Beiträge von Aurelia Helena

    Die Erklärungen über die Reise selbst interessierten Helena nicht wirklich. Zwar fand sie das Land selbst sehr faszinierend, aber sie verließ sich da lieber auf ihre eigenen Augen, sollte sie denn mal die Möglichkeit haben die Dinge zu sehen, von denen Philonicus da so begeistert erzählte. Viel interessanter fand sie es allerdings den jungen Mann weiterhin zu beobachten. Er bezog viele Gesten und Mimiken mit in seine Erzählung ein und wie sie erkennen musste, hatte er ein sehr ausdrucksstarkes Gesicht. Es gab Männer, die egal was sie erzählten, es mit einer unglaublichen Langeweile paarten. Philonicus schien nicht so einer zu sein. Als er auf ihre Frage zu sprechen kamm schmunzelte Helena und zwinkerte ihm kurz zu.


    "Ein erregender Anblick? Nunja, es kommt ganz darauf an, wer diese Schürzen trägt. Bei manchen Männern, könnte ich auf diesen Anblick sicher verzichten."


    Einen Moment lang hielt sie seinen Blick noch fest bevor sie erneut nach den Weintrauben griff. Sie wollte auf das Hauptessen warten und obwohl reichlich Obst auf dem Tisch stand, ließ sie das meiste unbeachtet. Ein leises Gemurmel hinter sich erregte ihre Aufmerksamkeit. Die beiden Sklavinnen unterhielten sich leise miteinander, bzw nur die Blonde redete, während Tilla fleißig gestikulierte. Helena runzelte mißbilligend die Stirn. Vielleicht sollte sie Ursus darum bitten den Sklaven ein wenig mehr Manieren beibringen zu lassen. Ihr Blick wanderte zu ihrem Cousin und erneut musterte sie ihn nachdenklich. Er schien seltsam unbeteiligt, kaum interessiert an dem was sie erzählten. Normal war das nicht, denn eigentlich war Ursus sehr aufmerksam. Helena seufzte leise und sah dann wieder zu Philonicus, der sich mittlerweile auch etwas von dem Obst genommen hatte und sich geradezu heißhungrig darüber her machte.


    "Reisen scheint auf jeden Fall sehr hungrig zu machen. Hast du etwa nichts Richtiges bekommen? Wer hat dich eigentlich begleitet? Vielleicht hat dich ja weibliche Gesellschaft davon abgehalten vernünftig zu essen."

    Helena war nicht wirklich bewusstlos. Sie hörte das was gesprochen wurde, wenn auch seltsam gedämpft. Allerdings konnte sie nicht darauf reagieren. Ihr Körper schien ihr nicht mehr gehorchen zu wollen. Das war ein sehr seltsames Gefühl, besonders als Siv anfing ihr ins Gesicht zu schlagen. Wie konnte sie es wagen?! Und Ursus tat nichts, um das zu unterbinden. Angestrengt versuchte Helena eine Hand zu rühren, aber es gelang ihr nicht. Auch ihre Stimme versagte ihr den Dienst, so dass sie vollkommen hilflos war. Aber es hatte auch etwas Gutes. Der Schmerz in ihrem Arm war so gut wie verschwunden. Helena spürte wir ihr Kopf leicht zur Seite ruckte, als Sivs Hand erneut ihre Wange traf. In diesem Moment beschloß Helena, dass die Sklavin bitterlich dafür würde büßen müssen.


    Sie hörte wie die Tür zu ihrem Zimmer aufging und zwei Personen hineintraten. Da sie den Kopf nicht drehen konnte musste sie sich auf ihr Gehör verlassen. Die eine Stimme gehörte zu Cadhla, aber da war auch noch eine Männerstimme, die ihr seltsam bekannt vorkam. Allerdings konnte sie sie im Moment nicht einordnen. Das musste der medicus sein. Ob er ihr helfen konnte? Zumindest aber konnte sie nun nicht mehr aufstehen. Ursus und auch auch medicus hätten das sicher nicht zugelassen. So lag der Brief immer noch im Garten, gut sichtbar für jeden, der dort vorbeiging. Und sie konnte nichts dagegen tun. Eher teilnahmslos lauschte sie dem kurzen Gespräch zwischen dem medicus und Ursus. Wieder hörte sie die Sorge in seiner Stimme und irgendetwas in ihr zog sich zusammen. Wenn sie ihn doch schon früher kennengelernt hätte!


    Plötzlich schwebte ein Kopf über ihr. Helena versuchte das Gesicht zu erkennen, aber das Bild wollte nicht klar werden. Warmes Wasser? Ich bin doch schon warm... Ein beißender Geruch drang in ihre Nase. Egal was es war, es sorgte dafür, dass Helena die Augen aufriss und mit einem Keuchen den Kopf zur Seite drehte. Sie konnte sich wieder bewegen! Helena versuchte eine Hand zu heben, um die Quelle des beißenden Geruchs fortzuschlagen, doch sie konnte ihren Arm kaum anheben. Irgendwo gab es da einen Widerstand. Langsam senkte Helena den Kopf und starrte auf das Tuch, dass sie an das Bett fesselte. Sie hatten sie also wirklich festgebunden! Wie eine Verrückte! Sie hatte gedacht, dass das ein Traum gewesen war. Aus einem ersten Impuls hinaus wollte sie sich aufbäumen und gegen die Fesseln wehren, aber sie hielt sich zurück. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte. Sattdessen wandte Helena den Kopf und sah Ursus vorwurfsvoll an. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich gedemütigt. Sie musste liegen bleiben, kaum zu einer Reaktion fähig und allem ausgesetzt, das man ihr antun würde.


    Helena spürte, dass ihr erneut die Tränen in die Augen stiegen. Damit Ursus das nicht sah wandte sie erneut den Kopf und musterte den medicus, der mittlerweile neben ihr saß. Jetzt wusste sie auch, woher sie seine Stimme gekannt hatte. Es war Decimus Mattiacus, mit dem sie sich auf der cena so nett unterhalten hatte. Was würde er wohl denken, wenn er sie jetzt sah? Helena schluckte schwer, schwieg aber erstmal. Sie wusste nicht wie sie reagieren sollte, allerdings konnte sie ihren Blick nicht von ihm wenden. Er war ihr bei ihrem kurzen Treffen sehr symphatisch gewesen und jetzt bekam er den Eindruck, als hätte er mit einer Verrückten gesprochen. Das Schicksal meinte es wirklich nicht gut mit ihr.

    Als Ursus sie dazu bewegen wollte sich wieder hinzulegen hob Helena erneut abwehrend ihre unverletzte Hand, sagte aber nichts. Zumindest aber wehrte sie sich nicht, als er die Decke über sie legte. Sie war noch immer nackt und Ursus hatte mittlerweile wahrscheinlich mehr von ihrem Körper gesehen als gut war. Doch darüber machte sie sich momentan kaum Gedanken. Sollte sie diesen Tag überleben würde es ihr wahrscheinlich im Nachhinein noch furchtbar peinlich sein, aber was brachte es über die Zukunft nachzudenken? Besonders gut sah sie immer noch nicht aus und das schmerzhafte Pochen der tiefen Wunde erinnerte Helena daran, dass sie gerade möglicherweise die letzten Minunten ihres Lebens erlebte. Ursus' Worte rauschten über sie hinweg wie es auch schon Sivs Worte getan hatten, aber als Marcus' Name fiel ruckte ihr Kopf hoch.


    "Marcus? Ja...Marcus..."


    Ihre Stimme klang verträumt und sie legte leicht den Kopf schief, als sie erneut sein Gesicht in gedanken sah. Dann jedoch versteifte sie sich plötzlich. Der Brief! Sie musste unter allen Umständen verhindern, dass Marcus ihn in die Hände bekam. Plötzlich tauchte Sivs Gesicht vor ihr auf und sie spürte Hande auf ihren Schultern, die sie hinunterdrückten. Von dem Gedanken beseelt den Brief zu holen, konnte Helena plötzlich Kräfte mobilisieren, die sie selbst verwunderten. Ruckartig schlug sie mit ihrer gesunden Hand die Hände zur Seite. Ihr Gesicht war zu einer Maske der Anstrengung und des Schmerzes verzerrt und ihre Stimme kam nur gepresst über ihr Lippen.


    "Nimm deine Hände von mir!"


    Was bildete sich diese Sklavin eigentlich ein, in so einem Ton mit ihr zu sprechen? Helena beugte sich vor und rutschte unter Sivs Händen hinweg, mit einer erstaunlichen Gewandheit an Ursus vorbei und sprang förmlich aus dem Bett.


    "Ich muss...der Brief! Er darf ihn nicht lesen!"


    Die Kraft, die so plötzlich da gewesen war, war mit einem Mal genauso schnell wieder verschwunden. Helena spürte, wie ihre Knie unter ihrem Gewicht nachgaben. Das Zimmer begann sich um sie herum zu drehen und langsam dunkel zu werden. Haltsuchend streckte sie die Arme aus, aber es gab nichts an dem sie sich hätte festhalten können. Ohne etwas tun zu können fiel sie und ein schwaches "Ohh..." war die einzige Reaktion zu der sie fähig war.

