Du füllst mich an wie Blut die frische Wunde
und rinnst hernieder seine dunkle Spur,
du dehnst dich aus wie Nacht in jener Stunde,
da sich die Matte färbt zur Schattenflur,
du blühst wie Rosen schwer in Gärten allen,
du Einsamkeit aus Alter und Verlust,
du Überleben, wenn die Träume fallen,
zuviel gelitten und zuviel gewusst.
- Gottfried Benn, Abschied
Echo. Stimmen. Lachen.
Gülden erstrahlt die Sonne. Brennt. Schmerzt in den Augen. Kinderlachen schwingt durch einen Garten. Silberne Diamanten funkeln im Blätterwerk aus feinem Gold. Eine schwarze Mauer erhebt sich um den Garten. Zu hoch und unüberwindlich ist sie. Kalt und bitter ist jeder Stein aus Granit. Aus dem die Mauer erschaffen wurde.
Im Tau von goldenen Grashalmen sitzt Callista. Klein ist sie. Jung ist sie. Unbedeutend ist sie. Gefangen in einem Meer aus goldener Pracht.
Atemlos sieht sie einem davon laufenden Jungen hinter her. Ihr Fuß schmerzt. Er ist gebrochen. Sie kann ihm nicht folgen. Er läuft zu schnell. Ihre flehenden Rufe bleiben ungehört.
Sie sinkt ins Netz von feinen Perlen hinab. Schmuck. Pracht. Was nützt ihr das? Das Unglück hält sie dennoch umfangen. Die Einsamkeit.
Höhnisch starren die Gesichter der Männer auf sie hinab. Sie stehen auf der Mauer. Bunt sind ihre Gewänder. Grell. Ihre Gesichter weiß geschminkt. Ihre Münder zu hässlichen Fratzen verzerrt. Blut tropft von ihren Fingern. Ihren Klauen. Sie warten darauf. Dass Callista noch schwächer wird. Dann werden sie Callista zerreißen.
"Jeder ist einsam. Egal womit er sich täuscht."
Die Wahrheit. Callista kann sie nicht ertragen. Sie vergräbt ihr Gesicht und schluchzt leise. Die Tränen. Sie gelten nur ihr. Callista. Claudia. Nur sie zählt. Für Callista. Claudia. Schritte. Seine Anwesenheit. Endet die Einsamkeit? Callista sieht auf. Vertraut ist er. Sie lächelt.
"Träget das Schicksal dich, so trage du wieder das Schicksal.
Folg ihm willig und froh; willst du nicht folgen, - du mußt."
Gütig ist er. Einem Vater similär. Die kleine Callista hebt er auf seine Arme. Konsolation suchend vergräbt Callista ihr Gesicht an seiner Brust. Beflügelt erklimmt er die Demarkation ihres Kerkers. Das Gold zerfällt zu Asche. Die Bäume vergehen zu Staub. Strahlend ist sein Licht. Und er vertreibt die Klauenmänner. Sie flüchten vor dem güldenen Leuchten von ihm. Er hat sie gerettet. Callista erfüllt tiefe Dankbarkeit.
"Muss ich."
Ein Feld aus Feuer brandet vor ihnen. Rauch steigt zum Himmel. Rom. Es brennt. Calllista lächelt. Zwischen den Ruinen tanzen sie. Die beiden Männer, die sie liebt. Und die Callista lieben. Verlangend streckt Callista die Hand nach ihnen aus.
Rom. Es wird zu einem Bild. Auf einer steinernen Mauer. Die Flammen erstarren.
"Viel tiefer nur ist zu finden, was des epiphanen Minotaurus' Esprit verbarg und ein einziger Faden nur führt durch das Labyrinth, an dessen Ende des Damokles' Schwert auf uns wartet. Es ist dir überlassen, ob du ihn spinnen, bemessen oder durchtrennen willst."
Kalt ist der Stahl in ihrer Hand. Leuchtend der Faden. Rostig rot ist das Meer aus Steinen vor ihnen. Kleine Menschen irren herum. Schwarze Spinnen jagen sie. Callista ergötzt sich daran. Der Faden läuft. Verläuft und verliert sich zwischen all den Steinen. Sie findet nicht. Sie irrt. Wo ist er? Der Faden. Er reißt.
"Komm. Wenn der Morgen Gestern wäre, so könnten wir das Heute genießen, doch es bleibt nicht die Ewigkeit beständig."
Blaue Wolken wehen von Callistas Lippen hin fort. Botmäßig ist sie ihrem Traumwandler gefolgt. Eisblau glitzert die Welt. Kalt ist das Meer aus ewigem Eis. Mit einem lauten Tosen donnert das Eis in das Meer. Wirbelt Wassermassen nach oben. Feiner Nebel. Callista erschaudert. Unter ihren Füßen gleiten blaue Schemen entlang. Fische mit vielen Köpfen. Kraken mit hundert Armen. Teufelsrochen aus glänzenden roten Schuppen.
Ein magerer Mann steht im Eis. Seine Hacke schlägt in das Gefrorenes. Es splittert. Verbissen schlägt er erneut zu.
