Beiträge von Diagoras von Melos

    Diagoras fuhr auf. Speichel hatte sich von seiner Unterlippe über das Kinn vorgearbeitet und seilte sich schon seit einiger Zeit kontinuierlich auf seine Brust ab, wo sich schon eine große Menge um den Faden herum auf dem Stoff ausgebreitet hatte. Wo war er? Wie war er hierher gekommen? Wie spät war es? War die Sonne am Aufgehen oder grade am Untergehen?


    Ächzend und an dem feuchten Fleck rubbelnd erhob sich Diagoras von seinem Stuhl, auf den er sich - gestern? eben? - niedergelassen hatte und streckte den Kopf zum Fenster hinaus: Vormittag, so verhieß der Sonnenstand. Hatte er doch einen vollen Tag und eine volle Nacht verschlafen! Ganz auf dem Damm war er offensichtlich immernoch nicht, er hob die angebissene Quitte vom Boden auf.


    Und jetzt? Na? Hunger verspürte Diagoras nicht, nichteinmal Durst, aber die Stille in seiner Kammer bedrängte ihn mehr und mehr. Nicht einmal irgendwelche Hunde kläfften in der Ferne. Schweigende Leere rundum.


    Damit er wußte, daß er nicht träumte, ging er aus dem Zimmer, warf krachend die Tür hinter sich zu - der Lärm war nicht zu überhören - und horchte. Nichts. Kein Fußgetrappel, kein Flüstern. Klare Stille.


    Einen ephesischen Gassenhauer aus seiner Jugendzeit pfeifend versuchte er die Beklemmung und die Stille zu vertreiben. Er ging den Gang entlang.

    Ein Gespenst ging um in Alexandria - das Gespenst des Diagoras von Melos. Keine Mächte des alten Alexandria hatten sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Präfekt und der Strategos, Theodoros und Cleonymos, hellenistische Radikale und römische Milizen.


    Nichts. Niemand.


    Was allerdings dem Umstand geschuldet ist, daß von des Diagoras Ankunft auch niemand Kenntnis erlangte. Keine erkannte ihn, bis auf den treuen Hund Argos auf dem Miste, verwahrlost und voll von Ungeziefer: sogleich erkannte das treue Tier den Philosophen und kam schwanzwedelnd und humpelnd auf ihn zu, in Erwartung eines Apfels, den ihm Diagoras, der ein weiches Herz allen Kreaturen gegenüber besaß, nicht verwehrte.


    Auch der Pförtner am Eingang des Museions blinzelte weniger verschlafen, als er den Schatten des Diagoras an seiner Loge vorbeischlurfen sah. Aber ihn zu grüßen hätte weitreichende und ernste Folgen für seine Stellung am Museion gehabt. Wo käme man hin, wenn ein Beamter auf Lebenszeit einen stellungslosen Philosophen grüßt, der höchstens auf Zeit eine Anstellung würde sein eigenen nennen können?


    Diagoras betrat seine alte Kammer, setzte seine Reisetasche ab, und sich selbst auf einen der Stühle, die im Raum herumstanden. Auf dem Kopfkissen turtelten Philemon und Baucis, zwei Chrysochroae corbetti, die ihn auch nicht erkannten, denn schamlos wie sie waren, unterbrachen sie ihr Petting nicht.


    Unser Bettel-Philosoph seufzte und biß in eine Quitte. Bah! Diagoras spuckte den Bissen auf den Boden. Dann überwand er sich und schlug nochmals in die Frucht. Strafe muß sein, er hatte sich geschworen, alle hundert Äpfel eine Quitte zu essen. Die Predigten seines Freundes Lukian von Samosata hatten eine gewisse Wirkung auf sein schlechtes Gewissen gehabt.


    Nichts hatte sich hier in dieser Kammer verändert. Und in Alexandria? Waren immernoch die Barbaren im Amt? Was kümmerte es ihn noch? "Politik ist ein shcmutziges Geschäft geworden, wer darin mitmischt, wird selber schmutzig" hatte ihn Lukian gewarnt. Also - keine Politik mehr. Late biosas. Diagoras laß unter dem Einfluß seines Freundes die Schriften Epikurs und dessen Schüler.


    Geld hatte er noch, aber es würde unweigerlich weniger werden. Guter Lukian. Wi grün sie sich immer waren, sie kamen stets prächtig miteinander aus!

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    ~~ Lukian ~~



    Einer der zentralen Fragen philosophischer Ethik wird meiner Meinung nach zu wenig Augenmerk geschenkt: Dürfen wir Menschen zu ihrem Glück zwingen?


    Die meisten Menschen werden eher andere Menschen zu ihrem eigenen Glück zwingen wollen, als daß sie sich die Mühe machen, was deren Glück eigentlich ist. Ein thrakischer Goldschmied wird andere Vorstellungen vom Glück haben als ein römischer Eques, der als publicanus irgendwelche Provinzen auspreßt wie ein Kerl hinter der Theke eine Pomeranze, der aus dem Saft dann ein Mischgetränk mit Minze, gutem 25jährigem Weißwein und viel gestoßenem Eis herzustellen gedenkt.


    Aber ich schweife ab. Tatsache, liebes Tagebuch, lieber wertgeschätzter Leser (und liebe wertgeschätzte Leserin - ich muß an meine Lectrix bei Piscator denken, wenn ich das Diarium verhökern möchte), ist, ich habe Diagoras hinausgeworfen. Er ist nun bald ein halbes Jahr bei mir gewesen, hat sich prächtig erhohlt, mich prächtig amüsiert und ist mir dann auch prächtig auf die Nerven gefallen. Freunde zu Besuch ist wie Fisch, wir wissen ja.


    Habe ich Diagoras nun zu meinem Glück gezwungen oder zu seinem? Diese Frage stelle ich mir sein geraumer Zeit, seit ich ihn mit einer kleinen Karawane nach Antiochia und von dort auf ein Schiff expediert habe. Alles im voraus bezahlt, Diagoras kann keinen Unsinn anstellen.


