Beiträge von Aureliana Siv

    Grüne Wälder zogen an ihr vorbei. Ein Grün, das sie schon so lange nicht mehr gesehen hatte, ein Grün, wie es es in Italia nicht gab, dunkel und satt dort, wo die Nadelbäume zuhauf waren, heller, lichter, und koloriert in Gelb und Rot dort, wo der Laub seinen Platz hatte. Ihr Herz zog sich zusammen, als sie es sah, als sich ihr Blick darin verlor. Italia hatte sie hinter sich gelassen. Ohne großen Abschied. Sie war einfach gegangen. Sie war ohnehin schon an diesen Punkt gekommen, lange bevor sie darum gebeten hatte, sich auf das Landgut zurückziehen zu können, und die Zeit, die vergangen war, hatte das nicht geändert. Hätte sie Abschied genommen, es wäre wohl nur darauf hinausgelaufen, dass sie doch nicht gegangen wäre. Also... war sie einfach gegangen. Uland und seine Familie hatten sie besucht, kurz vor ihrer Abreise, und sie hatte die Gelegenheit ergriffen und war mitgekommen, obwohl es ihr schier das Herz zerrissen hatte. Und doch hatte sie gewusst, dass es richtig war. Für sie, für ihren Sohn, und wohl auch für ihn. Sie wusste, dass er es jedem Recht machen wollte, ihr, seiner Frau, seiner Familie... Aber sie wusste auch, dass das nicht ging. Dass er es nicht konnte. Und dass es ihn zerreißen würde auf Dauer. Es war eine Entscheidung, die er nicht treffen konnte – die aber, hätte er sie treffen können, nur in eine Richtung hätte gehen können. Er hätte sich nicht für sie entschieden. Er hätte es gar nicht gekonnt, darüber war sie sich sicher. Er war viel zu sehr Römer, viel zu sehr verhaftet in dem, was seine Gesellschaft von ihm forderte. Dass er diese Entscheidung dennoch nicht hatte treffen können, war etwas, was sie ebenso sehr mit Trauer wie mit einer merkwürdigen Art von Glück erfüllte. Es zeigte schlicht, was sie ihm bedeutete. Dennoch allerdings war klar, ihr zuwenigst, dass es so nicht weiter gehen konnte. Und so hatte sie ihm die Entscheidung, die zu treffen er nicht in der Lage war, abgenommen – und war verschwunden. Mit einem blutenden, zerrissenen Herzen.


    Verschwunden war sie, zu den grünen Wäldern, die sich nun vor ihr auftaten. Schritt um Schritt hatte ihre Reise sie ihnen näher gebracht. Schritt um Schritt brachte sie sie ihnen nun näher. Die Stadt lag hinter ihr. Sie meinte noch Uland zu hören, der sie überreden wollte zu bleiben. Meinte noch Feruns Blick zu sehen, in dem sie Bedauern, aber vor allem Verstehen lesen konnte. Es gab keinen Grund für sie, in dieser Stadt zu bleiben. Es gab keinen Grund für sie, im römischen Reich zu bleiben. So sehr ihr Sohn dort ebenso seine Wurzeln haben mochte wie dort, wo sie hinging... dies war nicht die Zeit für ihn, sie zu entdecken. Eines Tages würde es sie vielleicht geben, für ihn, aber nicht jetzt. Abgeschnitten von dem, was sie in den letzten Jahren gehalten hatte, was ihr Sicherheitsnetz gewesen war, sich fühlend wie im freien Fall, trieb es sie zurück zu ihren Ursprüngen, zu ihrer Familie, jenen die noch lebten. Was Rom und sein Reich an Möglichkeiten bot, hatte sie nie wirklich interessiert, sah man von der Faszination der Geschichten ab, die man entdecken konnte. Das würde sie vermissen... aber Geschichten würde es auch in ihrer Heimat genug geben. Geschichten entstanden durch Leben.


    Und sie lebte. Jahre zogen ins Land... und sie lebte. Lebte ihr Leben mit der Leidenschaft, die ihr seit Geburt gegeben war, die sie in ihrem Innersten ausmachte. Erlebte, wie ihr Erstgeborener wuchs. Erlebte alte Beziehungen, die, verdorrt, vertrocknet, verkümmert, wieder erwachten, und neue, die, frisch gesät, gediehen. Erlebte Liebe, in all ihren unterschiedlichen Facetten. Erlebte, erneut, wie neues Leben in ihr wuchs. Erlebte, wie ihre Kinder lebten. Erlebte Glück und Leid, die so manches Mal unendlich dicht beieinander lagen.


