Charisis von Samothrake
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"Wo ist mein Schemel...", war das erste, was die Akroatoi des Kurses von ihrem Philosophos zu hören bekamen, und das erste, was sie von ihm sahen war sein Hintern, als sich Charisis von Samothrake durch einen Vorhang schob, offensichtlich seine Aufmerksamkeit noch auf etwas richtend, was dahinter lag. Es folgte eine Weile des Gemurmels, und der Hintern bewegte sich mal nach links, mal nach rechts... ab und an wieder zurück in den Vorhang, mal ein Stück hinaus, so dass ein wenig Rücken zu sehen war, aber nie zeigte sich der Philosophos komplett. Bis der irgendwo hinter dem Hintern zu vermutende Kopf die Geduld verlor: "Nein, du verdammter Ziegenfuß, das ist nicht mein Schemel. Mein Schemel hat nicht drei Beine, sondern nur zwei... such ihn! Los, such ihn!"
Schließlich schob sich der Hintern aus dem Vorgang, begleitet von zwei Beinen, gefolgt von einem Rücken mit Armen dran, irgendwann auch der Kopf. Wer damit rechnete, dass der Gelehrte sich umwenden würde, um seine Schüler von Angesicht zu Angesicht zu grüßen, irrte sich gewaltig: Charsis von Samothrake bewegte sich weiterhin rückwärts auf das Podium zu, um das herum die steinernen Sitzbänke wie in einem Odeon angeordnet waren. Erst als er den zentralen Punkt erreicht hatte wandte Charsis sich um, und schenkte jedem seiner Akroatoi einen langen und eindringlichen Blick.
"Ihr habt euch entschlossen, die Geschichte der Polis Athen zu studieren... und deren einmalige politische Verfassung. Das steht euch gut zu, denn wer lernt wie die Polis Athen entwickelt hat, wird verstehen wie man politische Gewalt zäumen kann, ohne sie Bewegungsunfähig zu machen. Aber... und dies lasst euch gesagt sein... ich werde diese Sitzung nicht eher beginnen, so mein Schemel nicht endlich hier ist. Ohne meinen Schemel werde ich kein Wort sagen. Jawohl." Sprach's, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte durch die Schüler hindurch geradeaus ins Nichts. Und führte diese Art der Nullkonversation auch weiter fort. Es folgte Räuspern, Ächzen, das Geraschel von Stoff, hier und da ein Huster... aber Charisis von Samothrake blieb stur. Selbst als einer der erfahreneren Schüler sich tatsächlich von seinem Platz erhob, zögerlich an den Philosophos herantrat und ihm leise etwas zuflüsterte blieb der Gelehrte unbeweglich stehen, als wäre er erstarrt und bar jeder Wahrnehmung der Welt.
Erst als ein Diener des Museions durch den zuvor erwähnten Vorhang geeilt kam, und dabei einen Schemel mit sich führte der so aussah, als wäre ihm ein Bein abhanden gekommen, zeigte der Gelehrte eine Regung in dem er in die Hände klatschte und vergnügt zu lachen begann.
"Na also... ich dachte schon, ich könnte heute gar nicht mehr anfangen.", frohlockte der Grieche mit dem Lächeln eines achtjährigen, ließ sich mit laaaaaaangsamer Bewegung auf dem Schemel nieder (welcher von dem in einer Art Panik erfassten Diener in Balance gehalten wurde), wippte damit ein wenig nach vorn, nach hinten, bis er schließlich zufrieden wirkte und den Diener mit einer lässigen Handbewegung von dannen schickte. Er selbst schien keinerlei Probleme mit der Balance auf dem zweibeinigen Schemel zu haben, fast war es, als hätte er sein ganzes Leben auf diesem Schemel verbracht.
"Nun...", begann Charisis schließlich, "..die Geschichte Athens ist eine ebenso lange wie verworrene. Wir beginnen heute im dunklen Zeitalter, in der Athen noch von Basileis regiert wurden... diese Basileis waren es allerdings, die am Ende des dunklen Zeitalters zunehmend im politischen Machtkampf mit den Eliten der Polis, den Eupatridei, schließlich ihre herausragende Stellung einbüßten. In dieser Zeit entwickelte sich Athen von einem einfachen Oikos, sprich einer dörflichen Versammlung mehrere Bauernschaften, zu einer Polis, sprich einem Stadtstaat, wie dem was wir heute darunter verstehen..." So begann der Vortrag des Charisis mit einer Einführung in die Geschichte Athens, begonnen hatte er mit dem dunklen Zeitalter der Könige, die schließlich ihre Stellung zwar symbolhaft behaupten konnten, jedoch gegenüber dem Geburtsadel der Stadt schließlich aufgeben mussten. Er erzählte darüber hinaus von den sozialen Spannungen, die mit dem enormen Wachstum und Machtzugewinn der Polis einhergingen, da eben nur der Geburtsadel politische Macht innehatte, die große Bevölkerungsmehrheit der Bürger und Nichtbürger allerdings ohne Einfluss dastand. Es sollte schließlich ein Mann namens Solon für eine erste Beruhigung der Lage sorgen, in dem er die politische Verfassung der Polis reformierte und die Bürgerschaften an der politischen Entscheidungsfindung beteiligte.
Diese Reformen hatten jedoch nur vergleichsweise kurzen Erfolg, denn Athen musste im folgenden für mehrere Jahrzehnte die Rückkehr der Einzelherrschaft erdulden, welche in der sprichwörtlichen Tyrannis ihre Ausprägung fand. Es waren schließlich Staatsmänner wie Kleisthenes, die für die Bildung dessen sorgten, was man als frühe Demokratie bezeichnete, in dem er die politische Macht dezentralisierte wie nur eben möglich. Es waren die Kriege der Meder, die später einmal Perser genannt wurden, in welche Athen mit seiner starken Flotte eine tragende Rolle spielen würde, Herodot war einer der großen Namen dieser Epoche, die über das Ereignis schrieben.
Die Ausführungen des Charisis kamen schließlich an dem Punkt an, an dem Athen nach den Perserkriegen zum absoluten Hegemon in der Region aufstieg, und durch das Machtinstrument des attischen Seebundes schließlich einen Konflikt mit einer ebenfalls sehr mächtigen griechischen Polis provozierte: Sparta.
Der Peleponnesische Krieg würde beinahe ganz Griechenland verwüsten, und schließlich mit Sparta als Siegerpolis enden. Athen selbst hätte zwar seine Unabhängigkeit gewahrt, aber enorm an Einfluss in der Region eingebüßt. Ein Athener namens Thukydides war es, der die Ereignisse dieser Zeit für die Nachwelt festhielt.
Die Zeit der athenischen Freiheit endete schließlich mit den Makedoniern unter Philipp II. und Alexander dem Großen, welche die athenische Kultur zwar verehrten, Athen selbst aber nicht die politische Unabhängigkeit zurückgaben. Lange nach dem Tod Alexanders würde Athen zwar wieder die Freiheit zurück erlangen, diese allerdings im mithridatischen Krieg gegen die Romäer wieder verlieren, und schließlich Teil des römischen Imperiums werden. Dies allerdings, und das war der Punkt, auf den Chasiris am Ende noch einmal explizit hinwies, unter weitestgehender Autonomie und Freiheit, da auch das Volk von Rom um die große Tradition und Bedeutung der Polis Athen wusste.
TDV