Es war ja schon erstaunlich genug, dass Corvinus tatsächlich die aktuellen Unterlagen herausgerückt hatte. Ursus hatte nicht wirklich damit gerechnet. Und er erwartete eigentlich, dass ihm die Einsicht in diese Unterlagen sehr bald wieder entzogen würde. Daher arbeitete er nun schon seit mehren Tagen in jeder freien Minute daran, sich gründlich einzuarbeiten. Dazu hatte er sich auch die Unterlagen aus Cottas Büro und einige aus der Bibliothek geholt. So hatte er während der Arbeit alles griffbereit.
Natürlich tauchten immer wieder Fragen auf. Fragen, die Corvinus ihm sicherlich schnell hätte beantworten können. Doch Ursus hatte keine Lust, sich auch noch als Dummkopf hinstellen zu lassen, nur weil er Corvinus Fragen stellte. Der suchte doch nur nach Vorwänden, ihn weiterhin dumm und klein halten zu können. Und so erarbeitete Ursus sich die benötigten Antworten selbst, was teilweise sehr mühsam und zeitraubend war. Andererseits lernte er gerade dadurch natürlich eine ganze Menge.
Auch an diesem Abend hatte Ursus mal wieder kein Ende finden können. Er hatte mehrere Lampen und Kerzen aufgestellt, um genügend Licht zu haben. Und sich dann in die Aufzeichnungen vertieft, unzählige Notizen und Fragestellungen auf Wachstafeln notiert, nur um sie am Ende noch einmal durchzugehen und gezielt nach den jeweiligen Antworten zu suchen. Das meiste war einleuchtend und klar strukturiert, das Prinzip nicht weiter schwer zu begreifen. Doch nicht allein die Systematik interessierte ihn, sondern auch die Vorgänge, die dem Ganzen zugrunde lagen. Und so verglich er die nackten Zahlen mit Vorgängen im Schriftverkehr und mit Berichten der einzelnen Verwalter.
Dazu versuchte er sich ein Bild über die laufenden Kosten zu machen, die hier im Haushalt so anfielen. Über mehrere Jahre ging er zurück und notierte sich, wann wofür wieviel Geld ausgegeben worden war, versuchte nachzuvollziehen, warum in manchen Monaten besonders hohe Kosten angefallen waren und in anderen erstaunlich wenig. Wieder machte er sich Notizen, verglich sie anschließend mit den anderen Notizen, stellte so die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Bereichen her.
Viele Stunden rannen so dahin, ohne dass Ursus dies auch nur bemerkte. Bis ihm irgendwann doch die Augen von der langen Arbeit bei unzureichendem Licht schmerzten. Der junge Aurelier reckte sich und stand auf, um die steifen Glieder ein wenig zu lockern. Er hatte heute wirklich viel geschafft. Sowohl für sein Amt, als auch bei der Einarbeitung in die Familiengeschäfte.
Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm einen sternenklaren Himmel. Der fast volle Mond erhellte die Nacht und ließ den Garten verlockend daliegen. Ja, ein paar Schritte an der frischen Luft würden ihm jetzt gut tun. Einfach etwas Ruhe und Frieden tanken – und dann schlafen gehen.
Still war das Haus um diese Zeit. Friedlich und ruhig. Und so rechnete Ursus natürlich nicht im geringsten damit, dass sich außer ihm noch jemand im Garten aufhielt. Umso erstaunter war er, als er eine Stimme vernahm. Jemand sang. Traurig und wunderschön! Eine weibliche Stimme und ganz gewiß nicht Cadhla, deren Singstimme er ja seit dem Totenfest der Sklaven kannte.
Neugierig, aber ohne Eile, ging er näher heran. Aus der Richtung des Teiches kam der Gesang, der nun bedauerlicherweise verklang. Der Teich kam gerade in Sicht. Das fahle Mondlicht spiegelte sich auf der Wasseroberfläche zwischen den Blättern der Seerosen. Seine Augen suchten aber eigentlich das Ufer ab, wo er nichts entdecken konnte. Und schon wollte er sich abwenden, in der Annahme, die Sängerin sei schon wieder weg, da bemerkte er etwas im Wasser. Einen hellen Widerschein, wie von weißem Stoff… Ein Gewand… Ein Mensch! Da war ein Mensch im Wasser! Unter Wasser!
Keinen Augenblick zögerte Ursus. Er rannte zum Teich, - rannte hinein in das unangenehm kalte Wasser und griff nach dem Menschen. Eine Frau… Schlaff und kalt fühlte sie sich in seinen Armen an, als er sie ans Ufer beförderte, wo er sie vorsichtig ins Gras legte. Nun erkannte er sie auch. "Helena!" Schnell kontrollierte er ihren Atem, konnte aber nichts feststellen. Doch er wusste, manchmal war der Atem so schwach, dass man ihn nicht gleich bemerkte. Herzschlag, das war aussagekräftiger. Und ja, das Herz schlug. Ganz schwach, aber er konnte es spüren.
Lange konnte sie nicht im Wasser gelegen haben. Er hatte sie doch noch singen gehört! Es konnte nicht sein, dass sie in so kurzer Zeit ertrunken war! Es konnte nicht sein und durfte nicht sein!
Nun war er froh, dass er in Griechenland auch viele Philosophie-Vorlesungen besucht hatte, die sich mit Medizin und dem menschlichen Körper befasst hatten. Er bog ihren Kopf nach hinten und lagerte ihn halb auf die Seite. Dann ergriff er ihre Hände, um sie auf den unteren Brustkorb zu drücken. Damit wollte er eventuell eingeatmetes Wasser aus ihr herausdrücken.
Doch als er ihre Handgelenke ergriff um dies zu tun, erfühlte er an ihrer linken Hand eine warme, klebrige Flüssigkeit. Blut! Geschockt blickte Ursus auf die Wunde am Handgelenk, aus der langsam Blut sickerte. "Was hast Du getan?", rief er voller Schreck, ohne daran zu denken, dass sie ihn wohl ohnehin nicht wahrnahm.
Eiligst riss er sich einen Streifen Stoff von der Tunika und umwickelte mit fliegenden Fingern fest das Handgelenk, damit nicht noch mehr kostbarer Lebenssaft aus ihr herausfließen konnte. Er musste sich beeilen, denn auch das Wasser musste aus ihr raus, bevor es sie erstickte. Kaum war die Wunde notdürftig verbunden, drückte er auf ihren Brustkorb. Und wieder… Und wieder…
"Oh, ihr Götter, ich bitte euch: Laßt sie nicht sterben", flehte er. Ausgerechnet Helena! Die liebe, sanfte Helena! Warum nur? Warum nur hatte sie das getan? Warum wollte sie ihr Leben wegwerfen? Was konnte sie so unglücklich gemacht haben?
"Helena… Helena, komm zu Dir, - bitte!" Die Gegenstände unter dem Baum bemerkte er nicht. Noch nicht. Im Moment hatte er nur Augen für die blasse, schöne, junge Frau, die sich auf der Schwelle zwischen Tod und Leben befand und sich nun für das eine oder andere entscheiden mußte, so sie denn konnte.