    Und als Hel sie eines Tages, schließlich, endlich, holte, kam sie auf leisen Sohlen. Nicht wie in der Nacht ihrer Geburt – fordernd, tobend und tosend, und zugleich so unwiderstehlich und sirenengleich, dass es kein Entrinnen gab und keine Gegenwehr... und keine Möglichkeit, außer der Gnade der Dunklen Göttin, die sie wieder hatte gehen lassen... Als Hel sie dieses Mal besuchte, da war ihre Gegenwart so sacht und zart, als wäre sie eine Mutter, die ihr Kind in den Arm nahm, um es in den Schlaf zu wiegen.



    And if the night runs over
    And if the day won't last
    And if your way should falter
    Along this stony pass


    It's just a moment
    This time will pass


    [size=6]U2 - Stuck in a moment[/size]

    Hinfällig. Die Abmachung sei hinfällig, sagte er. Siv rührte sich nicht, blieb an seine Brust gelehnt sitzen und starrte ins Nichts, während sie die Worte auf sich wirken ließ. Sie lauschte in sich hinein und hörte das Echo, das sie in ihr hervorriefen… aber es traf auf keinen Widerstand. Es schien einfach nur zu hallen, ins Leere. Sivs Augen begannen, ein wenig trocken zu werden, weil sie so lange ohne zu blinzeln vor sich hin starrte. Es war nicht die Abmachung an sich, realisierte sie. Es war die Tatsache, dass er sie überhaupt getroffen hatte – noch dazu ohne offenbar dabei an sie, Siv, zu denken. Es war die ganze Situation, die dahinter stand, die überhaupt dazu geführt hatte. Er war nun einmal verheiratet. Daran gab es nichts zu rütteln, und daran würde sich nichts ändern. Er würde auf seine Frau Rücksicht nehmen müssen, und mehr als das, wie die Tatsache zeigte, dass er sich auf diese Abmachung eingelassen hatte. Und sie… sie würde die Flavia niemals aus dem Kopf bekommen. Dieses unselige Versprechen, das sie gefordert hatte, war nur das deutlichste Zeichen gewesen, aber dass es nun hinfällig war, änderte nichts daran, dass Siv die Flavia nicht würde vergessen können. Als sie noch Sklavin gewesen war, als sie noch nicht hatte gehen können wie es ihr beliebte, und als die Flavia noch nicht Bescheid gewusst hatte… da war es ihr noch möglich gewesen, Celerina zu verdrängen. Die Flavia hatte nichts davon gewusst, dass Siv und Corvinus mehr verband, und davon abgesehen war es letztlich normal, dass Römer nicht nur das Bett mit ihren Frauen teilten, das wusste Siv. Und sie hatte Corvinus geholfen, hatte ihre Pflichten als Leibsklavin erledigt, die naturgemäß dazu geführt hatten, dass sie Zeit miteinander verbrachten. Aber nun… war es anders. Wenn sie nun Zeit miteinander verbrachten, würde es nach keinen Vorwand geben. Mehr noch, wenn sie Zeit miteinander verbringen wollten, würden sie – er vor allem – bewusst diese Entscheidung treffen müssen, jedes Mal. Siv konnte nur ahnen, wie schwer ihm das wirklich fallen würde. Es war ihm ja bisher schon nie wirklich leicht gefallen, Grübeleien und Gewissen beiseite zu schieben und einfach mit ihr zusammen zu sein, und seit er verheiratet war, schien es nahezu unmöglich geworden zu sein. Und jetzt wusste die Flavia Bescheid. Wusste, dass ihr Mann nicht nur das Bett mit ihr geteilt hatte, sondern dass da mehr war. Jetzt war Siv frei, und er hatte sie dennoch zurück geholt und wollte sie bei sich haben. Und so wenig Siv der Flavia tatsächlich ihre Ehe verderben wollte, so wenig sie ihr irgendetwas von ihren Privilegien oder sonst etwas wegnehmen wollte, und so wenig sie glauben konnte, dass dieser Frau tatsächlich an Corvinus gelegen war – dem Mann, nicht dem Senator mit all den Vorzügen, die seine Familie und seine Stellung mit sich brachten –, so sehr wusste sie, dass Celerina sie kaum in Ruhe lassen würde. Wenn diese Abmachung hinfällig war, würde bald die nächste Forderung kommen, und Corvinus würde nachgeben, bis zur Schmerzgrenze und darüber hinaus, weil es in seiner Natur lag. Weil er ein schlechtes Gewissen hatte. Weil er es der Flavia Recht machen wollte. Und weil die Flavia trotz allem, was er für Siv empfinden mochte, einen deutlich höheren Stand hatte als sie. Mehr wert war in dieser Welt. Nein, Siv würde Celerina nicht mehr verdrängen können, wenn sie mit Corvinus Zeit verbrachte. Und er würde das ebenso wenig können, da war sie sich sicher.