    Seine Gesundheit ist zwar wiederhergestellt, aber das Klima hier ist zu feucht und unbeständig, als daß es ihm auf Dauer zuträglich sein kann. Und in dieser humiden Gegend fing er - die Götter mögen es verhüten! - auch wieder damit an, an die Götter zu glauben und ich habe ihn Gebete murmeln und kleine Weihrauchkörnchen verbrennen sehen. Schlechtes Klima, schlechter Einfluß.


    Er soll mir mal schreiben, dann sehe ich ja, ob zwischen meinem und seinem Glück ein so großer Unterschied besteht.




    Zitat

    Original von Faustus Decimus Serapio
    [...] Der Händler hatte sich wohlweislich aus dem Staub gemacht. Der seltsame Grieche, der mit dem Apfel, schien von den ganzen Ereignissen ziemlich mitgenommen zu sein, und ich hatte den gänzlich un-soldatischen Impuls mich bei ihm zu entschuldigen.
    ~"Ähm, verzeih bitte den ganzen Aufruhr,"~ setzte ich verlegen an, ~"mein Kamerad hat das wirklich nicht so gemeint, vorhin, wirklich. Er war bloss ein bisschen nervös."~
    Ein letztes mal blickte ich durch den Verkaufsraum, wo Trümmer und Blutschlieren mit zermatschtem Apfel auf dem Boden ein makaberes Stilleben bildeten.
    ~"Wir tun ja nur unsere Pflicht, für unseren Kaiser und für das Imperium..."~, sagte ich leise, wobei das wieder einer dieser Moment war, in denen ich mich fragte: was zum Henker haben wir hier eigentlich verloren? Auf der Kiste neben dem Griechen liess ich einen grossen roten 'requirierten' Granatapfel liegen, so als notdürftige Geste der Entschädigung falls er wollte, drehte mich dann um und ging hinaus zu den anderen. [...]


    Leicht paralysiert und steif erhob sich Diagoras und kam aus seiner Ecke hervor. Ihm war zwar nicht klar, was hier genau passiert war, aber er war auch nur Zuschauer gewesen, Zuschauer in einem fremden Land, aber die Sprache der Gewalt und des Todes war überall dieselbe, die verstand man auch ohne Worte.


    Mit dem Parther waren die Soldaten schließlich abgezogen, so ziemlich das chaotischste Chaos hinterlassend, das Diagoras, der noch keine Soldaten in Aktion erlebt hatte, sich vorstellen konnte. Ob das zu ihren Pflichten gehört? Erwartet das Imperium, erwartet der Kaiser, daß seine Soldaten ein solches Durcheinander anrichten und hinterlassen? Die Logik des Krieges war ihm schon in der Theorie immer fremd gewesen, jetzt, in der Praxis sah es nicht anders aus.


    "Gepriesen seist Du, Herr unser Gott, wenn es Dich gibt", deklamierte Diagoras für seine Rettung, schließlich hätte er das Schicksal seiner Äpfel teilen können. Bei diesem Gedanken faßte er den rosa-roten Granatapfel, der auf dem braunen lehmigen Boden sich vertraut abhob, näher ins Auge. Den hatte der eine Soldat für ihn zurückgelassen. Diagoras hob ihn auf, polierte ihn liebevoll mit einem Ende seines Umgangs. Dann wandte er sich zu seiner Kiste, klappte den Deckel auf, begutachtete mit einem erleichterten Seufzer den Inhalt, war den Deckel wieder zu, griff nach dem Henkel und schleifte die Kiste hinter sich her ans Licht.


    Den Granatapfel hielt er weiter mit seiner Hand vor der Brust umklammert.


    Etwas derangiert, aber um Erfahrungen - und vielleicht einen unbekannten Freund - reicher, verließ Diagoras die Stadt Edessa 'gen Norden ...

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    ~~ Lukian ~~


    Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, ich fuhr entsetzt, die Fahnen über den Boden verteilend, auf und rief: "Diagoras! Nein, sowas!" Oder rief ich "Diagoras! Bist Du's wirklich?" Im Grunde sind das ephemere Angelegenheiten, denn - nein, sowas! - es war wirklich Diagoras. Diagoras von Melos, mein kluger aber wenig weiser Freund aus Ephesos. Naja, wir kennen das Klischee sicher alle: ein Gelehrter, der seinen Kopf entweder in die Schriftrollen steckt oder in die Wolken und dann, wenn er mal dieses mit lauter Nutzlosem übervolle Gefäß in den Wind streckt, sofort umgeweht wird. Bitte ihn, eine gelahrte Abhandlung über das "E apud Delphos" zu schreiben (was sicherlich keinen außer ein zwei Provinzpriester interessieren dürfte) oder eine Expertise über die Ur-Großeltern, wenn man so will, eines auf einer Wiese herumfaulenden Apfels, dann ist er Euer Mann. Wer sich aber auf ihn verläßt, ein Hühnerei zu kochen oder einen einfachen Sachverhalt mit einfachen Worten zu extrapolieren, der ist hoffnungslos verlassen. Geht es nicht um Äpfel und Birnen (und in diesem Falle sind sie wirklich einmal vergleichbar) oder um den Götterglauben der Menschen, wobei ich Diagoras im Verdacht habe, selbst Atheist zu sein, benimmt er sich in Gedanken, Worten und Werken wie ein Affe in einer Glasbläserei.


    Und dieser Diagoras schleppte sich nun hügelaufwärts mit einer - wie ich später feststellen mußte - mit leise aber duftig vor sich hingährenden Apfelgriepschen (sic!) gefüllten Korbkiste.