    Helena konnte ihren Blick nicht von dem immer größer werdenden Blutfleck abwenden. Ursus hatte sie losgelassen und begann nun den Verband zu erneuern, eine äußerst schmerzhafte Prozedur, doch diesmal ließ Helena sie klaglos über sich ergehen. Einzig und allein ein leises Würgen ließ erkennen, wie sie sich wirklich fühlte. Die hastigen und sicher boshaften Worte der Sklavin rauschten über Helena hinweg. Der Tonfall reichte schon um ihr eine saftige Strafe einzuhandeln und Helena würde das sicher nicht vergessen. Jetzt aber musste sie sich erstmal darauf konzentrieren die Übelkeit zurückzudrängen, die bei dem Anblick des Blutes, ihres Blutes, in ihr aufgestiegen war. Noch immer krallte sich ihre Hand kurz über dem Verband in ihren Arm. Ihre Fingernägel hinterließen rote Kerben auf ihrer Haut. Sie bildete sich ein, dass das den Blutfluß stoppen würde, auch wenn das unmöglich war.


    Als der Verband schließlich wieder saß blickte Helena kurz auf und musterte Siv und Ursus abwechselnd. Beide waren blutverschmiert. Es sah aus, als hätten sie ein Schwei geschlachtet. Sie selbst sah sicher nicht besser aus. Die Sklavin war damit beschäftigt heiße Steine unter ihre Decke zu schieben. Teilnahmslos beobachtete Helena sie bei ihrem Tun, doch als man ihr bedeutete, dass sie sich wieder hinlegen sollte, hob sie abwehrend die Hände. Sie wollte sich nicht hinlegen, denn sie hatte Angst vor der bleiernden Müdigkeit, die sie dann sicher wieder ergreifen würde. Einen Moment blieb sie regungslos sitzen, bis sie auf dem Bett ganz nach hinten rutschte und sich mit dem Rücken gegen die Wand lehnte. Nach der Wärme von Ursus' Körper war der Stein kalt, doch er würde sie wachhalten. Helena zog die Beine an ihren Körper und umschlang sie mit ihrem gesunden Arm. Den Kopf bettete sie auf ihren Knien und sah hinunter auf ihren verletzten Arm, der leblos neben ihr auf der Decke lag.


    "Mir war vorher nie aufgefallen, dass Blut die gleiche intensive Farbe hat wie Rosen..."


    Ihre Stimme klang träumerisch und es lag sogar eine Andeutung von einem Lächeln auf ihren Lippen. Sivs Worten nach war der medicus bald da. Spätestens dann würde Marcus mitbekommen, dass in seiner Villa etwas vor sich ging. Helena versuchte sich gegen eine Begegnung mit ihm zu wapnen, aber sie wusste nicht wie sie reagieren würde, wenn er ihr das nächste Mal gegenüberstand. Vorwürfe würde er ihr machen, was sonst! Immerhin würde sich sicher rumsprechen, dass eine Aureliarin versucht hatte sich umzubringen. Und das war schlecht für den Ruf der Familie. Darauf legte er doch so viel Wert. Helena hob den Kopf und sah zu Ursus. Allerdings schien ihr Blick mehr durch ihn hindurch zu gehen als das sie ihn wirklich sah.


    "Ich habe Schande über unsere Familie gebracht. Obwohl er genau das verhindern wollte...."

    Scheinbar hatte sie Ursus mit ihrer Frage überrumpelt. Es dauerte einen Moment bevor er ihr antwortete und zuvor versuchte er ein Stück von ihr fortzurutschen. Das ließ Helena allerdings nicht zu. Sie folgte seiner Bewegung und lag nun fast auf dem Rücken. Mit einem Seufzen kuschelte sie sich so eng es ging an seinen Körper. Wahrscheinlich war es ihm peinlich, dass auch er sich gegen seine Instinkte nicht wehren konnte, aber Helena war es viel wichtiger, dass er ihr nicht die Wärme nahm, die ihr so gut tat. Über die Folgen ihres Handelns dachte sie dabei nicht nach. Dafür konnte sie nun in sein Gesicht sehen. Ja, es war ihm peinlich, doch trotzdem war Helena ihm sehr dankbar. Sie spürte, wie ihr Körper langsam wieder warm wurde. Etwas, an das sie noch kurz zuvor nicht geglaubt hatte. Kurz hob sie ihre unverletzte Hand und strich ihm über die Wange.


    Seine Worte hinterließen ein bitteres Lächeln auf ihren Lippen. Er war also auch verliebt. Jeder in ihrer Nähe schien verliebt zu sein, nur an ihr ging das Glück vorbei. Aber was bedeutete vielleicht? Und wer war wohl die Glückliche? Sie würde es ihm gönnen, wenn seine Liebe auf Erwiederung traf. Immerhin wusste sie nur zu gut wie es sich anfühlte abgewiesen zu werden. Deswegen schüttelte sie auch leicht den Kopf, als er davon sprach, dass es ohne Bedeutung sei.


    "Liebe ist nie ohne Bedeutung! Das habe ich am eigenen Leib zu spüren bekommen. Entweder erfüllt sie dich mit Glück und Leidenschaft, oder mit Verzweiflung und Leere. Aber bedeutungslos? Nein, dass ist sie nie."


    Ihre Stimme war so leise, dass sie nicht wusste, ob Ursus sie überhaupt verstehen konnte. Wieder erschien Marcus Gesicht vor ihrem inneren Auge. Wieder hörte sie, wie er sie abwies. Nur mit ihren gesammelten Kräften schaffte sie es dieses Bild zurück zu drängen. Ursus' Frage stand noch offen. Sollte sie sich ihm anvertrauen? Wen hatte sie denn schon? Und immerhin hatte er ihr das Leben gerettet. Wenn sie ihm nicht vertrauen konnte, wem dann? Dann jedoch öffnete sich plötzlich die Tür und Siv trat ein. Helena starrte sie einen Moment verständnislos an, bevor ihr bewusst wurde, in welcher Situation sie die Beiden gerade vorfand. Was mochte sie wohl denken? An ihrem Gesichtsausdruck konnte sie jedenfalls nichts erkennen. Zumindest aber hatte sie ihr die Entscheidung abgenommen, ob sie Ursus die Warheit erzählen sollte oder nicht.


    Bevor Helena noch reagieren konnte trat die Sklavin plötzlich an das Bett und zog die Decke fort. Helena schaffte es gerade noch danach zu greifen, so dass sie nur bis zum Bauch hinunterrutschte und nicht weiter. Ihr war das egal, aber Ursus sicher nicht. Durch die hastige Bewegung war allerdings der Verband an ihrem verletzten Arm ein wenig verrutscht. Helena stöhnte auf und ließ die Decke wieder los, um nach ihrem Handgelenk zu greifen. Sie konnte dabei zusehen, wie sich neue Blutflecke bildeten und auch der Schwindel war wieder da. Der Schmerz, der zwischenzeitlich verschwunden war kam mit Macht zurück und erinnerte sie daran, dass ihr Leben immer noch auf des Messers Schneide stand. Plötzlich überfiel sie Panik und ihre Augen weiteten sich angstvoll.


    "Ursus! Tu doch was!"

    Das Weinen half. Helena wurde ruhiger und auch das Zittern ließ ein wenig nach. Die Last, die sie in der letzten Zeit so erdrückt hatte wurde leichter und es schien fast so, als würde ihr das Atmen leichter fallen. Ihre Wangen und das Kissen auf dem sie lag waren nass von ihren Tränen, aber das Schluchzen hatte nachgelassen. Durch den Tränenschleier hindurch starrte Helena auf das Mosaik am Boden. Sie war Ursus sehr dankbar, dass er ihr keine Fragen stellte, sondern sie einfach nur festhielt. Sie hätte nicht gewusst was sie ihm antworten sollte. Würde er sie überhaupt verstehen können? Konnte irgendjemand die Verzweiflung nachempfinden, die sie gespürt hatte und die auch noch immer in ihr verborgen lag? Helena wusste darauf keine Antwort und darüber nachzudenken fiel ihr momentan zu schwer.


    Sie bewegte sich ein wenig in Ursus' Armen und lehnte den Kopf an seine Brust. Dabei wurde ihr Körperkontakt noch ein wenig intensiver und plötzlich spürte sie eine Regung an ihrer Hüfte, die eigentlich nicht da sein dürfte. Völlig überrumpelt blieb Helena einfach nur still liegen. Er war ein Mann, natürlich und sie waren Beide nackt. Zudem lagen sie so eng beieinander, wie es sonst nur zwei Liebende taten. Wie sollte sie nun reagieren? Was würde er tun? Der zähe Nebel, der sich über ihren Geist gelegt hatte ließ nicht zu, dass sie einen vernünftigen Gedanken fassen konnte. Sie hätte aufspringen müssen, ihn aus dem Bett werfen sollen, aber stattdessen blieb sie einfach liegen. Sie wäre auch gar nicht dazu in der Lage gewesen sich aus seinen Armen zu winden. Und, wie ihr langsam bewusst wurde, sie wollte es auch nicht! Sie würde sterben, wenn er sie nun alleine ließ, dass wusste sie.