"Leid ist das Leben. Nur die Würdigen erheben sich darüber hinweg. Sind wir würdig?"
Es klopft in Callistas Brust. Verwundert öffnet sie ihr Kleid. Ein Schlüssel leuchtet über ihrem Herzen. Sie öffnet ihn. Eine Nachtigall entspringt ihr. Trillernd erhebt sie sich in die Höhe. Jauchzt und frohlockt. Elegisch sieht Callista ihr hinter her. Ist ihr auch das letzte Schöne abhanden gekommen?
"Vollendet ist der Mensch. Schön ist er. Wenn er rein und lauter ist. Einem Vogel verwandt erhebt sich seine Seele über die Götter. Sie neiden uns. Weil wir größer als sie sind. Darum strafen sie die Sterblichen."
Niemals hat sie das einer Seele anvertraut. Außer ihrer verwandten Seele. Und nun ihm.
Die Wahrheit.
Die Lüge.
Beides sucht Callista. Und findet nur das Eine.
Die Klarheit des Eis trübt sich. Der Glanz entschwindet. Das Eis splittert unter ihren Füße.
"Nicht neiden, nicht strafen kann das Prinzip, denn von Emotio ist es frei. Es ist wahrhaftig, nicht mehr, nicht weniger. Wie kann Schönheit über Schönheit sich erheben, wie kann Wahrheit wahrer sein denn wahr? Einzig der unbedarfte Mensch drängt die Götter in eine Hülle, gibt Stimme und Zorn, denn der unbedarfte Mensch ist es, der die Götter braucht, nicht die Götter den unbedarften Menschen."
Bitterkaltes Wasser umschlingt Callista. Timide sind ihre Augen geweitet. Sie sinkt. Sinkt stetsfort. Eine silberne Villa leuchtet vor ihr. Schwarze Haare umwehen Callista. Sie braucht keine Luft zu atmen. Der Schrecken ist hinfort. Ein Fisch ist sie. Sie gleitet durch das klare Blau. Ein Rot getupfter Katzenhai schwimmt vorbei. Kleine schwarze Fische tummeln sich um ihre langen Flechten.
Callista verharrt in der silbernen Villa. Ein Garten aus blauen und roten Algen windet sich zwischen silbernen Säulen. Strahlend steht er inmitten all der Farbenpracht.
"Lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit, non novit.* Nicht Emotio leitet noch den Episit, denn einzig der Drang nach Leben, ein jener Drang, welcher gänzlich unbekannt der Wahrheit ist."
Eine Nymphe gleitet vorbei. Ihr güldenes Haar wogt in der unendlichen Tiefe. Ihre azurblauen Augen schillern unter dem Wasser. Kritisch wirkt sie. Prüfend. Zweifelnd. Darnach ist sie entschwunden.
"Wann war je der Mensch schön und lauter, der er seinem Gegenüber einzig neidet, weil es größer ist, als er? Wann war rein der Mensch, der zerfressen von Gier und Neid die Schönheit vor seinem Auge nicht zu denken vermag, die Wahrheit aus seinem Ohr vertrieb und die Wahrhaftigkeit aus seinem Munde spuckte?"
Ein Spiegel funkelt in seiner Hand. Willenlos ist Callista. Kann den Blick nicht abwenden. Kann sich nicht rühren. Im Silber zeigt sich ihr Angesicht. Schön ist es nicht. Zerfressen. Von Gier und Neid. Sie kann dem Bild nicht standhalten.
"Die Wahrheit kann ohne die Lüge nicht leben."
Callista hebt ihr Kinn an. So ist es.
"Das Schöne besteht nicht ohne das Hässliche. Licht ist blass ohne die Dunkelheit. Die absolute Wahrheit ist eine Lüge. Ein obligates Paradoxon."
Blut tropft an Callista hinab. Erstaunt betrachtet sie einen Tropfen an ihrer Hand. Stumm folgt sie dem Fluss. Eine Alge streichelt sie liebkosend. Schwarz färbt sich das Wasser. Giert auch nach dem kleinen Paradies ihres Gartens. Callista streckt ihre Hände aus. Umfasst die Seinen.
"Die Vögel tanzen. Die Fische fliegen. Wollen wir ihnen folgen? In das Reich der ewig Lebenden."
Sylphidenhaft entschweben sie aller Arglist und Infamie. Wonne und Entzücken laben Callista. In einer uferlosen Farbvielfalt offeriert sich die Welt. Sie gleiten hinweg. Über Sonnenstrahlen und Wolkenfetzen.
Sie fliegen.
Sie stehen.
Alles ist leuchtend weiß: weiß umschweben sie das Wolkenfeld. Er nähert sich ihrem Ohr.
"Ich bin die Wahrheit. Ich bin die Lüge. Ich bin die Dunkelheit. Ich bin das Licht. Ich bin der Tod. Ich bin das Leben. Ich bin der Fluch. Ich bin die Hoffnung."
Claudia Callista erkennt.
Calllista versteht.
Sie ist.
Sim-Off:* Plautus: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, kein Mensch, wenn er nicht weiß, welcher Art [sein Gegenüber] ist.