    Ich übergehe seinen Zusammenbruch und die ersten drei Wochen seiner Rekonvaleszenz, denn im Grunde gibt es nicht mehr zu berichten, als daß er "Chaire, Lukian" röchelte, mehr oder minder der ganzen Länge nach ins tropfnasse Gras schlug und in den ersten Wochen außer leisem Stöhnen, lautem Husten und kantigen Bewegungen auf seiner in einem Gästezimmer hergerichteten Liegestatt nichts von sich gab. Sieht man vom Kapaun in Honigsauce am ersten Abend ab, mit dem ich ihn zu füttern versuchte. Den mochte er einfach nicht, kräftige Brühe mit zerquetschter Einlage hingegen schon.


    Täglich habe ich nun Aeskulapios geopfert, und langsam kommen Diagoras' Kräfte wieder. Inzwischen murmelt er etwas von wegen "ich bin verloren, ich bin verloren", als ob ihn jemand suchen würde. Eine Depesche nach Ephesos ist bislang unbeantwortet geblieben, wie auch meine Frage, warum er eigentlich nicht in Alexandria sei, wie ich es ihm angesichts seiner immer schon labilen Gesundheit dringendst angeraten, ja eigentlich befohlen hatte. Warum haben die Menschen nur immer einen eigenen Kopf - und warum führt dieser eigene Kopf sie immer an den Rande des Abgrunds?

    Plötzlich taumelte der Händler, der ihm die "Maschansker von Edessa" verkauft hatte, in seine Ecke. Einer dieser Gladiatoren fuchtelte mit seinem, na was: gladius herum und drohte, mit ein, zwei Hieben das Völkerrecht, wie Diagoras es kennengelernt hatte, entzweizuhauen. Waren er und der Händler nicht Zivilisten?


    Wie, was? Ein "Rebell gegen das Imperium"? "Empörerische rebellischen Kräfte"? Wer? Ich?


    Das ging Diagoras entschieden zu weit. Was bildeten sich eigentlich diese arroganten Alexandriner ein? Nur weil er in der ekklesia eine andere Meinung vertreten hatte, als diese speichelleckerischen Liebesdiener, verfolgten sie ihn bis hierhier nach Edessa und hießen ihn einen "Rebell gegen das Imperium"? Diagoras hielt die Alexandriner schon immer für maßlos, so maßvoll das Versmaß auch war, aber dieser Tropfen brachte das Pulverfaß eindeutig zum Überlaufen.


    Wieso Ziaar? Wer oder was ist hier Ziaar? Ein Befehl? "Zieh' an!" Oder wie? Keiner im Raum war nackt, nirgendwo lag etwas anzuziehen herum, auch kein Seil, an dem man hätte ziehen können.


    Diagoras von Melos war verwirrt. Verwirrt, aber dennoch gerecht empört. Nicht zuletzt über den Matsch am Boden, den er als die sterblichen Überreste eines seiner wenigen Exemplare des glorreichen "Maschansker von Edessa" erkannte. Barbaren, allesamt.

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    ~~ Lukian ~~


    Ich hatte gerade die Fahnen für mein neuestes opusculum magnissimum*), wenn man so will, in der Hand - wen es beiläufig interessiert: es handelt von einem ungelehrten Büchernarren. Es goß auch heute, wie seit Tagen schon aus allen Öffnungen des Himmels, als ob der Gott der Iudaier eine erneute Sintflut herbeibeschwören, als ob die Tage von Deukalion und Pyrrha wieder angebrochen seien. Nur ein Narr war an einem solchen Tag unterwegs, ich hatte es mir auf der überdachten Veranda meines kleinen Landgutes, welches ich durch die Tantiemen meiner Werke nur mühsam halten konnte, gemütlich gemacht, ein nettes Feuerchen knisterte im Kohlebecken, ein alter Falerner stand in einer Tischamphore in ihrem Ständer, Feigen, Datteln und Mandelbrot reizten meine Gaumensäfte.


    Hie und da machte ich eine Randbemerkung und strich das ein oder andere. Bei Piscator, meinem germanischen Verlag, hatte eine eifrige Lectrix das Heft in die Hand genommen und nun bekam ich meinen Text "geschlechtsneutralisiert" wieder. Ich las dann etwa "servus/-a" oder (grammatikalisch falsch) "doctorA" oder (faktisch falsch) "senatrices". Die junge Frau, die über "Geschlechterrollen germanischer Moorleichen" eine interessante Arbeit verfaßt hatte, regte mich weniger auf als mein nächstes kleines Projekt an, welches ich mit dem Arbeitstitel "Das neutralisierte Geschlecht" zu versehen gedachte. **)


    Ich markierte gerade einen Schusterbuben, als ich über den sanft geschwungenen Hügel vor meinem Anwesen eine hagere Gestalt, die einen Korb wie einen störrischen Esel hintersich herschleifte. Langes Haar, langer Bart, langes Gesicht. Der Mensch besteht meines Wissens nach zu achzig Prozent aus Wasser, aber bei dieser Gestalt waren es bestimmt weit über 95%, so durchnäßt kam sie mir vor. Sie nieste hie und da, wenn man die Augen schloß, hätte man aus den Abständen und der anwachsenden Lautstärke auf die sich verringernde Entfernung zu meiner Veranda schließen können.


    Schließlich war das Wesen so nah an meiner völlig trockenen Heimstatt angekommen, daß ich entsetzt auffuhr, die Fahnen über den Boden verteilend, und rief: "Diagoras! Nein, sowas!"






    *) Anm.: Lukian schreibt und spricht Koiné, aus Gründen der Verständlichkeit werden alle griechischen (Fach-)Ausdrücke in ihrer latinisierten Version widergegeben.
    **) Leider ist uns davon keine Zeile überkommen; d. Übers./-In

    Während Diagoras von seinem Platz aus, leicht geduckt hinter dem noch warmen Körper des Römers und stets ein Auge auf seine wertvolle Kiste, die sich dahinschleppenden Ereignisse beobachtete (nichts konnte langweiliger sein, als ein Kampf - und die Römer machten aus diesem öden Ereignis noch einen Sport), schoß ihm zwischen seine dahinwuselnden Gedanken und Blicke ein altes Seemannslied durch den Kopf, völlig fehl am Platze, meilenweit von jeder Küste entfernt, wie er war ...


