Wie viele Selbstzweifel aus ihren Worten sprachen! "Ein zickiges kleines Mädchen? Nein, Helena. Ich glaube, dass Du in jener Nacht wirklich verzweifelt warst, dass Du wirklich glaubtest, Dein Leben sei nicht lebenswert." Er blickte sie geradeheraus an, suchte ihren Blick, nachdem sie ja nun den Kopf wieder gehoben hatte. Die ganze Sache war ihr unangenehm, das war nicht zu übersehen. Doch sie schien zu wissen, dass sie sich trotzdem damit auseinandersetzen musste, wenn sie darüber hinwegkommen wollte.
"Ich habe den Brief gelesen, weil ich nicht wusste, was los war. Und ich musste doch wissen, was los ist." Wie hätte er sonst irgendetwas tun können? Wie hätte er ohne das auch nur mit Corvinus sprechen können? Das Gespräch wäre ein noch schlimmeres Desaster geworden als alle anderen, die sie miteinander geführt hatten.
Sie hatten sich also geküsst. Oder vielmehr hatte sie ihn geküsst und er hatte den Kuss erwidert. Oh, Marcus! Und dann wunderst Du Dich über das Gefühlswirrwarr in ihr? "Weißt Du, es ist sehr schwer… für einen Mann sehr schwer, einen gefühlvollen Kuss nicht zu erwidern. Er hat Dich ja gern, er verabscheut Dich nicht, verstehst Du? Doch selbst wenn er Dich so lieben würde, wie Du es Dir von ihm erhofftest, dürfte er diesem Gefühl nicht nachgeben. Ihr seid zu nah miteinander verwandt. Es würde die ganze Familie in Schande stürzen." Ursus atmete tief durch und legte ihr die Hand nun auf den Arm, nachdem sie ihm ihre Hand entzogen hatte, um mit dem Becher herumzuspielen. "Es wird sicher noch eine ganze Zeit wehtun. Solcher Schmerz vergeht nicht von heute auf morgen. Doch nach und nach wird er verblassen. Und dann wirst Du auch Augen haben für die schönen Dinge im Leben und wieder Freude daraus schöpfen können. Und eines Tages wird es einen Mann in Deinem Leben geben, den Du lieben kannst und darfst."
Wie hohl sich seine Worte anfühlten! Seit Tagen schon hatte er kein privates Wort mehr mit Cadhla gesprochen. Sie wich ihm aus. Seit jener Nacht. Und noch immer verstand er nicht, was er falsch gemacht hatte. Es tat weh. Und doch ahnte er, dass dieser Schmerz nichts war gegen den, der Helena quälte.
"Du sagst, Du fühltest Dich ungeliebt. Doch ich liebe Dich, Helena. Und ich bin sicher, auch Prisca liebt Dich. Wie auch der Rest der Familie. Und ebenso Marcus. Was er gesagt hat, möchtest Du wissen? Er hat sich schwere Vorwürfe gemacht. Fühlte sich sehr schuldig. Vermutlich tut er das immer noch. Dabei… dabei hat er richtig gehandelt, auch wenn sein Handeln Dir Schmerz zugefügt hat." Noch immer blickte er sie fest an.
Langsam nahm er die Hand von ihrem Arm, hob sie ihrem Gesicht entgegen und berührte sie sanft an der Wange. "Du darfst ihn lieben, Helena. Er ist Dein Verwandter. Als solchen darfst und sollst Du ihn lieben." Ob sie sich ihrer Gefühle wohl wirklich sicher war? Hatte sie denn überhaupt je die Gelegenheit gehabt, sich wirklich in jemanden zu verlieben? Außerhalb der Familie?
"Wenn ihr beide nicht darüber redet, wird es immer zwischen euch stehen. Es ist eure Entscheidung. Ich kann, will und darf euch da zu nichts zwingen. Wenn Du willst, dann richte ich ihm Deine Nachricht aus. Aber es wird eurem Verhältnis zueinander nicht helfen. Er… ich glaube, er hat Angst, freundlich zu Dir zu sein, weil er fürchtet, Du könntest es falsch verstehen. Vermutlich wird er sich Dir gegenüber kühl und distanziert geben. Glaube dann nicht, dass er Dich nicht mag, Helena. Er war so bestürzt darüber, Dich fast verloren zu haben… Redet miteinander, lasst das nicht so zwischen euch stehen." Es war unglaublich schwer, das alles in Worte zu fassen. Dazu kam er sich wie ein Heuchler oder Betrüger vor. Denn er war ja nicht mal selbst in der Lage, sein Verhältnis zu Corvinus ins Lot zu bringen. Und da schwang er hier große Reden…