    Helena sah auf ihren verletzten Arm hinunter. Interessanterweise spürte sie keinen Schmerz mehr. Vielleicht war ihr Körper einfach zu erschöpft und nicht mehr fähig für diese normale Reaktion. Eher unbeteiligt fiel ihr auf, dass der neue Verband schon wieder Blutflecken aufwies, obwohl der Stoff und der Gürtel sehr fest saßen. Vielleicht kam der medicus ja zu spät und konnte ihr nicht mehr helfen. Aber sie war doch noch so jung! Und sie hatte noch so viel vor sich. Helena spürte, wie ihre Lebensgeister langsam wieder erwachten. Sie konnte doch nicht gehen ohne wirklich gespürt zu haben wie es sich anfühlte geliebt zu werden! Sicher, das war nicht alles im Leben, aber Liebe konnte doch nicht nur so schmerzhaft sein wie sie es erlebt hatte. Ihre Stimme klang leise als sie sprach und ein wenig rauh.


    "Bist du verliebt, Ursus?"

    Den Mut weiterzuleben...Wofür denn? Gab es etwas wofür es sich lohnte zu leben? Helena hatte doch niemanden. Ihre Eltern waren tot, sie hatte keinen Mann der sie liebte und gerade mal eine Freundin, der sie sich anvertrauen konnte. Sie war einsam und das wurde ihr nun wieder wirklich bewusst. Da war es doch viel einfacher sich davonzustehlen und im Jenseits vielleicht mehr Glück zu finden. Ursus allerdings tat alles, um das zu verhindern. Er musste gesehen haben wie sehr sie zitterte und hatte begonnen ihre Arme und Beine zu reiben. So war es geradezu unmöglich einzuschlafen, was Helena dazu bewegte leise unwillig zu murren. Sie drehte den Kopf zur Seite, unter seiner Hand weg und beschloß seine Worte zu ignorieren. Das war allerdings nicht gerade leicht, denn der besorgte Ton in seiner Stimme berührte etwas in in. Scheinbar war sie doch nicht jedem in dieser Villa egal. Das es gerade Ursus war, der sich so um sie sorgte wunderte sie ein wenig. Immerhin hatten sie bis jetzt kaum etwas miteinander zu tun gehabt.


    Schließlich öffnete sie doch wieder die Augen, auch wenn es ihr schwer fiel. Sie konnte sich kaum daran erinnern jemals so müde gewesen zu sein. Trotz Ursus' Bemühungen hatte das Zittern noch nicht nachgelassen. Vielleicht würde ihr nie wieder wirklich warm werden. Helena starrte an die Wand, ohne wirklich etwas zu sehen. Die Sklavin hatte den Raum mitlerweile wieder verlassen. War sie auch leise genug? Wer in der Villa hatte wohl schon mitbekommen, das etwas nicht stimmte? War Marcus etwa schon wach geworden? Helenas Kopf ruckte herum und ihre Augen bohrten sich in das schwere Holz der Tür. Fast meinte sie schon die schnellen Schritte auf dem Flur zu hören. Schritte, die in ihr Zimmer führten und sicher würden bald alle wissen was sie getan hatte. Das Zittern verstärte sich, diesmal aber war es die Angst, die ihren Körper schüttelte. Helenas Blick huschte zur gegenüberliegenden Wand. Sie wusste, dass in dieser Richtung die anderen Zimmer lagen und mit Sicherheit waren alle wach und würden bald in ihr Zimmer stürmen.


    Plötzlich spürte sie, wie jemand in ihr Bett stieg. Verwirrt wandte sie den Kopf und sah Ursus, der, vollständig nackt, unter ihre Decke schlüpfte. Ihr Geist arbeitete immer noch langsamer als sonst und so schaffte sie es nur ihre Lippen in einem stummen Protest zu öffnen. Wenn sie jemand so sehen würde! Und zudem hatte sie noch nie einen Mann nackt gesehen! Sie spürte wie Ursus seine Arme um sie legte und sich fest an sie drückte. Ihr Körper war seltsam steif. Sie wusste nicht wie sie reagieren sollte. Ursus Haut schien zu brennen. Helena keuchte leise auf, als er ihren eiskalten Körper fast überall berührte. Das was sie hier taten war ungehörig! Und doch...es tat so gut! Nur langsam entspannte sie sich in seinen Armen und schließlich drückte sie sich sogar ein wenig gegen ihn, um die Quelle der Wärme nicht zu verlieren.


    Helena fühlte sich an die Begegnung mit der Lichtgestallt erinnert. Auch dort hatte sie Wärme und Liebe gespürt. Und Trost. Hatten die Götter Ursus vielleicht geschickt? Möglicherweise hatten sie noch etwas mit ihr vor und hatten sie deshalb zurückgeschickt. Zurück zu ihm damit er sie retten konnte. Plötzlich begann Helena zu weinen. Heiße Tränen liefen über ihre Wangen und das Schluchzen schüttelte ihren Körper. Der Schmerz in ihrem Inneren brach wieder auf. Die Erinnerung an das Gespräch mit Marcus, der Kuss, der nicht hätte sein dürfen. Doch diesmal, wie schon am Teich, begrüßte sie diese Erinnerung. Allerdings aus einem anderen Grund. Die Tränen schienen befreiend zu wirken. Sie schienen sie von innen zu reinigen und diese vollkommende Leere, die sie seit dem Abend in ihrem Zimmer ausgefüllt hatte davonzuspülen. Helena krümmte sich ein wenig zusammen und ließ ihren Gefühlen freien Lauf. Hier, in Ursus Armen, fühlte sie sich sicher.

    Helenas Hand krallte sich noch einen Moment in den Stoff von Ursus' Tunika, bevor sie kraftlos wieder zurücksank. Erst jetzt bemerkte sie, dass er genauso nass war wie sie. Er musste sie wirklich aus dem Wasser gezogen haben. Aber war das, was sie gesehen hatte, nicht nur ein Traum gewesen? Helena wollte diesen Gedanken weiterverfolgen, aber er huschte an ihr vorbei, ohne dass sie nach ihm greifen konnte. Ich kann dich doch nicht einfach sterben lassen... Warum denn nicht? Es war doch nicht so, dass sie eine besonders enge Bindung hatten. Helena hatte zu niemandem in dieser Villa ein besonderes Verhältnis. Prisca war da vielleicht noch eine Ausnahme. Sie war überzeugt davon, dass niemand sie wirklich vermisst hätte. Und um sie getrauert schon gar nicht, zumindest nicht lange. Die Leere der letzten Tage schien in ihrem Inneren wieder anzuwachsen, doch die besorgten Worte, die Ursus ihr sagte, schafften es, sie wieder ein wenig zurückzudrängen. Sie schaffte es sogar leicht zu lächeln. Dennoch schüttelte sie nur den Kopf als er nach der Person fragte, der ihr das angetan hatte. Sie hatte nicht die Kraft dazu darüber nachzudenken, geschweige denn darüber zu reden.


    Mittlerweile waren sie in ihrem Zimmer angekommen. Es war noch genauso wie sie es verlassen hatte. Irgendwie hatte Helena erwartet, dass sich etwas geändert hatte, irgendwas, was nicht mehr so war wie früher, aber dem war nicht so. Die blonde Sklavin, die die ganze Zeit bei ihnen gewesen war verschwand plötzlich und sie war mit Ursus alleine im Zimmer. Obwohl er sie sanft auf das Bett gelegt hatte schien sich der Schmerz wieder zu verschlimmern. Möglicherweise wurde das von dem Zittern ausgelöst, das immer noch ihren gesammten Körper im Griff hatte. Ursus schien das zu merken, denn er begann ohne große Worte sie von ihrem nassen Nachtgewand zu befreien. Völlig unbewegt registrierte Helena, dass sie für einen Moment vollkommen nackt vor ihm lag. Sie drehte den Kopf ein wenig zur Seite und musterte ihren eigenen Körper. Blass war sie, fast weiß und ihre Muskeln schienen seltsam verkrampft zu sein. Dann wurde ihr der Blick verwehrt, denn Ursus legte mehrere Decken über sie. Obwohl sie um einiges wärmer waren als ihr eigener Körper wollte die Wärme nicht zu ihr durchdringen. Das Zittern war auch durch die Decken noch gut zu sehen.


    "Mir ist so kalt!"