    Pam-Pambam-Pam-Pam-Pam-Pambam ..., summte Diagoras heimlich, still und leise vor sich hin. "Wir la-gen vor Mi-ty-lene - und ha-tten die Pest a-an Bord ..."

    Das da! Diagoras hustete ein wenig und hielt ein verschrumpeltes Dingsda in Luft, das aussah, als hätte es jemand etwa zur Zeit des Troianischen Krieges hier vergraben und vergessen. Ein "Maschansker von Edessa" ist die Frucht des einzig einheimischen und deshalb sehr genügsamen Apfelbaumes, der hier, äh, gedei ....


    Wenige Fußbreit bohrte von Diagoras sich ein Pfeil in den Boden, der Pomologe hüpfte, als sei er im Begriff, auf einen Apfel zu treten, beiseite, ließ den "Maschansker von Edessa" fallen, trat darauf und kreierte ohne zu pfropfen und ohne Umstände den "Matschansker von Edessa". Von irgendwoher brach ein Parther hervor.


    Offensichlicht gibt es hier mehr, als nur Verständigungsprobleme, schnappte Diagoras. Es wurde völlig unübersichtlich, Schwerter wurden gezogen, Befehle und Flüche gebellt, Staub wirbelte auf. Da Diagoras nicht einmal mehr einen Apfel zur Verteidigung oder zum Angriff bei der Hand hatte, wurde er einfach beiseitegerempelt. Einer der Parther (es müssen Dutzende? gewesen sein) fiel über eine viereckige Korbkiste, die ungünstig - für den Parther - plaziert war.


    Diagoras zog den schwerverletzten oder gar sterbenden Soldaten, den der erste Schuß in den Hals getroffen hatte, in eine Ecke und verbarrikadierte sich dahinter. Wenn er an die Existenz der Götter geglaubt hätte, hätte er jetzt gebetet oder ein Gelübde geleistet. So aber blieb ihm nur, "Scheibenkleister! Scheibenkleister! Scheibenkleister!" zu murmeln. Er blickte in das stille Gesicht des Toten.

    (Was wir, wenn wir nicht gerade 5 Jahre alte und Mamas Liebling sind, auch wissen sollten, daß man niemandem vertrauen sollte. Am wenigsten einem omniscienten Erzähler, der sich in roter Schriftfarbe verbreitert. Natürlich planen in Samosata keine vier angesehene Familien die Hochzeit ihrer Kinder und richten sie nicht in einer Woche mit Spielen, Spaß und Speisen für alle. Es sind nur zwei Familien, von denen eine bezahlt und die andere die Bierbänke organisiert.- Und Überraschung - die Mehlsäcke sind kein Leichen, sondern wirklich Mehlsäcke - sie sehen nur so aus, und wenn sie Diagoras von Melos vor Ihrem geistigen Auge haben, dann wissen Sie, woher die Assoziation stammt. Hinsichtlich der Plünderungen sollten wir unseren Korrepsondenten vor Ort fragen, wir rechnen mit leicht differierenden Erklärungen seitens der Einwohner von Edessa und der römischen Befreiungsarmee. Die Hühner und die Papyrusrollen sind aber echt. Vorerst.- Klappe! "Diagoras in Edessa, die Dritte!")


    Kannst Du mir gerade helfen? Puh! Bah! Diagoras kroch auf allen vieren dem Soldaten rückwärts entgegen. Chaire, hier ist es ziemlich dunkel und ich habe einen "Maschanzker von Edessa" da hinten verloren .... die Dinger sind mir in alle Ecken gerollt. Zu dumm.


    Diagoras erhob sich knarzend und ächzend und klopfte sich den Staub von seinen Kleidern, die ein wenig so aussahen, als hätte er nicht nach einem "Maschanzker von Edessa" gefahndet, sondern nach vergrabenem Wurzelgemüse gewühlt.

    (Wie wir inzwischen wissen, hat unser Held zweifelsohne das Geschick, in seltsame und keineswegs, hm, agreable Umstände, ... hineinzuplatzen. Anstelle direkt nach Samosata zu reisen, wo gerade vier angesehene Familien die Hochzeit ihrer Kinder planen und in einer Woche mit Spielen, Spaß und Speisen für alle ausrichten werden, gerät Diagoras von Melos willentlich aber unwissentlich in ein von römischen Legionären der Plünderung preisgegebenes Edessa. Chaos und Anarchie in bester alexandrinischer Tradition mit römischem Kolorit gewürzt erwarten ihn freudig.)


    Diagoras ging nur sehr zögerlich durch die nicht sehr einladenden Straßen und Gassen der Stadt. Überall lagen Leichen oder standen Karren, auf denen Leichen wie Mehlsäcke geworfen lagen, zerborstene Möbelstücke, die wenig kunstsinnigen Legionären wertlos erschienen oder aus eben durch hellenistische Bildung verfeinerten Kunstsinn ihren Weg durch die Fenster im Obergeschoß gefunden hatten, fanden sich überall auf den Pflastern. Ein paar Hühner gackerten zerzaust herum. Hie und da bückte sich Diagoras, um eine aus einem armarium gefallene Papyrusrolle aufzuheben und ohne größere Bedenken einzustecken. Sie mögen für Edessa verloren sein, aber nicht für die Menschheit. Außerdem konnte er selbst wertvollen Papyrus noch auf der Rückseite beschreiben.


    So wanderte er ziellos durch die Straßen, seinen Korb hintersichherziehend und an einer inzwischen leicht verschrumpelten Braunen Sommerbasileus knabbernd. Beruhigt ungemein und lenkt ab.

    Dichter Nebel schwebte melancholich
    und kummervoll über der Peripherie der Stadt.
    Noch war es nicht soweit, daß die goldene Sonne intensiv
    Am Himmel leutete, es war dunkel. Imposant traten die
    Befestigungen mit ihren Wallanlagen aus dem Nichts.


