdings die Tatsache, dass der junge Bursche, der da im Raum steht und vor sich hinträllert, nun auch noch den Regen auf dem Boden verteilt wie ein räudiger Hund, der sich das Nass aus dem Fell schüttelt.


    "Hat man dich keinen Respekt gelehrt, junger Herr?" durchfährt ihre schneidende Stimme das letzte verklingende Echo. Ihre eigene Stimme ist dunkel und fast ein bisschen krächzend, so dass sich kein schönes Echo daraus ergibt. Nur ein leises 'er-er-er' klingt nach, während sie zu Lucanus schlurft.


    "Dies ist ein sakraler Ort und kein Spielplatz und keine Rhetorikbühne! Was willst du?" Er sieht nicht aus, wie einer, der sich den ernsthaften Fragen des Lebens stellen will. Aber auch nicht wie einer von den Straßenjungen, die den Priesterinnen regelmäßig ein paar Opferkekse abschwatzen. Eher wie einer, der sich voll getrunken hat mit Liebe oder Wein - Glück ist bekanntlich in beidem zu finden - und sich nun nach der Antwort auf die alles drängende Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest sehnt, die noch immer 42 heißt, was aber kaum jemand wahrhaben möchte oder zufrieden stellt.

    Die junge Frau lächelt nachdenklich. Verzweifelte kommen oft zur Sibylle, doch die Priesterinnen kämen überhaupt nicht mehr aus der Trance hinaus, wenn sie jede Frage ergründen würden, nur weil es einen Menschen drängt. Schnelle Orakelsprüche für ein paar Asse kann man sich unter den Kolonnaden des Circus Maximus kaufen, aber wer die Sibylle konsultiert, dem muss das schon etwas wert sein - nicht materiell, sondern den Aufwand.


    "Und," fragt sich dann ein wenig in die Länge gezogen, "was, wenn das Orakel dir prophezeiht, dass du niemals zu Geld kommen wirst? Soll dein ganzes Leben dann von Schaden gezeichnet sein?" Lachend schüttelt sie den Kopf. "Das kann ich schwerlich verantworten."



    Sim-Off:

    Die Sibylle bevorzugt den Orakel-Weihrauch, der im Handelskontor von Tylus zu erwerben ist. Nichts verklärt die Sinne besser als der Stoff aus dem Orient.

    Eifrig darum bemüht nicht entdeckt zu werden, lugte die Priesterin hinter einer Säule hervor und beobachtete jeden Schritt, den der junge Mann im Raum tat. Sie war selbst kaum älter als er, vielleicht sogar jünger. Fesch sah er aus, sicherlich wollte er sich beim Orakel erkundigen, ob seine Liebste ihm auch im Herzen zugetan war.


    Da die junge Priesterin barfuß war, war ihr Schritt kaum zu hören. Verstohlen trat sie hinter Lucanus, der nach der fragenden Begrüßung den Namen der Sibylle in die Stille rief.


    "Wenn dich eine Frage drängt, so werde ich sie der Sibylle überbringen. Natürlich nur, wenn du die Götter mit einer entsprechenden Gabe beschenkst."

    Irgendwann verklangen die Stimmen und irgendwann verflüchtigte sich der Rauch. Die junge Priesterin trat in den Gang hinein. Ihre Bewegungen waren fließend und da ihre Füße unter dem langen Gewand nicht zu sehen waren, schien es fast als würde sie bis zu Deandra schweben. Mit einem freundlichen Lächeln überreichte sie die Antwort des Orakels auf einer Wachstafel.



    Horch! Wie Nachtigallen lieblich singen auf dem Silbertablett,
    ihre Zungen geröstet in Koriander und Wein.
    Schau! Wie Lämmer lieblich schimmern auf dem Silbertablett,
    ihre Keulen gebraten in Kräuter goldbraun.
    Riech! Wie Pfirsiche lieblich duften auf dem Silbertablett,
    ihre Haut samtweich überzogen mit Honig.
    Tauche ein den Löffel und iss.

    "Die Götter sind einzig und allein dazu da, um unsere Gedanken zu ordnen." entgegnete die junge Priesterin auf Deandras an sie gestellte Frage und nahm sodann die Frage für das Orakel auf. Sie bewegte kaum sichtbar die Lippen als sie die Worte wiederholte, um sie sich einzuprägen.
    "Ich werde der Sibylle deine Worte überbringen. Bitte warte hier." Das Mädchen drehte sich um und entschwand in den langen Gang, glitt durch das Spiel aus Licht und Schatten, das die Sonne durch die Spalten im Stein warf.



    In der Grotte des Orakels hob und senkte sich bald ein Gesang, der nicht immer irdisch schien. Fernes Kreischen mischte sich dort hinein, auch Lachen und Weinen. Vielleicht war es nur eine einzige Frau, doch vielleicht waren es auch viele. Ein dumpfes Pochen begleitete die Stimmen während Rauchschwaden in den Gang drifteten und sich durch die Öffnungen im Stein verflüchtigten.