    In diesem Moment betrat die Sklavin wieder den Raum und Helena erkannte Siv, die sie schon ein paar Mal gesehen hatte. Zusammen mit Ursus machte sie sich wieder an ihrem verletzten Arm zu schaffen. Helena keuchte auf, als der Schmerz erneut in ihr explodierte. Warum konnten sie sie denn nicht einfach in Ruhe lassen?! Leise wimmernd versuchte Helena ihren Arm aus dem Griff der Sklavin zu ziehen, aber wie schon zuvor schaffte sie es nicht. Ihr wurde übel und sie schloß die Augen. Doch dadurch überfiel sie plötzlich ein heftiger Schwindel, so dass sie die Augen ruckartig wieder aufriss. Vielleicht sollte sie einfach ein wenig schlafen? Eine bleiernde Müdigkeit hatte von ihr Besitz ergriffen, doch irgendetwas in Helena wehrte sich dagegen. Obwohl sie eigentlich nicht mehr hier sein wollte, wusste sie doch, dass es sehr gefährlich sein konnte, wenn sie der Müdigkeit nun nachgab. Möglicherweise würde sie nie wieder erwachen. Helena spürte, wie ihre Lider immer weiter hinuntersanken und ihr eigener Widerstand langsam brach.

    Ursus' Erklärung, dass eigentlich auch Marcus zu diesem Abendessen kommen wollte bereitete Helena ein leicht ungutes Gefühl in der Magengegend. Sie verzog kurz die Lippen, sagte aber nichts, da sie nicht wollte, dass die Männer etwas von ihren Gefühlen mitbekamen. Auch als Ursus nach diesem ominösen Mann fragte schüttelte sie nur den Kopf. Nein, sie kannte ihn nicht, aber das war ja auch nicht weiter verwunderlich, denn sie kannte ja noch nichtmal ihre engste Familie wirklich. Noch bevor Philonicus auf ihre Frage antworten konnte trat plötzlich eine weitere Sklavin ein und berichtete, dass Marcus nicht am Essen teilnehmen würde. Helena runzelte kurz die Stirn, denn sie fand es unheimlich schwierig die Sklavin zu verstehen. Hatte denn niemand versucht ihr richtig sprechen beizubringen? Und sie musste verägert erkennen, dass sie sich sofort Sorgen machte, als sie hörte, dass es Marcus nicht gut ging. Würde das denn nie vorbeigehen?


    Glücklicherweise wurde keine Reaktion von ihr erwartet. Stattdessen beugte Helena sich nach vorne und griff nach ein paar Weintrauben, die die Sklaven so eben auf die niedrigen Tische gestellt hatten. Während sie aß lauschte sie den Worten von Philonicus, der soeben seine Erlebnisse aus Ägypten darlegte. Schnell aber beobachtete sie mehr sein Verhalten als das sie ihm wirklich zuhörte. Ob er es wollte oder nicht, aber gerade in dieser Situation kam seine Jugend zum Vorschein. Er redete sich geradezu in Begeisterung und richtete sich dabei immer weiter auf. Helena schmunzelte, während eine weitere Weintraube zwischen ihren Lippen verschwand. Doch bei seinen letzten Worten musste sie unwillkürlich lachen.


    "Nun, wie es scheint ist Aegyptus wirklich einen Besuch wert. Wenn es dich derart begeistert hat. Meine Frage hast du allerdings noch nicht beantwortet."


    Sie zwinkerte Ursus amüsiert zu und griff dann nach ihrem Becher, um einen Schluck verdünnten Wein zu nehmen. Ob sie irgendwann die Möglichkeit haben würde dorthin zu reisen? Interessieren würde es sie schon, auch wenn sie sich ein wenig vor der langen Reise fürchtete. Wahrscheinlich waren die Erinnerungen an die Tortur nach Germanien noch zu frisch. Helena ließ sich wieder entspannt zurücksinken und deutete dann mit einer Weintraube auf Philonicus.


    "Erzähl mir ein wenig von dir. Du gehörst zur Familie und ich kenn dich überhaupt nicht. Natürlich nur, wenn es dir nichts ausmacht."

    Während des ganzen weiteren Weges überließ Helena Prisca das Reden. Sie war viel zu sehr von der Atmosphäre des Kolloseums eingenommen und sie wünschte sich, mindestens ein Augenpaar mehr zu haben. Die Neugier und Aufregung sprühte aus ihren Augen, doch trotzdem hielt sie den Kopf hoch erhoben und auf ihren Lippen lag nur ein abfälliges Lächlen. Dieses Lächeln galt den Menschen, die in den langen Schlangen warten mussten und ihnen zum Teil nicht gerade höfliche Worte hinterher riefen. Dieser Neid prallte an Helena ab und sorgte höchstens dafür, dass ihr Auftreten noch stolzer wurde. Am Kolloseum angekommen hob Helena kurz den Kopf und sah an der gigantischen Außenwand hoch. Das Ende war nicht zu erkennen, denn die wundervoll gearbeiteten Statuen, die überall standen versperrten ihr die Sicht.


    Octavius Dragonum hielt sich nicht lange auf, sondern durchschritt das kleine Seitentor und führte sie auf eine schmalere Treppe zu. Helena sah sich um und lauschte dabei den Geräuschen, die aus der Arena zu ihnen hinüber klangen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich ein wenig, während sie dem Tribun nach oben folgte. Als er erzählte, dass er selbst schonmal in der Arena gekämpft hatte warf sie ihm einen bewundernden Blick zu. Zu gerne hätte sie das gesehen! Dieser Gedanke verschwand wieder, als vor ihr der Vorhang geöffnet wurde. Helena schloß kurz die Augen, denn das plötzliche helle Licht blendete sie. Dann jedoch trat sie auf die Tribüne hinaus und hielt die Luft an. Vor ihr eröffnete sich das weite Rund des Kolloseums. Die Plätze für das einfache Volk waren schon fast restlos belegt und die Geräuschkulisse, die ihr entgegendrang war fast überwältigend. Erst als Octavius Dragonum einen Sklaven ansprach sah sie wieder zu ihm. Sie wartete, bis er seine Befehle erteilt hatte und ging dann auf ihn zu.


    "Ich weiß gar nicht wie ich dir danken soll! Hätten wir dich nicht getroffen, wäre es wohl unmöglich gewesen hier noch einen angemessenen Platz zu finden. Ich hoffe, wir können dir das irgendwann entsprechend danken."


    Der Tribun hatte mittlerweile seinen Helm abgelegt und Helena konnte nicht umhin ihn nun noch einmal genauer zu betrachten. Doch auch ohne Helm gefiel ihr das was sie sah, vielleicht sogar noch mehr. Sie spürte, wie sich ihre Wangen leicht röteten und in der Hoffnung, dass ihm das nicht auffiel wandte sie sich von ihm ab. Das ihr Arm dabei den seinen streifte war nur Zufall. Helena stieg die leicht abfallende Tribüne hinunter, bis sie ganz vorne angekommen war. Dort lehnte sie sich leicht über die steinerne Brüstung und warf einen Blick hinunter. Die Oase war schon errichtet worden. Es dürfte nicht mehr lange dauern bis es losging. Helena atmete tief durch und drehte sich dann zu Prisca um.


    "Prisca, was meinst du? Hier vorne direkt? Ich glaube dann haben wir den besten Blick!"

    Helena spürte wie man sie anhob und gegen etwas lehnte, doch noch war sie nicht in der Lage dazu zu reagieren. Sie hatte keine Gewalt über ihren Körper und ihr Geist ruhte noch nicht vollständig wieder im hier und jetzt. Sie konnte die Klippe vor ihrem inneren Auge sehen, aber das Bild verblasste immer mehr, je angestrengter sie versuchte es festzuhalten. Irgendjemand hatte sich an ihrem Arm zu schaffen gemacht. Es war schmerzhaft gewesen, sehr sogar, aber obwohl sie versucht hatte den Arm wegzuziehen hatte sie sich nicht gerührt. Und sie hörte Stimmen. Zwei Stimmen, eine männliche und eine weibliche. War Ursus wirklich bei ihr? Und wer war dann die Frau? Warum konnten sie sie nicht einfach in Ruhe lassen?! Sie gehen lassen, so wie sie es wollte! Helena versuchte zu sprechen, doch alles was dabei herauskam war ein keuchender Husten, der ihren ganzen Körper durchschüttelte und ihr das bißchen Kraft wieder raubte, das sie gesammelt hatte.


    Einen Moment lang musste sie wohl das Bewusstsein verloren haben, denn als sie ihre Umgebung wieder wahrnahm hatte sie sich verändert. Es dauerte einige Augenblicke bis sie es erkannte. Man hatte sie hochgehoben und nun bewegten sie sich. Wahrscheinlich auf die Villa zu, auf Marcus zu! "Nein!" Ihre Stimme klang rauh und gepresst und nun endlich öffnete sie auch die Augen. Sie sah Ursus Kopf über sich schweben und hörte seine beruhigenden Worte. Sie wollten einen Medicus holen, aber Helena wollte keinen Medicus! Sie wollte zurück in den Teich, zurück zu ihrer Mutter und zurück zu dieser Klippe. Warum verstand das denn keiner? Leicht wandte sie den Kopf und warf einen Blick zurück zu dem Baum, unter dem sie gerade noch gesessen hatte. Der Dolch, der Krug, der Brief...alles lag noch dort. Helena wollte den Arm danach ausstrecken, aber er fiel nur schlaff an ihrer Seite herunter.


