Da jetzt zwischen den einzelnen Redebeiträgen eine Pause eingetreten war - oder vielleicht auch gar keine Rede mehr folgte, woher sollte Plotina das wissen? -, hatte der Lärmpegel auch in unmittelbarer Nähe der Rostra wieder zugenommen: Statt zuzuhören, diskutierten die Menschen über das, was in den Reden zuvor angemahnt worden war.
Plotina hatte deshalb alle Mühe, Theodorus zuzuhören, und sie merkte schon, wie ihr Lächeln sich ein wenig verkrampfte, weil sie sich so anstrengen musste. Dies bedauerte sie umso mehr, als ihr Gesprächspartner sich als wirklich kenntnisreicher Erzähler entpuppte.
Sie sah sich um, als könnte sie die emotionsgeladen Diskutierenden in ihrer Nähe mit einem bloßen Blick zur Ruhe zwingen. Na, wenigstens schien sich die Menge der Zuhörer nun zu verlaufen, wo es nichts mehr zuzuhören gab. Allmählich wurde das Gedränge rings um die Rostra lichter, und Plotina atmete auf.
Nun hatte sie aber selber Theodorus nicht mehr ganz so genau zugehört. Etwas erschrocken, sich dabei ertappt zu haben, wandte sich Plotina ihm wieder mit voller Aufmerksamkeit zu. Was hatte er gerade gesagt? Woher sie seine Familie kennt? Plotina lächelte erleichtert. Ja, dazu konnte sie allerdings eine Menge sagen. Sie würde nur einen kleinen Moment brauchen, um ihre ausführliche Antwort auf diese Frage in eine verständliche Form zu bringen.
Deshalb richtete sie ihren Blick kurz von Theodorus weg in die Ferne und sammelte ihre Gedanken. Beiläufig, fast nur unterbewusst bemerkte sie einen ziemlich angegriffen aussehenden Jungen, der sie kurz ansah und Theodorus streifte. "Seltsam, wo es doch jetzt nicht mehr so voll ist", blitzte es in Plotina kurz auf. Dann wandte sie sich wieder Theodorus zu.
"Mein Vater war oft auf Reisen, so dass ich fast ausschließlich von einem gelehrten Sklaven erzogen worden bin, Basilides, gebürtig aus Athen. Er war ein Mann von umfassender Bildung in römischer und natürlich griechischer Kultur. Er hatte einen weltoffenen Geist, und schon kurz nach seiner Ankunft in Ägypten hat er Beziehungen zur jüdischen Gemeinde von Alexandria aufgenommen ..."
und so hätte Plotina noch lange weitererzählt von dem Mann, den sie bewunderte wie keinen anderen - plötzlich schoss ihr etwas durch den Kopf, ein gestochen scharfes Bild von einem Vorgang. Sie hielt bestürzt inne, und fragte sich krampfhaft, wie sie dieses Bild einordnen könnte. Dann hob sie mit einem Mal ihren Kopf, schaute entsetzt um sich, dann packte sie Theodorus an den Schultern und stammelte:
"Der Junge, wo ist dieser Junge!?"
Theodorus sah sie entgeistert und höchst beunruhigt an. Er legte nun seinerseits seine Hände auf ihre Oberarme, um sie wieder zu sich zu bringen. Aber da hatte sie ihre Fassung schon selbst wieder gefunden. Sie sah den Gelehrten mit festen Blick an:
"Verzeih dieses Schauspiel gerade, aber ich bin mir sicher ... Theodorus, wo bewahrst du deinen Geldbeutet auf, ich meine: Bist du sicher, dass du ihn noch hast?"