    Sivs Hand verkrampfte sich für einen Augenblick in den Stoff über Corvinus’ Brust. Sie musste an den gestrigen Abend denken. Wie soll das gehen, hatte sie ihn gefragt, und sie hatte immer noch keine Antwort darauf. Außer der, die er ihr gestern gegeben hatte, und die gerade deshalb, weil sie im Grunde keine Antwort war, doch eine darstellte. Verzeih. Nun, endlich, schloss Siv die Augen, und für einen Moment kämpfte sie mit den Tränen. Der Grund, warum weder sie noch er eine Antwort auf diese Frage hatten, war der, dass sie die Antwort eigentlich kannten – aber sie nicht hatten wahr haben wollen, begriff sie. Es ging nicht. Es ging einfach nicht. Corvinus würde sich niemals so sehr gehen lassen können, dass er alles andere einfach verdrängte, wenn er bei ihr war. Sie wollte ja gar nicht, dass er ständig für sie da war, das würde ihr sogar sehr schnell zu viel werden – aber sie wollte, dass sie seine Aufmerksamkeit hatte, seine ganze, wenn er denn bei ihr war. Dass er sich dann, in diesen Momenten, nur ihr widmete. Und das konnte er nicht, nicht seitdem klar war, was sie verband. Und sie… sie hatte nichts mehr, hinter dem sie sich verstecken konnte. Sie war keine Sklavin mehr. Sie konnte sich nicht mehr einreden, dass sie gar keine Wahl hatte als zu bleiben und ihn und die ganze Situation so zu akzeptieren, wie sie nun einmal war. Sie konnte sich nicht mehr einreden, dass es keine Rolle spielte, wonach sie sich eigentlich sehnte, dass es keine Rolle spielte, dass sie mehr wollte, von ihm, mehr als er ihr geben konnte… Sie war keine Sklavin mehr, auch nach römischem Recht nicht, sie war frei. Frei. Und das hieß auch, dass sie Verantwortung übernehmen musste für ihre Entscheidungen, und diese nicht abwälzen konnte auf irgendwelche Umstände – oder Vorwände. "Ich kann nicht", wisperte sie schließlich. Sie presste die Lider aufeinander und ihren Kopf gegen seine Brust, dann löste sie sich von ihm, richtete sich auf, zog sich zurück, bis sie sich nicht mehr berührten. "Es geht nicht, Marcus. Ich kann das nicht."