    Plötzlich fing sie an zu zittern. Ihr war schrecklich kalt. Die Kälte schien in ihr Innerstes zu kriechen und sich dort auszubreiten. Helenas Atem ging flach und eine seltsame Taubheit nahm von ihrem Körper Besitz. Doch das wollte Helena nicht zulassen. Sie wusste nicht, was Ursus nun mit ihr vorhatte, aber sie musste unbedingt verhindern, dass Marcus sie sah. Helena sammelte ihre ganze Kraft und bäumte sich erneut auf. Unruhig warf sie sich hin und her. "Lass mich los!...Bitte...Ich will nicht...lass mich gehen!...Bitte!" In ihrem geschwächten Zustand hatte sie keine Chance sich aus Ursus Griff zu lösen. Zudem weckte die Bewegung den Schmerz wieder. Helena stöhnte auf und ein schwarzer Nebel drohte sie zurück in die Bewusstlosigkeit zu drängen. Sie kämpfte dagegen an, doch der Nebel wollte sich nur langsam zurückziehen. Die Verlockung war groß sich ihm einfach hinzugeben. Erneut hob Helena eine Hand und griff nach Ursus Kragen. Er wollte ihr helfen und er war sehr besorgt, das konnte sie an seinem Gesicht sehen.


    "Du..verstehst das nicht! Ich...bring mich nicht zu ihm zurück! Ich...Bitte!"


    Etwas rann über ihre Wange. Es fühlte sich heiß an auf ihrer kalten Haut. Die Träne suchte sich einen Weg und blieb schließlich in ihrem Mundwinkel hängen. Sie weinte still, wie noch kurz zuvor unter dem Baum. Helena hatte so gehofft, dass die Zeit der Verzweiflung nun vorbei war, doch es war viel schlimmer gekommen. Nun konnte sie sich nicht wehren, war ausgeliefert und niemand konnte ihr helfen. Niemand!

    Der Schmerz war verschwunden, so als hätte es ihn niemals gegeben. Das Gefühl des Schwebens verstärkte sich. Helena meinte immer noch die Geräusche des Gartens zu hören, nur irgendwie wirklicher, lauter. Sie senkte den Kopf und sah auf ihren eigenen Körper hinunter. Doch sie war nicht alleine. Jemand war bei ihr und zog sie in diesem Moment aus dem Wasser. Ursus? Als ob Helena eine Beobachterin wäre, blickte sie nun aus einiger Entfernung auf ihren eigenen Körper. Ihre Gefühlen waren zutiefst aufgewühlt, denn sie konnte erkennen, wie Ursus sich bemühte sie wiederzubeleben. Doch bevor sie diesen Eindruck näher fassen konnte, fand sie sich plötzlich in einem engen Raum wieder, in dem sie in rasender Geschwindigkeit nach oben schoß. Helena bekam Angst, große Angst, denn die Wände waren schwarz, und sie versuchte sie zu berühren. Aber es gelang ihr nicht und sie stieg weiter auf. Während ihrer Angst schaute sie sich um und dabei entdeckte sie oben in der Ferne einen weißen Punkt. Je weiter sie aufstieg, desto heller wurde der Punkt.


    Geblendet schloß Helena die Augen und als sie sie wieder öffnete fand sie sich an einem anderen Ort wieder. Verwundert sah sie sich um. Überall erstrahlte weißes Licht und ihre Angst war verschwunden. Stattdessen spürte sie ein tiefes Gefühl von Liebe und Frieden. Plötzlich tauchten in der Entfernung andere Wesen auf. Sie näherten sich ihr, um sie zu begrüßen und ihr zu helfen. Helena sah die Gestalt ihrer Mutter, unendlich schön, doch als sie die Hand ausstreckte konnte sie sie nicht berühren. Auch ihr Vater war anwesend und lächelte ihr gütig zu. Und noch ein Wesen, wie sie es noch nie gesehen hatte, erschien in ihrer Nähe. Es strahlte Wärme und Glück aus. Dieses Wesen stellte ihr, ohne Worte zu gebrauchen, eine Frage, die sie dazu bewegte, ihr Leben als Ganzes zu bewerten. Helena sah Szenen ihrer Kindheit. Sie spielte im Garten mit ihrer kleinen Schwester, saß neben ihrer Mutter, während diese ihr vorlas. Aber auch Bilder aus Hispania und Germanien rauschten an ihr vorbei. Helena nahm erneut die Gefühle dieser Augenblicke wahr. Sie spürte Trauer, Glück, Eifersucht, Angst.


    Das Bild änderte sich erneut und Helena fand sich in einer wunderschönen Landschaft wieder. Sie wusste nicht wo sie war, denn die Felder, durch die sie nun schritt waren ihr unbekannt. Sie sah eine breite, riesige Straße, die mit funkelndem Sand gebahnt war und leuchtete wie Diamanten. Die Straße war so weit, daß man kaum ihr Ende sehen konnte. Sie sah ein Tor und eine lange Mauer zum Tor, die von sechs Löwenstatuen beschützt zu werden schien. Hinter dieser Mauer befand sich ein Garten mit den wunderschönsten Blumen, die sie je gesehen hatte. Auch eine kleine Hütte konnte sie sehen, doch bevor sie die Tür erreichen konnte stand sie plötzlich auf einer Klippe. Weit unterhalb lag ein grünes Tal. Die Luft war so klar, ein herrlicher blauer Himmel, und ein schwacher Hauch einer warmen Brise. Es war ein sehr schöner Tag. Die Felder schwangen mit einem Gemisch aus Farben. Sie sahen aus wie weicher goldener Hafer oder Weizen mit Flecken aus leuchtend farbigen Blumen. Und noch immer war da dieses Licht und das überwältigende Gefühl der Liebe.


    Doch mit einem Mal änderte sich alles. Helena hatte das Gefühl als ob sie sich einer Art Barriere näherte, die offenbar die Scheidelinie zwischen dem irdischen und dem folgenden Leben darstellte. Mit aller Kraft versuchte sie diese Barriere zu durchdringen. Sie wollte nicht zurück! Sie sträubt sich gegen den unerbittlichen Sog in die falsche Richtung. Ein unangenehmer Druck lastete auf ihrer Brust und plötzlich war auch der Schmerz wieder da. Mit einem Mal fand sie sich in ihrem eigenen Körper wieder. Helena bäumte sich schwach auf und würgte einen Schwall kalten Wassers hervor. Ein rasselnder Atemzug folgte, der ihr fast den Brustkorb zerrisss. Sie hörte eine Stimme, konnte sie aber nicht einordnen. Helena, komm zu dir! Nein, sie wollte nicht! Nicht mit diesen Schmerzen! Ihre Augen flackerten leicht, doch noch war ihr Blick bei weitem nicht klar genug um etwas zu erkennen. Stattdessen versuchte sie sich krampfhaft an die Klippe zu erinnern. Möglicherweise half dieser Erinnerung um dorthin zurückzukehren.

    Helena starrte in der Dunkelheit an die Decke ihres Zimmers und lauschte ihren eigenen Atemzügen. Mitternacht war schon lange vorbei und in der Villa war es still. Helena wandte langsam den Kopf und sah zur Tür. Die vergangenen Stunden waren seltsam gewesen. So viel ging ihr durch den Kopf, dass es unmöglich war einen klaren Gedanken zu fassen. Aber ihre Entscheidung stand fest. Es gab keinen Ausweg! Die gute Marina hatte gespürt, dass mit ihrer jungen Herrin etwas nicht in Ordnung war, aber Helena hatte Fragen in diese Richtung abgewehrt. Sie hatte Kopfschmerzen vorgeschoben und ihre Leibsklavin dann so schnell wie möglich aus dem Zimmer gejagt. Und nun lag sie schon seit Stunden wach und wartete auf den richtigen Zeitpunkt. Es war eine sternenklare Nacht. Der Mond, fast voll, tauchte das Zimmer in ein silbriges Licht. Helena schloß kurz die Augen und richtete sich dann auf. Ihre nackten Füße verursachten kein Geräusch als sie zu der Truhe hinüber ging und sie vorsichtig öffnete. Sie schob die Kleider zur Seite, bis sie auf dem Grund der Truhe angekommen war und ertastete das kleine Bündel, das sie am Vortag dort versteckt hatte. Helena nahm es an sich, ohne den Inhalt noch einmal zu überprüfen. Sie wusste genau was sich dort drin befand: ein Dolch, ein Krug Wein und eine kleine Pergamentrolle. An den Dolch zu kommen war einfacher gewesen als sie vermutet hatte. Dieses Mal war es vorteilhaft gewesen, dass Marcus so selten zu Hause war. In einem unbeobachteten Moment hatte Helena sich in sein Arbeiteszimmer geschlichen und dort den Dolch von dem kleinen Gestell entwendet, dass in einem der Regale stand. Er war nur als Zierde gedacht, aber Helena hatte sich vergewissert, dass er scharf war. Scharf genug für das, was sie vorhatte.


