Erfreut sah Plotina zu, wie Theodoros mit Appetit zu dem von ihr mitgebrachten Kuchen griff und aß. Wer die Sergierin in diesem Moment im Profil hätte sehen können, dem wäre aufgefallen, dass sie auf ihrem Stuhl vor dem Schreibtisch des Curator libris leicht vorgebeugt saß. Ihr ganzer Körper drückte eine Spannung aus, der man bei einem Blick in ihr lachendes Gesicht nur das Attribut "freudig" geben konnte. Ihre Hände hatte sie in ihrem Schoß und rieb sie vor Vergnügen.
Denn der schwarzhaarige Mann vor ihr verzehrte ihren Kuchen mit echtem, ungekünsteltem Behagen. Auch deshalb war sie anfangs so nervös gewesen, als sie ihm den Kuchen überreichte: Sie hielt den Alexandriner für unfähig zu jedweder Verstellung, so dass sie bei Nicht-Gefallen des Kuchens auch mit einer deutlichen Abfuhr gerechnet hatte. Da nun genau das Gegenteil eingetreten war, mischte sich in ihre Freude auch Erleichterung.
Zu diesen beiden Zutaten zum Gefühlsmix der Sergia Plotina trat eine dritte Komponente, die die junge Frau allerdings nicht recht einordnen konnte. Diese dritte Komponente war ebenso angenehm wie die Erleichterung und die Freude; doch sie war mehr. Plotina verspürte sie umso stärker, je intensiver sie in das Gesicht ihres Gegenübers blickte. Je angeregter sie den wippenden Bewegungen folgte, die die Nase Theodors bei jedem neuen Zubeißen machte. Je genauer sie versuchte, die Muskeln des Kiefers auszumachen in seinem markanten Gesicht unter dem schwarzen, glänzenden Bart. Je aufmerksamer sie in seine grauen Augen blickte.
Ach, sie wollte nicht wissen, was das für ein neues Gefühl war, wollte sich diese Frage jetzt nicht stellen. Stattdessen lachte sie wieder auf bei seiner Frage nach dem Rezept und Aigyptos.
"Ich danke dir für dein Lob, Theodoros! Ich habe ja so gehofft, dass dir dieser Kuchen schmecken wird! Und deswegen habe ich natürlich nach einem Rezept gebacken, dass ich noch von unserer Hausverwalterin in Sais kannte."
Indem sie dies sagte, überfielen etliche Kindheitserinnerungen die junge Sergierin.
"Als ich klein war, hat sie oft mit mir zusammen gebacken. Ihr kleiner Junge war dann auch oft bei uns im Haus in der Küche dabei, und der wollte dann natürlich immer vom Teig naschen. Na, du weißt ja. Seine Mama hat ihm dann immer auf die Finger gehauen, aber wenn sie weggeguckt hat, habe ich dem Kleinen doch immer wieder einen Löffel mit Teig dran gegeben. Der war noch viel jünger als ich, musst du wissen. Manchmal habe ich seine Mutter auch abgelenkt und ihr ganz aufgeregt gesagt, ich hätte draußen vor dem Fenster etwas gehört, sie solle mal nachsehen. - Und das alles nur, um dem Kleinen Teig zu geben. Stell dir das mal vor!"
Plotina lachte hell auf - und erschrak. Nun fing sie doch tatsächlich an, diesen Wissenschaftler mit ihren Kindheitserinnerungen zu langweilen. Sie senkte ihren Blick, konnte aber auch das nicht lange aushalten und begann daher, ihre Augen langsam wieder zu heben. Dabei glitt ihr Blick über das Bäuchlein des Theodoros, das dieser ja gerade mit Behagen füllte. Sie konnte gar nicht wegschauen; es kam ihr ein Gedanke, alle Kontrollmechanismen versagten, sie sah Theodoros an und sprach:
"Na, du hast als Kind bestimmt auch ganz gerne genascht, was?"
Dabei schaute sie lächelnd in seine Augen, und das mit einem Blick, der sicher in keinster Weise demjenigen glich, mit dem sie in ihrer Kindheit den kleinen Sohn der Hausverwalterin gefüttert hatte. Denn Plotina war kein Kind mehr.