"Die Götter werden uns zürnen, einen Atheisten zu wählen!" rief ein dünnes Stimmchen. Diagoras überlegte, ob er dem Zorn der Götter mit einem gezielten Wurf auf den Greis, zu dem das Krächzen gehörte, Ausdruck verleihen sollte. Ihn aber dauerte es um die saftige Frucht, die er schon am Hinterkopf des Gelehrten zerplatzen sah und versagte sich, seine Treffsicherheit unter Beweis zu stellen.
"Solange ich lebe, wird kein Jude Epistates des Museion" erscholl es von einem anderen Wissenschaftler, dessen Körper nur durch die Trockenheit der Wüste noch zusammenzuhalten schien.
Na, auf ein paar Tage mehr oder weniger wird es kaum ankommen! erhob der Melier seine Stimme und griff so in die Diskussion ein, während er sich von der Säule löste und in den Raum trat.
Ich bin Diagoras von Melos, wehrte Herren, und ich möchte sprechen für Eure Kollegen in Attika und Ionien, deren Meinung ich gut kenne.
Laßt es mich kurz machen:
Es ist Eure Aufgabe, den besten Wissenschaftler unter Euch zu wählen, es ist aber auch an Euch, denjenigen zu wählen, der auf die moderne Zeit, das Miteinander von römischen und griechischen Gelehrten am besten vorbereitet ist.
Es braucht einen Moderator, jemand, der die verschiedenen Interessen der Römer und der Griechen kennt, mit den alexandrinischen Verhältnissen vertraut ist und zwischen allen diesen moderieren kann. Das Museion von Alexandria ist - ob es einem gefällt oder nicht - eine nicht nur griechisch-hellenische Institution, sondern eine, in der die ganze Welt, das heißt vor allem: die römisch-griechische Welt zu Gast ist, Verehrer der unterschiedlichsten Götter und deren Epiphanien.
Zugegeben - auch Eure Kollegen in Attika und Ionien wissen nicht, daß Theodoros ein Jude ist, sie aber wissen, daß Theodoros ein Alexandriner ist, in Rom gelebt und gearbeitet hat - und ein ausgezeichneter Wissenschaftler ist. Deswegen haben sie sich einstimmig für Theodoros als Epistates ausgesprochen und mich beauftragt, dies Euch mitzuteilen. (Was nicht völlig stimmte, aber im Kern doch richtig war.)
Zugegeben - ein Jude als Epistates am Museion ist eine Affront, den zu verdauen man einen guten Magen benötigt.
Zugegeben aber auch: es gibt hervorragende jüdische Wissenschaftler am Museion, in Alexandria und der ganzen Oikumene, deren Ruf ohne Fehl und Tadel ist, sowohl hinsichtlich ihrer Kenntnisse und Vernunft, wie auch hinsichtlich ihres Lebenswandels.
Ein Epistates ist kein Herrscher, sondern ein Vorbild. Seht Euch den Menschen Theodoros an und fragt Euch, ob dieser Mensch für Euch ein Vorbild sein kann, ein Vorbild, das für die alten und traditionellen Werte des Museions steht, ein Vorbild als Wissenschaftler und als Mensch.
Darüber entscheidet. Danke.
Er zog sich wieder in den Schutz der Säule zurück und biß in den Apfel, der noch als Wurfgeschoß und Halt während der Rede in seiner Hand war. Im Grunde war es eine unmöliche Situation, völlig unvorbereitet sich dieser neuen Lage stellen zu müssen, einer Lage, die sorgfältig auch hinsichtlich der Meinung Roms abgewohen hätte werden müssen.
Diagoras nahm sich vor, Theodoros in den nächsten Tagen deutlich die Meinung zu sagen: er selbst war seiner Meinung nach für hohe Diplomatie kaum geeignet, weil er im Grunde sein Herz auf seiner Zunge trug, aber so realitätsfremd, den Löwen auch noch auf einem umgehängten Schild mitzuteilen, daß er das Appetithäppchen sei, wäre er bestimmt nicht. Und Theodoros hatte sich ein großes Schild umgehängt, auf dem in Großbuchstaben stand: "Freßt mich! Ich wünsche wohl zu speisen!"