    Das dünne, weiße Nachtgewand schützte Helena kaum vor der Kühle der Nacht. Eine leichte Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen, doch sie achtete nicht darauf. Stattdessen trat sie vor ihren Spiegel und musterte das Bild, das sie dort sah. Eine junge Frau, durchaus schön zu nennen, wäre da nicht die Leere in ihren Augen. Die Haare fielen ihr sanft über die Schultern, frisch gewaschen, das war ihr irgendwie wichtig gewesen. Marina hatte ihren Körper eingeölt und nun stieg ihr der leichte Duft von Rosen in die Nase. Helena schloß kurz die Augen und wandte sich dann aprubt ab. Sie fasste das Bündel fester und verließ ihr Zimmer. Selten war es so ruhig gewesen. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte es ihr vielleicht einen Angstschauer den Rücken hinunter gejagt, doch jetzt erschienen ihr die weiten Gänge und Hallen der Villa nur leblos und trist. So wie ihr Leben. Auf dem Weg durch die Gänge war nur das leise Tapsen ihrer nackten Füße zu hören. Schnell hatte sie die Tür erreicht, die sie in den Garten führen würde. Leise öffnete Helena die Tür und huschte hindurch. Im Gegensatz zur Villa herrschte hier Leben. Grillen zirpten, in der Nähe miaute eine Katze und vom Teich her war das Quaken der Frösche zu hören. Genau dorthin führten nun Helenas Schritte. Sie hatte sich die Stelle genau ausgesucht, als sie am Tag zuvor im Garten spazieren gegangen war. Der Teich war von der Villa aus nur schwer einzusehen, so dass sie vor einem flüchtigen Blick aus dem Fenster geschützt war. Am Teich angekommen bleib Helena einen Moment stehen. Es war ein schöner Anblick, der seltsamerweise irgendetwas in ihrem Herzen berührte. Die Sterne und der Mond spiegelten sich in dem ruhigen Wasser, nur unterbrochen von den Seerosen, deren Blüten nun aber geschloßen waren.


    Nachdem ihr Blick einen Moment auf diesem Bild geruht hatte setzte sie sich in der Nähe unter einen Baum und lehnte sich an den Stamm. Ihr Atem ging ruhig und zum ersten Mal seit Tagen fühlte sie sich wirklich entspannt. Es stahl sich sogar ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen. Nur noch wenige Minuten und ihre Verzweiflung würde für immer verschwunden sein. Eine Erlösung! Das Bündel lag neben ihr auf dem Boden, doch noch rührte sie es nicht an. Stattdessen schloß sie die Augen. Das Gras auf dem sie saß war feucht und durchnässte ihr Kleid. Ein leichter Lufthauch strich über ihre Haut wie eine zärtliche Liebkosung. Nun ließ sie auch die Erinnerung an das Gespräch zu, dass sie hierher gebracht hatte. Ich bin nicht der, den du dir wünscht! Der Schmerz, der sich so tief in sie gebohrt hatte, fand nun seinen Weg an die Oberfläche. Ein verzweifeltes Schluchzen drang über Helenas Lippen und stille Tränen rannen über ihre Wange. Ich möchte die Helena haben, die du, hm, vorher warst. Ihre Hand wanderte zum Bündel und griff nach dem Weinkrug. Es war ein guter Wein, immerhin war es auch ein besonderer Anlass. Sie hatte schon von vielen Seiten gehört, dass Alkohl Schmerzen betäuben würde. Ausprobiert hatte sie es noch nie, aber es würde schon funktionieren. Helena entfernte den Verschluß und nahm einen tiefen Schluck. Wahrscheinlich war es nur pure Einbildung, aber es ging ihr gleich besser. Sie setzte den Krug erneut an ihre Lippen und nahm mehrere Schlücke hintereinander. Doch sie musste aufpassen, denn wenn der Wein zu schnell seine Wirkung tat, würde sie das, was sie vor hatte nicht mehr tun können. Den Krug auf ihren Beinen balacierend nahm sie die Pergamentrolle aus dem Bündel. Eine Weile hielt sie sie regungslos in der Hand, den Blick in die Ferne gerichtet. Sie kannte jede Zeile auswendig.


    Marcus,
    ein Leben ohne Liebe ist grausam. Aber ein Leben überschattet von einer unerfüllten Liebe ist mehr als ich ertragen kann. Du kannst mich nicht lieben, du willst es nicht und ich kann nichts dagegen tun. Ich wünsche dir, dass du irgendwann die Frau findest, die so für dich empfindet wie ich es tue und das ihr zusammen glücklich werdet. Bitte vergiss mich nicht! Trotz allem.
    Helena


    Es waren nur wenige Zeilen, obwohl sie ihm so viel hätte sagen können. Aber was nutzen viele Worte? In dem Brief stand alles was er wissen musste. Helenas Blick klärte sich und sie legte die Pergamentrolle neben sich ins Gras. Der Dolch war das Letzte das sie nun aus dem Bündel holte. Man sah ihm an, dass er nicht dafür gedacht war menschliches Blut zu schmecken. Die Rubine am Griff funkelten im Licht der Sterne fast schwarz. Helenas Finger fuhren fast zärtlich über die Klinge. Auf eine Art und Weise, die sie sich nicht erklären konnte, musste es einfach Marcus' Dolch sein. Sie ließ den Dolch sinken und nahm wieder den Weinkrug zur Hand. Sie konnte sich Zeit lassen, denn bis zum Sonnenaufgang waren es noch ein paar Stunden. Der Krug war bis zur Hälfte geleert, als sie die ersten Auswirkungen spürte. Ein leichter Schwindel hatte von ihr Besitzt ergriffen. Nun war es also soweit! Seltsam ruhig stellte Helena den Weinkrug ab und sah auf den Dolch hinunter. Ihre Hand zitterte nicht als sie danach griff. Fest umschloßen ihre Finger den Griff, der die Kälte der Nacht angenommen hatte. Sie hob ihren linken Arm, holte einmal tief Luft und ließ die Klinge über ihr Handgelenkt gleiten. Als der Stahl ihr Fleisch durchschnitt zuckte ein heißer Schmerz durch ihren Körper. Helena stöhnte auf und krümmte sich kurz zusammen, die Augen fest geschloßen. Doch sie begrüßte den Schmerz und schon kurze Zeit später richtete sie sich wieder auf. Fasziniert beobachtete sie, wie sich das Blut auf ihrem weißen Kleid ausbreitete. Wie eine erblühende Rose. Ihr eigenes Blut fühlte sich warm an auf ihrer kühlen Haut.


    Einige Augenblicke blieb Helena regungslos sitzen, bis der Schwindel sich verstärkte. Es wurde Zeit. Langsam stand sie auf, aber erst nachdem sie den Dolch, nun befleckt durch ihr Blut, auf die Pergamentrolle gelegt hatte.Sie schwankte ein wenig als sie den kurzen Weg zum Teich hinüber ging. Das Wasser hatte die gespeicherte Wärme des Tages schon abgegeben und war nun empfindlich kalt. Doch das störte sie nicht weiter. Helena ging weiter, bis das Wasser fast ihre Schultern berührte. Dann ließ sie sich langsam nach hinten fallen. Das Wasser umfing sie und gab ihr das Gefühl zu schweben. Ihr Blick war auf den Mond gerichtet, der sich fast direkt über ihr befand. Plötzlich fiel ihr ein Lied ein, dass ihre Mutter früher des Öfteren für sie gesungen hatte. Bald würde sie sie wiedersehen. Helena lächelte schwach und hob ihren unverletzten Arm, als wollte sie den Mond berühren.


    "Es waren zwei Königskinder,
    Die hatten einander so lieb,
    Sie konnten zusammen nicht kommen,
    Das Wasser war viel zu tief.


    "Herzliebster, kannst du nicht schwimmen?
    Herzlieb, schwimm herüber zu mir!
    Zwei Kerzen will ich hier anzünden,
    Und die sollen leuchten dir."


    Das hört eine falsche Norne,
    Die tat, als ob sie schlief.
    Sie tat die Lichter auslöschen,
    Der Jüngling ertrank so tief


    Es war an ei'm Sonntagmorgen
    Die Leut' waren alle so froh
    Bis auf die Königstochter,
    Sie weinte die Äuglein rot.


    "Ach Mutter, herzliebste Mutter,
    Der Kopf tut mir so weh;
    Ich möcht so gern spazieren
    Wohl an die grüne See."


    Die Mutter ging nach der Kirche,
    Die Tochter hielt ihren Gang.
    Sie ging so lang spazieren,
    Bis sie den Fischer fand.


    "Ach Fischer, liebster Fischer,
    Willst du verdienen großen Lohn?
    So wirf dein Netzt ins Wasser,
    Und fisch mir den Königssohn!"


    Der Fischer wohl fischte lange,
    Bis er den Toten fand.
    Nun sieh' da, du liebliche Jungfrau,
    Hast hier deinen Königssohn.


    Sie schloß ihn in ihre Arme
    Und küßt' seinen bleichen Mund:
    "Ach, Mündlein, könntest du sprechen,
    So wär mein jung Herz gesund."