    Eine Weile also. Und er war nur da gesessen und hatte sie angesehen. Das hatte er noch nie getan, nicht dass sie sich erinnern könnte jedenfalls – im Gegensatz zu ihr. Vor allem an eine Gelegenheit konnte sie sich noch gut erinnern, bei der sie sich zu ihm geschlichen hatte, einfach nur um ihn anzusehen… bei der er dann wach geworden war. Siv verscheuchte die Gedanken an jenen Morgen, im Verlauf dessen er ihr mitgeteilt hatte, dass sie von nun an seine Leibsklavin sein würde. Sie hatte gewusst, was das hieß, damals, zumal es sich an die langen Wochen nach ihrer Rückkehr aus Germanien anschloss, in denen er kein Wort mit ihr geredet hatte. Sie verscheuchte den Gedanken und konzentrierte sich auf das kühle Nass, das ihre Kehle hinunterrann, bevor sie den Becher ein wenig absetzte und Corvinus wieder ansah, der sich in der Zwischenzeit erhoben hatte und sich auf sie zu bewegte. Siv rührte sich nicht, sagte nichts und tat nichts, als er sich dann neben ihr auf das Bett setzte, ließ ihm den Becher widerstandslos, als er ihn nahm um ihn abzustellen. Im nächsten Augenblick spürte sie seinen Arm um sich, spürte, wie er sie an sich zog, und allzu bereitwillig gab sie nach. Ihre Haltung lockerte sich ein wenig, während sie zugleich tief einatmete, ihre Hände legten sich auf seine Brust, und sie ließ sich halten. Einfach nur halten. Die Flavia kam ihr in den Sinn, und sie fragte sich, was mit ihr war. Was mit dem Versprechen war. Und dann verdrängte sie auch diesen Gedanken. Sie taten nichts. Corvinus hielt sie einfach nur fest, das war alles, das konnte doch unmöglich gegen dieses – so unsinnige und zugleich auch, vom Standpunkt der Flavia wohl, zugleich so sinnige und damit perfide – Versprechen, das er gegeben hatte, verstoßen. Sie bewegte sich ein wenig, verlagerte ihre Arme so, dass sie nun auch ihn halb umarmte, so gut das möglich war in ihrer augenblicklichen Haltung, während ihr Kopf an seiner Brust lag, eingebettet unter seinem Kinn, und ihre Beine halb auf seinem Schoß. Sie genoss diesen Augenblick, sie würde ihn am liebsten festhalten. Anfangen zu sprechen hieße wohl nur wieder, die nächste Diskussion anzuzetteln, und das wollte Siv nicht. Sie wollte nicht schon wieder mit Corvinus diskutieren, darüber, wie es weiter gehen würde, wie es überhaupt weiter gehen konnte so, oder über dieses Versprechen, das ihnen jede auch noch so winzige Möglichkeit raubte, zusammen zu sein und die Flavia dabei wenigstens einmal zu vergessen. Selbst jetzt konnte Siv nicht anders, als an sie zu denken, daran, ob nicht vielleicht doch diese Form von Beisammensein, von Berührung, zu weit ging angesichts des Versprechens, das Corvinus gegeben hatte. Siv wollte darüber nicht diskutieren. Sie wollte einfach nur bei ihm sein, und diesen Moment genießen, so lange er auch währen mochte.

    Siv hatte das Zimmer nicht mehr verlassen, nachdem Corvinus gegangen war. Sie hatte sich verzweifelt bemüht, das Schluchzen unter Kontrolle zu bekommen, nicht zuletzt weil sie wusste, wie sehr Finn das aufregte, wie schwer es werden würde, ihn wieder zu beruhigen, aber es war ihr erst nach und nach gelungen. Und dann hatte sie sich der Aufgabe gegenüber gesehen, sich um ihren Sohn zu kümmern, der, wie erwartet, deutlich aufgeregter war als sonst. Es war schon spät in der Nacht gewesen, als sie ihn endlich, endlich dazu gebracht hatte, das Weinen aufzugeben und einzuschlafen. Und selbst dann war es noch nicht vorbei. Sie hatte gar nicht erst versucht, Finn in der Wiege schlafen zu lassen, weil er ihre Nähe so sehr brauchte wie sie die seine. Dennoch war Finns Schlaf in dieser Nacht unruhig, er wachte öfter als sonst, weinte mehr, brauchte häufiger ihren Zuspruch. Als es schließlich begann, Morgen zu werden, fühlte Siv sich wie gerädert. Selten nur war sie zum Schlafen gekommen, und in diesen wenigen Phasen war sie selbst unruhig gewesen und hatte geträumt, so dass es im Grunde fast einer Erleichterung gleich kam, wenn Finn sie wieder weckte, wäre sie nicht irgendwann so müde gewesen. Erst irgendwann in der zweiten Hälfte der Nacht waren sowohl Finn als auch Siv ruhiger geworden und hatten beide ein bisschen besser geschlafen, und irgendwann vor Morgengrauen hatte sie ihn noch einmal gestillt. Als Siv das erste, schwache Tageslicht zwischen den Vorhängen hereinfallen gesehen hatte, hatte sie überlegt, aufzustehen, aber dann hatte sie sich doch hingelegt, neben Finn, der – friedlich diesmal – wieder eingeschlummert war. Und auch ihre Augen waren wieder zugefallen, ihr Körper abschirmend, schützend vor dem kleinen Bündel Mensch, das ihr Sohn war.