    Ich, Diagoras, geboren in Melos, aufgewachsen in
    Ephesos und Lehrer in Athen, stand nach einer bald
    sechstägigen Schiffsreise über Paphos an die syrische
    Küste und einem zweiwöchigen Marsch über Antiochia
    nun vor dem Lager des römischen Reiches vor Edessa.


    Eigentlich wollte ich nach Samosata, um meinen
    alten Freund Lukian zu besuchen, von dem ich hörte,
    daß er in Familienangelegenheiten dort weilte. Dann
    aber dachte ich mir: was soll's schauen wir halt auch
    mal in Edessa vorbei, wenn wir schon in diesem von
    allen Göttern der Zivilisation verlassenen Gegend sind.


    Ich hatte es nicht eilig, nach Ephesos oder Irgendwohin
    zu gelangen, nach meinen Abenteuern in Alexandria
    juckte es mich in den Extremitäten, die Welt zu bereisen.
    Vielleicht ist das ständige Aufeinemfleckhocken nicht
    meine Sache. Ein Irrtum, zu glauben, ich werde seßhaft.


    Langsam geht die Sonne auf, ein heller Streifen wird
    am Horizont sichtbar, der langsam in orange übergeht,
    wenn man nur Geduld genug hat, um zuzusehen. Habe
    ich Geduld? Auf der "Delphin" wäre ich fast wahnsinnig
    geworden. Nichts als Wasser, fast drei Tage lang!


    Auf Cyprus habe ich mehr um der Folklore Willen der
    Schaumgeborenen geopfert (und ich wollte einige der
    Tempelsklavinnen beobachten, ich geb's ja zu) und dann
    eine neue Mitfahrtgelegenheit aufgetan. Nette Leute,
    dachte ich am Anfang und freute mich auf die Reise.


    Dann stellte ich fest, daß es sich um kilikische Piraten
    handelte, deren Vorfahren von Pompeius an der lykischen
    Küste angesiedelt worden waren. Wirklich nette Leute,
    als sie aber merkten, daß ich völlig abgebrannt war, und
    sie kein Lösegeld zu erwarten hatten, ließen sie mich stehen.


    Ich stand, vielmehr: saß dann einen Tag herum, bis ich mit
    einer kleinen Gruppe krypto-christlicher Missionare nach
    Antiochia fuhr. Lieber zwei Tage nichts zu tun auf hoher
    See, als nur eine Stunde mit Christen zusammen zu sein.
    "Ubi caritas et amor - Deus ibi est!" ich kann es nun furzen!


    Trotzdem nette Leute, ein wenig einfältig und sehr bemüht.
    In Antiochia, wo ich den Trupp dann verlassen habe, eine
    Zeit lang versumpft, endlich eine echte hellenische Stadt!
    Man möge es mir nachsehen, aber fast hätte ich nach den
    Entbehrungen kaum aus den Symposien herausgefunden.


    Dann hieß es, Edessa sei gefallen. Habe mich also schnell
    wieder in den Stand der Nüchternheit (geistig-körperlich)
    begeben. Während die Pläne reiften, von Antiochia nach
    Samosata zu gehen, kam mir der Fall von Edessa und
    meine Neugierde auf diese Stadt dazwischen. Eheu, Eheu!


    Diagoras ahnt nicht, daß diese Aufzeichnungen, die er im Morgengrauen vor der gefallenen und von Römern genommenen Stadt Edessa eilig auf Papyrus verewigt, 1895 Jahre später als sog. "Bittermüller-Papyrus I" Geschichte machen. Allerdings mit einem leicht anderen Inhalt.

    Wie sicherlich allgemein bekannt ist, wurde das Areal der Hanghäuser in Ephesos, im Zentrum der Stadt am Nordhang des Bülbüldagh vom Österreichischen Archäologischen Institut (ÖAI) zusammen mit dem Institut für die Kulturgeschichte der Antike der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) unter der Gesamtprojektleitung von o. Univ.-Prof. Dr. Dr.h.c. F.Krinzinger, w. M. ausgegraben. Als rund zwei Jahre vor der Jahrtausendwende, im Jahr 1999, ein umfangreiches Schutzdach über diese besterhaltenen antiken Wohnhäuser des östlichen Mittelmeerraumes errichtet wurde, kam es aufgrund einer Unachtsamkeit vom damaligen Mag. phil. F. X. Bittermüller, der gerade sein sechstes unvergütetes Volontariat in situ ableistete, zu einem kleinen Unfall, in dessen Folge ein sensationeller Fund gemacht wurde.


    Die eiligst eingeflogene Expertin des ÖAW, die eine 1/5-Stelle und die Leitung des Drittmittelprojekts "Keilschrift-Papyri in der römischen Kaiserzeit", angesiedelt am Institut für Papyrologie in den Kellerräumen der Österreichischen Nationalbibliothek am Heldenplatz, Wien I., schon seit vier Jahren unermüdlich besetzte, wurde zu Rate gezogen.


    Mag. phil. DI Konstanze Schmidt-Müller-Handlos (geborene Komm. Rat. Handlos - ein Prothesenfabrikant aus Mürzzuschlag, geschiedene Ing. Müller, geehelichte cand. jur. Schmidt), die eine international ausgewiesene Koryphäe für traianisch-hadrianische Keilschrift-Papyri war und ist, wurde der Fund vorgestellt und sie machte sich mit ihm in der Folgezeit eingehend vertraut (vgl. Schmidt-Müller-Handlos, K.: Ein sensationeller Fund in Ephesos, FiE Sonderband, Wien 2001; ihre Dissertation zur Frage, ob in der Schlacht am Chaboras (104 n. Chr.) Keilschrift-Papyri durch die römischen Signalmelder verwendet wurden - ein Desiderat der Forschung - wird für 2011 erwartet).