    Sie schwang um sich ihren Mantel
    Und sprang wohl in den See:
    "Gut' Nacht, mein Vater und Mutter,
    Ihr seht mich nimmermeh'!"


    Da hörte man Glockengeläute,
    Da hörte man Jammer und Not,
    Da lagen zwei Königskinder,
    Die waren beide tot."


    Helenas Stimme wurde immer leiser, bis sie vollkommen erstarb. Die Hand, die gerade noch nach dem Mond gegriffen hatte, zitterte und sank dann hinunter. Während sich das Wasser um sie herum rosa färbte wurde es um Helena herum schwarz.


    [SIZE=7]*reserviert*[/SIZE]

    Helena hatte den Kopf leicht geneigt und beobachtete unter ihren dunklen Wimpern hindurch seine Reaktion. Sobald der Mantel gefallen war wandte er den Kopf ab um sie nicht ansehen zu müssen. Helena folgte dieser Bewegung mit den Augen und sah dewegen, wie sich seine Lippen zu einem schmalen Strich zusammenpressten. Möglicherweise gefiel sie ihm nicht? Wenn er sie doch noch nicht einmal ansehen wollte! Oder aber er traute seinem Körper nicht und fürchtete die Reaktion auf diesen Anblick. Die Antwort darauf blieb er ihr schuldig und mit einem Erschaudern stellte Helena fest, dass auch das sie nicht weiter berührte. Ihre Gefühle waren zu Eis erstarrt und auch die Möglichkeit, dass Marcus vielleicht doch nicht so standhaft war wie er es gerne wäre konnte das Eis nicht zum tauen bringen.


    Schließlich, nachdem Marcus eine ganze Weile geschwiegen hatte, beugte er sich hinunter und nahm den Morgenmantel auf. Helenas Blick fiel auf seine Hände, die den feinen Stoff unsanft kneteten. Als er anfing zu sprechen hob sie den Kopf wieder und sah ihm in die Augen. Den Ausdruck darin konnte sie nicht deuten. Dafür verstand sie aber seine Worte sehr genau. Der Stoff glitt wieder über ihre Schultern, verhüllte ihren nackten Körper. Er wies sie ab! Helenas Hände zitterten nicht als sie den Gürtel wieder verknotete. Stattdessen wischte sie sich ein paar feuchte Haarsträhnen aus der Stirn und starrte ihn an. Mehere Augenblicke sah sie ihm einfach nur reglos in die Augen, bevor sie sich abwandte und zur Tür ging. Ihre Bewegungen kamen ihr hölzern vor, aber sie wusste nicht, ob sie sich das vielleicht nur einbildete. Bei der Tür angekommen öffnete Helena sie und blieb daneben stehen.


    "Du kennst meine Wünsche nicht, Marcus. Aber ich denke es ist alles gesagt. Geh jetzt."


    Auffordernd sah Helena auf den Gang hinaus und dann wieder zu Marcus, bevor sie die Arme vor der Brust verschränkte. Sie wusste nicht was geschehen würde, mit ihr geschehen würde, wenn er nun dieses Zimmer verließ.

    Helena erwiederte die Begrüßungen mit einem huldvollen Nicken. Ihr Blick ruhte dabei länger auf Philonicus, denn zum einen hatte sie ihn bis jetzt kaum gesehen, zum anderen faszinierten sie seine verwuschelten Haare. Es sah fast so aus, als hätte er das extra getan und dieser Gedanke lockte ihr ein Lächeln auf die Lippen. Zumindest hob es ihn von den meisten anderen Männern ab, die normalerweise immer mit perfekten Frisuren aufwarteten. Irgendwie fühlte sie sich dadurch mit ihm verbunden, denn auch sie hätte mit ihrem momentanen Aussehen kaum in die Öffentlichkeit gehen können. Die Männer schien das allerdings nicht weiter zu stören. Nachdem sie Helena begrüßt hatten führten sie ihr Gespräch fort, dass sie kurzzeitig unterbrochen hatten, als sie in den Raum getreten war.


    Ihr Gefühl, dass mit Ursus irgendetwas nicht in Ordnung war verstärkte sich, als sie sein Lächeln sah. Es erreichte seine Augen nicht und da sie gesehen hatte wie es aussah, wenn er gelöst lächelte fiel es ihr sofort auf. Zudem wandte er sich etwas zu schnell wieder von ihr ab. Helena wäre beleidigt über so ein Verhalten gewesen, aber so verstärkte es nur ihre Vermutung. Helena zog nachdenklich ihre Unterlippe zwischen die Zähne, wurde dann aber von der blonden Sklavin abgelenkt, die an ihre Liege trat. Helenas Gesichtsausdruck wurde etwas mißmutig als sie den unfreundlichen Tonfall der Blonden hörte. Scheinbar hatte ihr noch niemand gesagt, wie man sich zu verhalten hatte. Doch bevor sie etwas erwidern konnte trat Tilla neben sie und reichte ihr einen Becher mit verdünntem Wein. Helena warf der Neuen einen strafenden Blick zu, bevor sie Tilla kurz zunickte und sich dann wieder an die Männer wandte. Sie lächelte Philonicus kurz zu, der ihr eine kurze Erklärung gegeben hatte und richtete sich dann ein wenig auf.


    "Ja, bitte erzähl ein wenig von deinen Reisen. Besonders Aegyptus interessiert mich. Stimmt es, dass die Menschen dort gerne halbnackt herumlaufen?"


    Helena schmunzelte und beobachtete die Reaktion der Männer. Parthien interessierte sie nicht wirklich und so hoffte sie, dass dieser Themenwechsel ihre Aufmerksamkeit erregen würde.

    Helena schüttelte den Kopf als Tilla auch ihr etwas zu Essen und zu Trinken reichen wollte. Sie hatte momentan keinen Appetit und zudem freute sie sich viel zu sehr auf einen guten Wein im Kolosseum als jetzt schon etwas zu trinken. Da würde sie lieber ein wenig geduldig sein. Allzulange würde es wohl eh nicht mehr dauern, denn sie befanden sich mittlerweile schon auf dem Vorplatz des Kolosseums. Und da sie neben dem Tribun sitzten würde, der sie auf seine Tribüne eingeladen hatte, würden sie wohl nicht lange warten müssen und konnten die Schlangen vor den Toren einfach ignorieren. Helena warf dem Mann einen gefälligen Blick zu und nickte dann bei Priscas Worten.


    "Dem kann ich mich nur anschließen. Auch mir ist bis jetzt noch keine dieser Kostbarkeiten zu Gesicht gekommen. Es wäre wunderbar, wenn wir die Ersten wären, die damit aufwarten könnten!"


    Helenas Augen bekamen einen schelmischen Glanz als sie sich die neidischen Gesichter der anderen Frauen vorstellte. Dann jedoch sah sie mit einem nachdenklichen Stirnrunzeln zu Octavius Dragonum. Doch bevor sie ihm eine weitere Antwort geben konnte hörte sie plötzlich Trautwinis Stimme über die Menge hinweg. Im ersten Moment beachtete sie ihn gar nicht weiter, doch als er sich direkt an sie wandte schenkte sie ihm ihre Aufmeksamkeit. Allerdings warf sie Prisca vorher einen verwunderten Blick zu, denn immerhin hatte sie bis jetzt das Gefühl gehabt, dass ihre Freundin eher diejenige war, deren Befehlen der Sklave unterstand. Bei Trautwinis Worten erschien ein sanftes Lächeln auf ihren Lippen. Der Sklave hatte damit sicher nicht gerechnet, denn eigentlich waren seine Neuigkeiten nicht gerade berauschend.


    "Wilde Tiere! Prisca, wie es aussieht ist uns die Glücksgöttin heute wirklich gewogen. Genau das was wir uns gewünscht haben. Und das mit den Plätzen ist nicht weiter schlimm. Wir haben bereits wunderbare Plätze."


    Sie warf Octavius Dragonum einen dankbaren Blick zu. Besonders jetzt, da sie wusste, dass es keine geeigneten Plätze mehr im Kolosseum gab, waren sie auf ihn angewiesen. Wie würde dieser Tag wohl weitergehen? Wieder einmal wünschte sie sich die Gdanken des Tribuns lesen zu können. Er war immer noch ein Mann, worüber er wohl nachdachte? Helena errötete leicht bei diesem Gedanken und um davon abzulenken sah sie wieder zum Kolosseum.


    "Nun, Octavius Dragonum, dann überlassen wir euch von hier an die Führung. Und was den späteren Spaziergang durch die Stadt angeht. Wie wäre es mit dem Tempel des Mars?" Aus den Augenwinkeln beobachtete sie Prisca. Helena hatte nicht vergessen, dass ein Flavius Aquilius Marspriester war.