    "Du solltest dir alle Zeit lassen die du brauchst. Denn wer die Frage nicht kennt, der wird auch die Antwort nicht verstehen." Das war leider oft der Fall. Viele Menschen beklagten die Rätselhaftigkeit der Aussagen des Orakels oder aber, dass es keine klaren Anweisungen wären. Doch weshalb sollten die Götter in ihren Antworten präziser sein als die Menschen in ihren Fragen? Do ut des - ich gebe, damit du gibst - das war auch das Prinzip des Orakels.


    Dass die Antworten auch bei präzisen Fragen natürlich nicht einfach zu lesen waren, stand auf einem anderen Blatt. Doch das gehörte nun einmal zum Orakel dazu, denn die Götter drückten sich selten in so einfachen Worten aus, wie die Menschen sie nutzten und verstanden. Wer eine einfache Zustimmung oder Ablehnung wollte, der konnte sich immerhin auch mit einem üblichen Opfer begnügen und die Antwort aus den Eingeweiden heraus lesen. Trotzdem hatte die junge Priesterin, die trotz ihrer Jugend schon sehr lange im Dienst der Sibylle stand, noch nie einen unverständlichen Orakelspruch überbringen müssen.


    Sie nahm den Beutel mit Weihrauch von der Sklavin entgegen, öffnete ihn und schnupperte an den Körnern. Es war edelste Qualität, so wie die Sibylle sie liebte. Das Mädchen nickte und war bereit die Frage der Frau aufzunehmen, wenn diese bereit war sie zu stellen.

    Als würden die Priesterinnen bereits die Kälte des Winters erwarten, war das Innere der Orakel-Vorhalle mit zahlreichen Kohlebecken und Feuerschalen gefüllt, welche eine wohlige Hitze und einen goldenen Lichtschein verbreiteten. Unter der grob behauenen Decke zogen feine Rauchschwaden, die nach Weihrauch dufteten, dahin. Als Aurelia Deandra das Orakel betrat musste es scheinen, als wäre sie allein in diesem Raum. Aus dem Gang zum Orakel dämmerte ein leises Summen herüber, ansonsten war bis auf das Knistern der Feuer kein Laut zu hören.


    Das junge Mädchen, das neben Deandra trat, durchbrach die Stille. "Salve," grüßte sie mit einem freundlichen Lächeln und ruhiger Stimme. "Du bist gekommen um das Orakel zu befragen. Hast du eine Gabe für die Götter?"

    Kreischen, Gekicher und Heulen dringt zuerst leise aus dem Gang heraus und geht bald über in ein leises Gejammer. Aus dem Heiligtum weicht sonst nur das Flackern des Feuers im Inneren und es dauert lange, bis das junge Mädchen den Gang entlang zurück schwebt. Sie bemüht sich, ein ernstes Gesicht zu wahren, bis sie vor Aristides und Epicharis steht. Es ist nicht einfacht, ihren langsamen Schritt beizubehalten, denn das Drängen in den Gesichtern der Fragenden ist immer gleich.


    "Dies sind die Worte der Sibylle" Verkündet die Priesterin und beginnt die Worte von einer Tabula zu lesen.



    Den Apfel möget ihr auf den Kopf treffen, doch bedenket es fällt der Nagel nicht weit vom Stamm.
    Göttern ist viel zu versprechen, doch wer mag ihnen die Sterne vom Himmel rauben?
    Ist der Wurm erst im Holz versenkt, so wird auch der späte Vogel nicht Gold am Abend finden.
    Alles was der Morgen bringt hat der Abend verloren und dennoch wird wieder der Tag geboren.
    So wird auch der Abend niemals am Anfang stehen, sollte die Welt auch zugrunde gehen.
    Völlig in Einklang sind der Parzen Gewebe, gleich was der Mensch im Leben glaubt.
    Egal was geschieht hat noch jedes Jahr der Hades die Proserpina geraubt.
    Aber der Lauscher mit den großen Löffeln an der Wand hört gar nur seine eigene Schand.
    Meinen die einen zu gefallen, meinen die anderen zu fallen, doch werden die Worte nur leer hallen.
    Segen und Wohl, so wollen es die Ahnen verlangen, so muss es sein.
    Habt Acht und Sorge, denn der Tartaros ist nie weit.
    Ihr müsst doch beide vergehen, ob alleine oder zu zweit.


    Bestimmt hält das junge Mädchen den beiden die Tafel hin.

    Wie üblich versuchen die Fragesteller ihre Einschränkung auf eine Frage zu umgehen, in dem sie gleich mehrere Fragen in einen langen Satz einbauen. Die junge Priesterin mag noch nicht lange Priesterin sein, aber die Tricks sind immer die selben. Aber die Götter lassen sich nicht austricksen, das weiß das Mädchen. "Wartet hier."