    Lange Rede kurzer Sinn: als Mag. DI Schmidt-Müller-Handlos sich vor den Fund setzte, lagen fünf völlig verschrumpelte Etwasse vor ihr, die wie von us-amerikanischen Jugendlichen weggeworfenes Einwickelpapier von Hershey's (mit ganzen Mandeln) aussahen, aber - ein erster Test bewies es - nicht so rochen. Und auch nicht waren.


    In einem aufwendigen Verfahren, das wir uns zu erklären hier sparen, um die Initiierten nicht zu langweilen und es für die Außenstehenden nicht zu profanisieren, wurden die fünf Häufchen Elend auseinanderklamüsert und entpuppten sich nun in prostratem Zustand als Papyri.


    Mit dem Derveni-Papyrus (vgl. The Derveni papyrus, ed. with introduction and commentary by Theokritos Kouremenos; George M. Parássoglou; Kyriakos Tsantsanoglou, Firenze: Leo S. Olschki Editore, 2006, Lit. ibidem) lag und liegt damit der zweite Papyrus-Fund außerhalb Ägyptens und Pompeijs vor. Eine Sensation sondergleichen. Die Frage, ob der Fund fürderhin als der "Schmidt-Müller-Handlos-Papyrus I-V" in die Forschungsgeschichte (und den Brockhaus) eingehen sollte, wurde auf dem kleinen Dienstweg im damaligen Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (BMBWK) durch den politischen Staatssekretär Dr. Franz Josef Bittermüller (ÖVP) entschieden.


    In mühsamer Kleinarbeit konnte Mag. DI Schmidt-Müller-Handlos die vorliegenden Fragmente als die verlorengeglaubte und nur bei Orosius an einer verderbten Stelle erwähnte "Oikuménes Periégesis" des antiken Oikotrophologen und Pomologen Diagoras von Melos identifiziert werden (nicht zu verwechseln mit der "Oikuménes Periégesis" des Dionysios von Alexandria, vgl. Dionysios von Alexandria: Das Lied von der Welt, hrsg. von Kai Brodersen. Hildesheim: Olms, 1994).


    Da die Edition dieses Sensationsfundes noch des Druckes harrt und aufgrund der vielfältigen Verpflichtungen von ao. Univ.-Prof. Dr. phil. h. c. Mag. phil F. X. Bittermüller (Wien) noch einige Jahre ins Land gehen werden wir an dieser Stelle den rekonstruierten Bittermüller-Papyrus I-V der interessierten Fachwelt in einer Art "pre-pre-edition" vorstellen.


    Hier zunächst also "Bittermüller I" in der Originalversion und in einer ersten Roh-Übersetzung durch eine damals zufällig in Ephesos anwesende Wiener Doktorandin ("[...]" steht für eine Lücke von einem oder mehreren Buchstaben:


    DI [...] [...] S [...] [...] MEL [...]
    [...] KUM [...] [...] [...] PER [...] [...] [...]


    N [...] [...] [...] EIT [...] [...] [...] [...] IN [...]
    A [...] [...] [...] [...] [...] IMP [...] TR [...] [...]
    [...] [...] [...] ALL [...] [...] [...]



    Transkription:


    DIAGORASVONMELOS
    OKUMEMESPERIEGESIS
    NACHLANGERZEITAUFDERDELPHINNUN
    ANTIOCHIAERREICHTIMPTERTINENTERTROTTEL
    VONEINEMKAPITÄNHATALLEMEINEÄPFEL


    Anmerkung: Offenbar ist der Ausgangpunkt der Reise des Diagoras von Melos unbekannt, es wird aber entweder Melos oder Ephesos angenommen (oder auch als Ziel der Reise, Antiochia in Syrien ist sicher nur Zwischenstation, die aus Bittermüller II-V ersichtlich), die Delphin war wohl der Name des Schiffes. Was es mit "Äpfeln" (eine Metapher?) und der wüsten Beschimpfung eines "Kapitäns" aufsichhat, darüber wird in der Forschung bis heute heftig gestritten.


    [... wird hier fortgesetzt ...]

    Alle Passagiere der Schiffahrtslinie "Leinen Los!" bitte an ... neein! Nicht jetzt die Leinen losmachen, erst wenn ich 'Leinen los!' rufe, dann die Leinen losmachen, ihr vertrottelten Landratten! Also, alle Passagiere bitte an Bord! Die Delphin legt gleich ab! Vorwärts, wir haben nicht ewig Zeit! Der erste Offizier war noch jung, als fünftes Kind des Linieneigners versuchte er auf seiner Jungfernfahrt, sich seine Sporen von der Planke auf zu verdienen.


    Dieselbe schritt nun Diagoras mit seinem Beutel und dem Wasserschlauch über den Schultern an Bord. Das Brett wurde eingezogen und langsam löste sich das Schiff von der Hafenmole.


    Die Sonne ging auf, es versprach, ein wunderschöner Tag zu werden.


    ~~~~~~~~ Finis ~~~~~~~~

    Diagoras von Melos stand am Quai. Neben ihm auf dem Boden stand ein rechteckiger Korb mit einem Klappdeckel und darauf ein Lederbeutel, der sich verdächtig ausbeulte: darin befand sich sein Reiseproviant, Äpfel, Birnen und ein Assortiment an Feigen. Ein Schlauch mit Frischwasser - tres faciunt collegium - komplettierte seine Ausstattung.


    Das Schiff, mit dem er die Stadt zu verlassen gedachte, stand schon bereit, die Ladung - Olivenöl auf Attika - war schon gelöscht, Sklaven schleppten nun neue Fracht in den Bauch des Schiffes. An Deck wurde geschrubbt, ein paar Fässer und Kisten wurden von hier nach da verrückt und manchmal auch wieder zurück, ein Bild emsigen Beschäftigtseins, wie es Menschen ohne Beschäftigung lieben. Arbeit - Diagoras konnte stundenlang zuschauen, er war da kein Drückeberger.