    Sie hörte das leise Klopfen nicht, noch bemerkte sie, wie sich die Tür daraufhin öffnete und jemand eintrat. Erst nach und nach wurde ihre Atmung leichter, oberflächlicher, verriet, dass sie langsam aufwachte. Ein leises Seufzen hob ihre Brust, als sie schließlich ganz aus den Tiefen des Schlafs auftauchte. Einen Augenblick lang musterte sie ihren Sohn, und ein angedeutetes Lächeln huschte über ihre Züge, während sie ihm sacht über den Kopf strich. Dann drehte sie sich um und hob gleichzeitig den Oberkörper an – und erstarrte, als sie die Gestalt sah, die an dem Tisch saß. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie Corvinus, aber auch diese Erkenntnis trug nicht dazu bei, dass ihr Herzklopfen geringer wurde. Corvinus. Sofort fiel ihr der gestrige Abend wieder ein. Wie er gekommen war. Wie sie sich umarmt hatten. Wie sie angefangen hatten zu diskutieren. Zu streiten. Mal wieder. Siv setzte sich ganz auf, darauf bedacht, keine zu großen Bewegungen zu machen, die Finn stören könnten, angelte sich den Becher Wasser, der neben ihrem Bett bereitstand, zog dann die Knie an ihren Körper und schlang ihre Arme um die Beine. "Morgen", murmelte sie, bevor sie einen Schluck trank. Verzeih mir, hatte er gestern gesagt, bevor er gegangen war. Was wollte er nun hier? Ihr mitteilen, dass er sich getäuscht hatte? Dass er einen Fehler gemacht hatte, als er sie zurückgeholt hatte? Dass sie doch gehen musste? Siv wurde kalt. Immerhin, es musste etwas Wichtiges sein, wenn er hier war, anstatt zu arbeiten. Oder hatte er sich diesen Tag ohnehin frei genommen? "Was…" Irgendetwas musste sie sagen, irgendetwas fragen. Aber jedes Wort, jede Frage kam ihr irgendwie… blöd vor. "Wie lange bist du hier? Du hättest mich wecken können."

    Corvinus hatte keine Antwort für sie. Siv war sich noch nicht einmal sicher, ob er ihr überhaupt zuhörte, so wie er da stand, wie er vor sich hin starrte. Sie hatte geendet, hatte irgendwann aufgehört zu reden, aber es kam immer noch keine Antwort. Es herrschte nur Schweigen. Und dann, plötzlich, sagte er doch noch etwas, so leise, dass sie fast meinte sich verhört zu haben. Verzeih. Siv schnürte es die Kehle zu, und nun war sie es, die am liebsten gerufen hätte: Tu das nicht. Aber kein Wort kam über ihre Lippen. Was hätte sie auch sagen sollen darauf. Das Wort klang so… endgültig. Er war gekommen, zu Uland, um sie zurückzuholen. Um sie zu sich zu holen. Um sie bei sich zu haben. Dennoch hatte er sich von seiner Frau dieses Versprechen abringen lassen. Die Flavia hatte so viel, und nun hatte er ihr auch noch das versprochen. Und ihr, Siv, konnte er nicht mehr geben als das, was sie bereits vor der Geburt hatten. Noch weniger im Grunde, wenn sie zurück dachte an die Zeit, in der sie noch das Bett miteinander geteilt hatten. Sie war hier, weil er es wollte, und nun konnte er ihr noch nicht einmal sagen, er würde regelmäßig Zeit mit ihr verbringen. Stattdessen eröffnete er ihr nur, dass es noch schwieriger werden würde, weil er seiner Frau ein Versprechen gegeben hatte, das ihnen verbot, sich nahe zu kommen, und ihr, Siv, noch nicht einmal einen Zeitpunkt nennen konnte, an dem dieses Versprechen hinfällig sein würde. Er hatte es nicht einmal fertig gebracht ihr zu sagen, dass er sich nicht mehr daran gebunden fühlen würde, wenn die Flavia nach einem gewissen Zeitpunkt nicht schwanger geworden war. Oder dass er wenigstens noch einmal mit seiner Frau reden würde. Dass er ihr sagen würde, dass es so nicht ging. Für Siv klang es so, dass seine Frau forderte und forderte und er darauf einging, während er von ihr Verständnis erwartete. Verständnis für alles. Für seine Familie, seine Position, seine Lage. Seine Frau. Und nun auch noch für dieses elendige Versprechen, das dazu führte, dass zumindest Siv bei jeder Berührung an sie würde denken müssen, und jeden Augenblick damit rechnen würde, dass Corvinus sich zurückzog.