    Sie dreht sich um und tritt mit federnden Schritten in den Gang zum Heiligtum. Ihr langes, weißes Kleid geht bis auf den Fußboden und verdeckt, dass sie auf den Zehenspitzen wippt und so ihren schwingenden Gang erzeugt. Ihre Arme schwingen im Rythmus der Schritte zur Seite und ihre ganze Gestalt hat den Anschein, als würde sie ein paar Finger breit über dem Boden schweben. Nicht zuletzt wird dieser Eindruck durch den Wechsel aus Licht und Schatten verstärkt, durch welchen sich die Priesterin hindurch bewegt, bevor sie in der Grotte der Sibylle verschwindet.


    Das Mädchen nickt ein wenig schüchtern und nimmt den Weihrauch entgegen. Sie öffnet den Beutel, greift hinein und holt ein paar Körner heraus. Nach einer Riechprobe nickt sie nochmal und versucht dabei sehr weise und erfahren auszusehen. "Die Sibylle ist bereit, eure Frage entgegen zu nehmen, ob die Götter ihr und damit auch euch eine Antwort gewähren, dies liegt nur im Ermessen der Götter."


    Umständlich hält sie den Beutel in der einen Hand, während sie mit der anderen eine Tabula hinter ihrem Rücken hervor zieht, die dort zwischen Kleid und Gürtel hing. Noch etwas mehr um Würde bemüht und mit ernster Stimme, rezitiert sie dann den Warnhinweis, der knapp zweitausend Jahre später womöglich 'Zu Risiken und Nebenwirkungen befragen Sie ihren Arzt oder Apotheker.' geheißen hätte, an diesem Tag doch folgendermaßen lautet: "Stellt nun eure Frage, Sterbliche, doch wählt weise, denn manches mal ist es besser, Antworten im Verborgenen zu lassen, als nach ihrer Enthüllung zu trachten!"

    Mit fest aufeinandergepressten Lippen beobachtet die junge Priesterin das eintretende Paar von ihrer Position hinter einer Säule aus. Seit die Frau vor dem Eingang gewartet hat, liegen die Priesterinnen auf der Lauer und das junge Mädchen war ausgewählt worden, die Frage der Dame aufzunehmen. Mittlerweile ist auch noch ein Herr hinzugekommen und die Priesterin wartet noch ein wenig, um die Spannung, die bei so einem Akt der Orakelbefragung immer besonders wichtig ist, zu steigern.


    Dann tritt sie eilig hinter der Säule hervor. Für die beiden Fragesteller muss sie anscheinend urplötzlich aus dem Nichts erscheinen, denn wer würde schon vermuten, dass sie schon die ganze Zeit hinter der Säule ausharrt?


    "Salve!" Obwohl sie versucht sehr bestimmt und sicher zu klingen ist ihre Stimme doch nur die eines jungen Mädchens, das gerade wenige Monate zu den Frauen gezählt wird.

    Aus dem Lärm wird Stille, aus der Stille tritt die Priesterin hervor, aus dem Schatten ins Licht, in den Schatten ins Licht, bis sie schließlich vor Claudia steht. Emotionslos und unbeteiligt liest sie die Weissagung der Sibylle vor.


    "Dies sind die Worte der Sibylle:


    Dunkel wirds, der Mond scheint helle,
    Laufe Biest, verlier dich in der Schnelle!
    Denn nur das vorwärts wird dich retten,
    Verharren musst du längst in Ketten.
    Der Morgen verhangen, von Nebel schwarz,
    Wie Blut erscheint das Abendrot.
    Warte, nur warte,
    Und der Tag ist tot.
    Die Furien mit dir auf dem gleichen Schiff,
    Es steuert beharrlich auf das verborgene Riff.
    Haltlos entfesselt, voll rasender Gier,
    Wo ist das dort und wo ist das hier?
    Den Löffel hältst du fest in der Hand,
    Gräbst dir dein eigenes goldenes Grab,
    Warte, nur, warte,
    Und der Tag senkt sich herab.
    Nach vorn, zurück, im Kreis herum,
    Weise sind die Weisen, doch wer ist dumm?
    Schau in dich hinein, sieh dein wahres Gesicht,
    Wer ist schön, wer ist es nicht?
    Der Höllenhund ist nah und gierig,
    Der Odem des Hades ein kalter Hauch,
    Warte nur, warte,
    Dann spürst du es auch."


    Sie lässt die Tabula, auf der die Worte geschrieben stehen, sinken, dreht sich um und verschwindet wortlos in einen kleinen Gang.

    Die übliche Frage also, dabei erübrigt es sich, eine Notiz zu machen. Noch einmal nickt die Priesterin, dann dreht sie sich mit dem Weihrauchbeutel in der Hand um und verschwindet den langen Gang entlang zum Heiligtum hin, aus dem Licht in den Schatten, aus dem Schatten ins Licht, Licht, Schatten, Schatten, Licht, bis sie in der Dunkelheit verschwunden ist.



    Stille folgt. Auf die Stille folgt Flüstern, das Flüstern wird zu Lachen, vielleicht auch das Meckern einer Ziege, vielleicht eine einzelne Frau, vielleicht zwei oder viele. Aus dem Lachen wird Kreischen, Flehen oder Weinen, vielleicht auch nur Zürnen.