    Den rechten Arm abgewinkelt in die Hüfte gestemmt, in der Linken eine Birne - eine tylusische Feigenbirne, die im Zenit ihrer Süße stand und morgen umgekippt wäre - so stand Diagoras direkt vor dem Bug der "Delphin", die unserem schiffbrüchigen Held zu neuen Ufern bringen sollte. Das aufgemalte Auge blickte zu Diagoras. Der beachtete das überhaupt nicht, sein Blick war in die Ferne gerichtet, über die Mauern der Hafeneinfahrt hinweg, irgendwohin in Richtung seiner Heimat Ionien. Man wollte so schnell wie möglich aufbrechen, bald würde die Sonne sich über den Horizont erheben, die Fackeln, die die Szenerie erleuchteten, würden gelöscht werden - und dann das Schiff gemächlich aus dem Hafen gleiten.


    Ein Sklave nahm nach einem kurzen einverständnisheischenden Blick den Korb vom Boden auf und trug ihn an Bord. Seinen Proviant würde Diagoras bei sich tragen, um die Kontrolle darüber zu behalten. Es sollte ja zwei, drei Tage halten, bis das Schiff unterwegs anhielt.


    Diagoras blickte versonnen in die Dunkelheit, von Osten her brachen sich die ersten Lichtstrahlen die Bahn, das Schwarzblau des Firmaments wurde heller, die Sterne knipsten ihre Lichter aus.


    ~~~

    In diesem Augenblick, da er schon im Begriff war, die Tür zu öffnen, da bohrte ihm jemand ins Kreuz und sagte:


    Geld oder Leber! Haha, No, da wearn'S neamad's zum Stöan find'n. Da Schef is' untawegs. Junge Römer, 'S' wissen scho ... Konn I Eana höfa?


    Diagoras blickte sich um, erblickte einen lässigen jungen Mann mit nach hinten geöltem, dunklen Haar und meinte: Grüße und Segen, ich wollte Theodoros Alexandreus einen Gruß zukommen lassen und hoffte, ihn persönlich anzutreffen.


    Naa, ned jetza, wia g'sogt. Späta vülleicht. Soll I wos ausricht'n?


    Oh, gerne, so es Dir nichts ausmacht, dann gibt Theodoreus die Schale und den Brief.


    Alles klar, Herr Vigil. Der Typ nimmt Diagoras Schale und Brief aus den Händen und stellt beides auf den Schreibtisch des Theodoros.




    Chaire Theodoros,


    leider habe ich Dich nicht angetroffen, aber da ich erwartet hatte, daß Du sehr beschäftigt bist in diesen Tagen habe ich dieses Brieflein vorbereitet; die Birnen sind frisch vom Markt, die kleinen grünen solltest Du aber noch einige Zeit stehen lassen, sie werden erst in ein oder zwei Tagen ihre volle Reife erreichen.


    Ich habe lang über unser Gespräch und die unsere darin leider zutage getretenen Differenzen nachgedacht. Wahrscheinlich bin ich wirklich bis ins Kerngehäuse ein Ionier, der in Alexandria immer ein Fremder bleibt und niemals ein Alexandriner. Das ist sehr traurig, zumal Alexandria wirklich eine großartige Stadt ist, aber, nun, eine Katze wird sich nie in einer Hundehütte, wie prächtig auch immer, wohlfühlen. Ionier sind Katzen: frei, unabhängig und stur, aber auch ein wenig eingebildet auf ihre Eigenständigkeit. Ich will unseren Dissens aber an dieser Stelle nicht aufwärmen, sondern Dir meine Dankbarkeit für Deine Gastfreundschaft und Deine Geduld ausdrücken. (Ich weiß, man hat's nicht leicht mit mir, aber leicht hat's einen ...).


    Meine Aufgabe in Alexandria habe ich - mehr schlecht als recht, befürchte ich - erfüllt, ob Du Epistates wirst, das liegt nicht mehr in unserer Hand, ich wünsche es mir jedenfalls für Dich und für das Museion. An Deiner Stelle möchte ich nicht stehen, muß ich auch zugeben, aber Dein Gott wird Dir im Angesicht Deiner Feinde einen Tisch bereiten, möge es der Schreibtisch des Epistates sein!


    Wenn Du diese Zeilen liest, werde ich Alexandria gerade verlassen oder schon verlassen haben, meine Mission ist vorbei, auf mich warten neue Abenteuer. Aber heut' ist nicht alle Tage, man sieht sich wieder, keine Frage.


    Grüße und Segen, Dein Diagoras von Melos aus Ephesos.



    Im Hinausgehen nimmt er eine der Birnen und beißt hinein. Fazeiung, bin a bloß a Egoist, sagte der Typ kauend. Schmeckt aba guat.


    Vielen Dank, winkte Diagoras und ging mit leicht federnden Schritten den Gang hinunter.

    Einige Tage nach dem Gespräch mit Theodoros in seinem Vaterhaus klopfte Diagoras an die Tür von Theodoros.


    Er balancierte auf der linken Hand eine Schale aus Walnußholz, gefüllt mit Herbstmuscateller aus Massilia, Butterbirnen aus Brundisium, und einer hübschen Zahl Brauner Sommerbasileus.


    Chaire, Theodoros - Shalom! Friede! - darf ich stören?

    "Die Götter werden uns zürnen, einen Atheisten zu wählen!" rief ein dünnes Stimmchen. Diagoras überlegte, ob er dem Zorn der Götter mit einem gezielten Wurf auf den Greis, zu dem das Krächzen gehörte, Ausdruck verleihen sollte. Ihn aber dauerte es um die saftige Frucht, die er schon am Hinterkopf des Gelehrten zerplatzen sah und versagte sich, seine Treffsicherheit unter Beweis zu stellen.


    "Solange ich lebe, wird kein Jude Epistates des Museion" erscholl es von einem anderen Wissenschaftler, dessen Körper nur durch die Trockenheit der Wüste noch zusammenzuhalten schien.