    Eine unnatürliche Ruhe hatte von Helena Besitz ergriffen. Für ihr Seelenleben war das geradezu tödlich, dass wusste sie, aber momentan war sie dagegen machtlos. Dafür sorgte die Ruhe aber dafür, dass ihre Gedanken klarer wurden und sie ließ sich die letzten Augenblicke noch einmal durch den Kopf gehen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass Marcus überhaupt nicht so abwesend reagiert hatte, wie sie nach seinen Worten vermutet hatte. Hatte er nicht sogar ihren Kuss erwiedert anstatt sie wegzustoßen? Helena legte den Kopf leicht schief und musterte Marcus. Sie zog die Vermutung in Betracht, dass er einfach zu überrascht gewesen war. Doch dann, als er sprach wusste sie, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Zumindest nicht gänzlich. Helena hatte keine Erfahrung mit Männern, aber ihre Instinkte reagierten auf den rauhen Ton seiner Stimme. Ein kurzes, gefühlloses Lächeln huschte über ihre Lippen, bevor sie langsam wieder auf ihn zu ging und dicht vor ihm stehen blieb.


    "Schade? Ja, vielleicht..."


    Aber es war die Wahrheit. Helena hatte sich verändert. Nicht nur aufgrund dieses Gespräches. Die Veränderung hatte schon früher begonnen. Marcus hatte nur den letzten Ausschlag gegeben. Darüber wollte sie jetzt aber nicht nachdenken. Sie wusste, dass er viel auf die Ehre der Familie gab, aber war seine Moral stärker als seine Instinkte? Er war verwirrt, dass konnte sie in seinem Gesicht sehen. Wahrscheinlich war er davon ausgegangen, dass sie wieder einen Krug nach ihm werfen würde, oder ihm üble Verwünschungen an den Hals hetzte. Doch für so eine Reaktion brauchte man Gefühle. In Helena regierte momentan nur kühle Berechnung. Sie wollte ihn auf die Probe stellen. Ihren ach so ehrenwerten Cousin...


    "Deine Worte sprechen eine andere Sprache als dein Körper, Marcus...wem soll ich nun trauen?"


    Noch während sie sprach löste sie den schmalen Gürtel ihres Morgenmantels. Nach einer kurzen Bewegung ihrer Schultern rutschte der leichte Stoff hinunter, so dass sie nun gänzlich nackt vor ihm stand. Der Scham blieb aus, genauso wie das leichte Erröten, dass normalerweise immer ihre Wangen zierte, wenn ihr etwas peinlich war. Stattdessen bohrten sich ihre Augen in seine, während ihre Stimme leise erklang.


    "Sag mir, wem soll ich trauen?"

    Ihre Suche war erfolglos. Schon bevor Marcus seinen Kopf abwandte, um sie nicht mehr ansehen zu müssen, wusste sie, dass ihre Hoffnung wieder einmal umsonst gewesen war. Seine Worte drangen auf sie ein, viel zu schnell, als das ihr Geist, der irgendwie langsamer arbeitet als sonst, alles sofort fassen konnte. Doch die Aussage dahinter war mehr als verständlich. Helena wartete darauf, dass sich die Wut bemerkbar machte, die Trauer, vielleicht auch der Hass, aber alles was sie fühlte war eine schwarze, schwere Leere, die sich in ihr ausbreitete.


    Du weißt welche Strafe auf Inzest steht. Natürlich wusste Helena das. Es war ja nicht so, dass sie sich darüber keine Gedanken gemacht hatte. Aber konnte Liebe, wahre Liebe, so falsch sein?


    Ich hab die Verlobung gelöst. Helena konnte es kaum glauben. Aber warum sollte Marcus sie anlügen? Zu soetwas wäre er in dieser Situation nicht fähig. Wie lange hatte sie darauf gewartet, dass er genau das sagen würde? Mittlerweile wusste sie aber, dass Deandra nie das wirkliche Problem gewesen war.


    Ich hab jetzt schlichtweg keinen Kopf dafür. Keinen Kopf dafür....Er tat ihr Geständins damit einfach ab. Wertete es hinunter, als hätte sie ihn nur gefragt, ob sie zusammen einen Spaziergang machen könnten.


    Die Leere begann sie auszufüllen. Sog jedes Gefühl auch noch aus den letzten Winkeln ihren Körpers. Helena bekam Angst, denn soetwas hatte sie noch nie gespürt. Irgendetwas musste sie dagegen tun. Blitzartig hob sie die Hand und verpasste Marcus eine schallende Ohrfeige. Ihre Finger kribbelten, doch das war auch alles was sie fühlte. Immernoch keine Wut, keinen Zorn. Helena begann zu zittern und in ihren Augen flackerte es kurz, bevor sie Marcus an sich riss, sich auf die Zehenspitzen stellte und ihn stürmisch küsste. Sie presste ihren Körper an seinen und wartete auf das Gefühl von Liebe, von der leichten kribbelnden Erregung, die sie immer gespürt hatte in seine Nähe, aber auch das blieb aus. Schießlich ließ sie von ihm ab und trat mit einem leisen Keuchen von ihm fort. Ihr Gesicht wurde zu einer eisigen Maske, ein Spiegelbild ihres Inneren.


    "Die Helena von früher gibt es nicht mehr, Marcus. Und sie wird auch nie wiederkommen."

    Hatte er Mitleid mit ihr? Helenas Augen verengten sich zu Schlitzen während sie ihn musterte. Nun endlich zeigte auch er eine Gefühlsregung, aber ob ihr das gefallen sollte wusste sie nicht. Sie wollte kein Mitleid! Aber immerhin zeigte er nun, dass ihm die Situation nicht vollkommen egal war. Als er aufstand und auf sie zukam wich sie instinktiv einen Schritt zurück. Fast hätte sie abwehrend die Hände gehoben, aber sie tat es nicht. Eine Antwort bekam sie nicht, aber stattdessen schloß er seine Arme um sie und drückte sie an sich. Helena sträubte sich. Zuviel Nähe! Wie sollte sie da einen klaren Gedanken fassen?! Doch der Widerstand hielt nur kurz. Mit geschloßenen Augen lehnte sie ihren Kopf gegen seine Schulter und sog seinen Duft ein. Innerlich jedoch war sie immer noch aufgewühlt. Mit dieser Reaktion hatte sie nicht gerechnet und sie wusste nicht wie sie damit umgehen sollte.


    Schon einmal hatten sie so dagestanden und in Helena hatte ein kleiner Hoffnungsfunke geflackert. Dann jedoch...zu genau erinnerte sie sich nach daran, dass er geglaubt hatte sie wäre schwanger. Der Hoffnungsfunke war gestorben. Deswegen weigerte sie sich jetzt in dieser Umarmung mehr zu sehen als Mitleid. Schon wollte sie sich von Marcus lösen, doch dann hörte sie eine Worte. Leise nur, fast geflüstert. Helena schnappte kurz nach Luft und schüttelte dann den Kopf. In ihr krampfte sich etwas zusammen und der Funke war wieder da. Gegen seinen Griff ankämpfend schob sie Marcus ein kleines Stück von sich fort.


    "Und was bedeutet das? Für mich?...für uns...?"


    Ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Helenas Herz schlug schmerzhaft gegen ihre Rippen. Ihr Blick hing an seinen braunen Augen. Sie suchte nach etwas, was den Funken in einen Flächenbrand verwandeln würde.

    Marcus ging nicht auf ihren sarkastischen Unterton ein, sondern blieb weiterhin ruhig und gelassen. Helena hasste ihn dafür! Sie spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. Zuviel getrunken... Das konnte durchaus die Wahrheit sein. Immerhin war das Fest bis spät in die Nacht gegangen. Aber hätte er sich nicht ein wenig zurückhalten können? Immerhin war er es gewesen, der das Gespräch am nächsten Tag vorgeschlagen hatte. Er hatte mit Sicherheit keine Ahnung wie sie sich gefühlt hatte. Helena hatte auf ihn gewartet, hatte bei jedem Geräusch zur Tür geschaut. Eine Folter der ganz besonderen Art. Nein, er wusste es nicht und er konnte es ihr wahrscheinlich auch nicht nachfühlen.


    "Tja, und jetzt bist du hier..."


    Mit einer hastigen Bewegung stand sie auf und ging ein paar Schritte von ihm weg. Sie floh aus seiner Nähe, genauso wie bei ihrem letzten Gespräch hier im Zimmer. Sie zog den Mantel enger um ihren Körper und senkte den Kopf. Was sollte sie jetzt sagen? Er fand ihr Geständnis mutig. Und weiter? Das brachte ihr nicht viel, half ihr überhaupt nicht weiter. Der Kloß in ihrem Hals schmerzte und sie bemühte sich krampfhaft ihn hinunter zu schlucken. Die Tage an denen sie glücklich gewesen war schienen ihr weit entfernt.


    "Was willst du denn jetzt von mir hören? Das ich gelogen habe? Wäre das einfacher für dich? Das kann ich nicht, denn es ist die Wahrheit. Ich kann es nicht mehr ungeschehen machen." Plötzlich wandte sie sich ruckartig zu Marcus herum. Tränen standen in ihren Augen, doch noch konnte sie sie zurückhalten. "Sag mir was ich tun soll!"