Im nächsten Aufzug bewies der Pantomine, nun in der Maske des Kreon, zum ersten Mal seine ungeheure Wandlungskunst. Die geschmeidige, unheilsgeladene Art der Bewegung, die er der Medea verliehen hatte, wich nun dem stolzen, raumgreifend und fest einherschreitenden König von Korinth, der Verkörperung der Herrschaft und (männlichen) Autorität. Schmetternde Cornua untermalten die Verkündung von Medeas Verbannung:
Der Chor als KREON:
Dich ihrem Mann Erboste, die so finster blickt,
Medea, heiß ich räumen dieses Stadtgebiet,
Verbannt von hier mit deinem Kinderpaar zugleich.
Und säume nicht; denn als des Worts Vollstrecker bleib
Ich selbst zugegen, kehre nicht nach Haus, bevor
Ich dich getrieben aus dem Weichbild dieser Stadt.
Und in raschem Wechsel glitt der Schauspieler nun zwischen den Rollen einher, nahm abwechselnd die verschiedenen Masken auf, und verkörperte im Wortwechsel der beiden mal die beredsam flehende Medea, dann wieder den argwöhnischen König. Je erbitterter das Streitgespräch, umso rascher wurden die Wechsel im Verlauf dieser dramatischen Szene.
Der Chor als MEDEA:
Weh, weh! So werd ich rettungslos verloren sein!
Die Feinde haben alle Segel aufgespannt,
Und zum Entrinnen zeigt kein Pfad sich aus der Not.
Doch fragen will ich dennoch, ob mißhandelt auch:
Warum, o Kreon, soll ich fort aus diesem Land?
Der Chor als KREON:
Mir bangt – wozu bemäntl ich auch die Sache noch? –,
Du fügst ein heillos Übel meiner Tochter zu.
Viel trifft zusammen, das mich solches fürchten läßt,
Denn vieler Tücken kundig bist du, klug und schlau
Und jetzt erbittert ob des Ehgemahls Verlust.
Auch, hör ich, drohst du, wie mir treu gemeldet ward,
Dem Vater und der Tochter und dem Bräutigam
Ein Unheil. Das nun will ich meiden, eh mich's trifft:
Denn besser ist mir's, deinen Haß zu haben, als
Gutmütig handelnd schwer zu seufzen hinterher.
Der Chor als MEDEA:
Ach weh!
Nicht heut zuerst, o Kreon – öfter war mir schon
Die Meinung schädlich und gebar mir große Not.
Drum muß ein Vater, welcher recht verständig ist,
Die Kinder ja nicht bilden über Maßen klug:
Denn abgerechnet, daß des Wirkens Trieb erlischt,
Ist Haß und Mißgunst Lohn des Klugen überall.
Entdeckst du Kluges, das die Dummen nicht gekannt,
Scheinst du der Tör'ge, nicht der Klug' im Torenvolk.
Und giltst du mehr als andre, die sich Tüchtiges
Zu wissen dünken, trifft dich bald auch Neid und Haß.
Ich selber trage meinen Teil an diesem Los.
Denn weil ich klug bin, bin ich dem ein Dorn im Aug,
Dem dünk ich schroff bloß und bei Klugen wenig klug.
Auch du besorgst nun wider dich Versündigung.
So steht es nicht, nein, fürcht, o Kreon, solches nicht,
Daß Fürstenhäupter anzugreifen wagt mein Mut.
Was hast du Leides mir getan? Du gabst dein Kind
Dem Mann, zu dem dein Herz dich zog. Doch meinen Mann,
Ihn haß ich! Du hast, mein ich, hier bloß recht getan.
So kann ich neidlos sehen, daß dir's wohl ergeht.
Vermählet, lebet glücklich! doch mich lasset hier
Im Lande wohnen. Ist mir Unrecht auch geschehn,
Ich werde schweigen, untertan den Stärkeren.
Der Chor als KREON:
Gutmütig lautet, was du sprichst; doch banget mir,
Geheim im Herzen sinnst du einen Frevel aus.
Deswegen trau ich minder jetzt als früher dir.
Wer rasch zum Zorn ist, Mann sowohl als Weib, der ist
Zu meiden leichter als der Schweigsam-Listige.
Drum rasch von hinnen, laß das viele Reden sein!
Es bleibt beschlossen, keine Kunst erwirkt es dir,
Bei uns zu bleiben, so verfeindet wie du bist!
Der Chor als MEDEA:
Bei deinen Knieen, bei der neuvermählten Braut –
Der Chor als KREON:
Du sprichst vergebens: nimmermehr bewegst du mich!
Der Chor als MEDEA:
So treibst du fort mich, ungerührt von meinem Flehn?
Der Chor als KREON:
Weil mir die Meinen näher stehn als dein Geschick.
Der Chor als MEDEA:
O Vaterland, wie sehr bedürft ich deiner jetzt!
Der Chor als KREON:
Gewiß, das Liebste nach den Kindern ist's auch mir.
Der Chor als MEDEA:
Weh, daß die Liebe so zum Fluch den Menschen wird!
Der Chor als KREON:
Fluch oder Segen, mein ich, wie sich's fügen mag.
Der Chor als MEDEA:
O Zeus, erfahre, wer an diesem Leide schuld!
Der Chor als KREON:
Mach fort, Verwegne, nimm mir ab die lange Qual!
Der Chor als MEDEA:
Genug der Qualen hab ich, brauch nicht andre mehr!
Der Chor als KREON:
Gleich soll die Faust der Diener mit Gewalt dich ziehn.
Der Chor als MEDEA:
Nur dies, o Kreon, tu nicht! Nein, ich flehe dich –
Der Chor als KREON:
Du willst mir viel zu schaffen machen, Weib, so scheint's!
Der Chor als MEDEA:
Ich werde gehen; nicht um dieses fleh ich dich.
Der Chor als KREON:
Wozu das Sträuben? Räume denn das Land sogleich!
Der Chor als MEDEA:
Den einen Tag nur gönne mir zu bleiben noch,
Um Rat zu schaffen, welchen Wegs ich fliehen soll,
Und meinen Kindern Unterhalt, für deren Los
Der Vater unbekümmert nichts ermitteln mag.
Erbarm dich ihrer; bist du selbst doch Vater auch
Von Kindern, also wirst du teilnahmslos nicht sein!
Nicht meinetwegen sorg ich, wenn ich fliehen muß,
Doch sie bewein ich, daß sie trifft das Mißgeschick.
Der Chor als KREON:
Mein Herz ist herrisch-stolzer Art mitnichten, und
Aus zarter Rücksicht hab ich manches schlimm gemacht.
Auch jetzt erkenn ich, daß ich unrecht handle, Weib;
Gleichwohl erhältst du's. Aber das verkünd ich dir:
Wenn morgen noch der Sonne Fackel hier dich sieht
Mit deinen Söhnen innerhalb des Lands Bereich,
So stirbst du! Was ich sagte, trifft gewißlich ein.
Jetzt, mußt du bleiben, bleibe denn den einen Tag.
Ein Arges, das ich fürchte, wirst du schwerlich tun!
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