    Na, auf ein paar Tage mehr oder weniger wird es kaum ankommen! erhob der Melier seine Stimme und griff so in die Diskussion ein, während er sich von der Säule löste und in den Raum trat.


    Ich bin Diagoras von Melos, wehrte Herren, und ich möchte sprechen für Eure Kollegen in Attika und Ionien, deren Meinung ich gut kenne.


    Laßt es mich kurz machen:


    Es ist Eure Aufgabe, den besten Wissenschaftler unter Euch zu wählen, es ist aber auch an Euch, denjenigen zu wählen, der auf die moderne Zeit, das Miteinander von römischen und griechischen Gelehrten am besten vorbereitet ist.


    Es braucht einen Moderator, jemand, der die verschiedenen Interessen der Römer und der Griechen kennt, mit den alexandrinischen Verhältnissen vertraut ist und zwischen allen diesen moderieren kann. Das Museion von Alexandria ist - ob es einem gefällt oder nicht - eine nicht nur griechisch-hellenische Institution, sondern eine, in der die ganze Welt, das heißt vor allem: die römisch-griechische Welt zu Gast ist, Verehrer der unterschiedlichsten Götter und deren Epiphanien.


    Zugegeben - auch Eure Kollegen in Attika und Ionien wissen nicht, daß Theodoros ein Jude ist, sie aber wissen, daß Theodoros ein Alexandriner ist, in Rom gelebt und gearbeitet hat - und ein ausgezeichneter Wissenschaftler ist. Deswegen haben sie sich einstimmig für Theodoros als Epistates ausgesprochen und mich beauftragt, dies Euch mitzuteilen. (Was nicht völlig stimmte, aber im Kern doch richtig war.)


    Zugegeben - ein Jude als Epistates am Museion ist eine Affront, den zu verdauen man einen guten Magen benötigt.


    Zugegeben aber auch: es gibt hervorragende jüdische Wissenschaftler am Museion, in Alexandria und der ganzen Oikumene, deren Ruf ohne Fehl und Tadel ist, sowohl hinsichtlich ihrer Kenntnisse und Vernunft, wie auch hinsichtlich ihres Lebenswandels.


    Ein Epistates ist kein Herrscher, sondern ein Vorbild. Seht Euch den Menschen Theodoros an und fragt Euch, ob dieser Mensch für Euch ein Vorbild sein kann, ein Vorbild, das für die alten und traditionellen Werte des Museions steht, ein Vorbild als Wissenschaftler und als Mensch.


    Darüber entscheidet. Danke.


    Er zog sich wieder in den Schutz der Säule zurück und biß in den Apfel, der noch als Wurfgeschoß und Halt während der Rede in seiner Hand war. Im Grunde war es eine unmöliche Situation, völlig unvorbereitet sich dieser neuen Lage stellen zu müssen, einer Lage, die sorgfältig auch hinsichtlich der Meinung Roms abgewohen hätte werden müssen.


    Diagoras nahm sich vor, Theodoros in den nächsten Tagen deutlich die Meinung zu sagen: er selbst war seiner Meinung nach für hohe Diplomatie kaum geeignet, weil er im Grunde sein Herz auf seiner Zunge trug, aber so realitätsfremd, den Löwen auch noch auf einem umgehängten Schild mitzuteilen, daß er das Appetithäppchen sei, wäre er bestimmt nicht. Und Theodoros hatte sich ein großes Schild umgehängt, auf dem in Großbuchstaben stand: "Freßt mich! Ich wünsche wohl zu speisen!"

    Doros, erlaube mir, mich momentan in mein eigenes Zimmer zurückzuziehen, nicht daß ich Dein Chaos vermähe, vielmehr ziehe ich das meinige momentan vor. Ich schaue, ob vielleicht im Haus der Ärzte nicht doch etwas Anis aufzutreiben ist. Wir sehen uns - wenn nicht bei Philippi, so doch vielleicht bei mir.


    In was für eine Situation war er wieder geraten? Hätte er den jungen Mann, der ihm erst einen Geleitbrief für den Präfekten ausstellen wollte und dann doch wieder meinte, jetzt nicht, sondern später oder nie, kennen sollen? Er verband ihn nur mit den westafrikanischen Riesenkäfern, aber irgendwo, irgendwie ... er hoffte, doch noch darauf zu kommen. Daß ein Schüler am Museion sich so echauffierte, war eher ungewöhnlich. Aber gut. Und jetzt machte ihm auch noch der wütende Ägypter Avancen!


    Strategos? Der Junge? Naja, wenn der Alexandros mit 20 Lenzen König von Makedonien werden konnte, warum dann nicht auch ein bartloser Jüngling Strategos in Alexandria? In diesen Zeiten, die so überhaupt nicht heroisch waren?


    Ich bedauere, wenn ich Anlaß zur Störung war, sagte Diagoras, aber - hier blickte er den Soldaten fest aber treuherzig in die Augen - mach' Du Dir keine Hoffnungen, ich bin schon über das Alter lang' hinaus. Tut mir leid.


    Fehlte ihm noch, daß ihm ein Mann in seinem eigenen Alter einen Hahn schenkte oder erwartete, einen zu bekommen! Der bekam eher einen Korb.


    Mit einer leichten Verbeugung und einer wehend-winkenden Geste mit dem Arm drehte er sich um und ging von hinnen nach dannen.

    Ich hatte eben gesagt, daß ich draußen warten würde, bis ich den Arzt Doros von Pelusion konsultieren kann. Im übrigen hattest Du selbst richtigerweise festgestellt, daß nicht Du, sondern einerseits der interimistische Epistates, Theodoros Alexandreus, andererseits Doros von Pelusion hier das Hausrecht besitzen. Oder?


    Diagoras fragte sich, in welchem Theater er gerade sei. Offenbar saß hinter einem Vorhang versteckt ein Publikum, das sich köngilich amüsierte und für das dieses Szenario inszeniert worden war.