    Sie könnte ihn verführen. Siv war sich sogar ziemlich sicher, dass ihr das gelingen würde. Nicht in der augenblicklichen Situation, aber generell. Nur war das nicht ihre Art. Sie wollte ihn nicht erst überreden müssen, sie wollte ihn nicht zu etwas bringen, was er, aus welchen Gründen auch immer, eigentlich nicht wollte. Und es würde nichts ändern an der Situation. Siv saß am Boden, sah zu Corvinus hinauf, der nun, endlich, kurz zu ihr sah, und wusste keinen Ausweg. Sie liebte ihn. Sie wollte endlich wieder mit ihm lachen. Sie wollte… einfach nur bei ihm sein. Und sie wollte, dass er bei ihr war – wie wenig Zeit er auch übrig haben mochte für sie, sie wollte, dass er dann bei ihr war, nicht nur körperlich, auch geistig. Dass er sich wenigstens bemühte, nicht die ganze Zeit an die Flavia zu denken, und es nicht durch ein derartiges Versprechen selbst den Versuch, seine Frau wenigstens einmal beiseite zu schieben, unmöglich machte. Stumm sah sie zu, wie er sich abwandte und den Raum verließ. Und erst, als die Schritte draußen verklungen waren, schlug die Verzweiflung endgültig zu, und Tränen begannen ihre Wangen hinabzulaufen.

    Tu das nicht. Die Worte hallten in Sivs Gedanken. Tu das nicht. Sie konnte die Enttäuschung sehen, die sich auf Corvinus’ Gesicht ausbreitete, meinte sehen zu können, wie er innerlich zurückwich. Sie wusste, was er meinte. Aber sie konnte auch nicht anders. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie das werden sollte. Und der Gedanke, die Flavia nun ständig dabei zu haben, war einfach… unerträglich. Begriff er das denn nicht? Wie sollten sie denn überhaupt unbeschwert Zeit miteinander verbringen können? Wie sollte sie ihn denn überhaupt noch umarmen können, ohne gleich an die Flavia denken zu müssen? Es wäre doch so schon nicht leicht geworden. Langsam rutschte Siv an der Wand entlang zu Boden, an die Corvinus sie vor kurzem noch gepresst hatte. Finn wimmerte immer noch leise vor sich hin von Zeit zu Zeit, und sie drückte ihn sacht an sich, versuchte ihm das zu geben und zugleich von ihm das zu bekommen, was sie eigentlich von Corvinus wollte – und brauchte. Nähe, Wärme, Geborgenheit. Die Versicherung, dass alles gut werden würde, irgendwie. Dass sie da war, für ihn, jederzeit, ohne Bedingungen, ohne Kompromisse.


    "Ich liebe dich, Marcus." Ihre Stimme klang brüchig. "Ich will das nicht tun. Aber wie soll das gehen? Du hast doch nicht viel Zeit, du wirst nicht viel Zeit für mich haben. Und dann, jedes Mal, wenn du dann bei mir bist, wird sie auch da sein. In deinen Gedanken, in meinen Gedanken. Auch wenn du dich an dein Versprechen hältst, wenn du einfach nur da bist. Jedes Mal, wenn wir uns berühren. Wir können nie alleine sein. Wie… wie soll das denn gehen?"

    Die Flavia war also bereits schwanger gewesen, irgendwann einmal. Siv fragte nicht weiter nach, wer sie geschwängert hatte oder was passiert war. Sie hatte es offenbar verloren, auf die ein oder andere Art. Und Siv fragte erneut, wenn auch nur stumm, was Corvinus so sicher machte, dass sie – nach wie vor – Kinder empfangen konnte. Wenn ein Kind im Mutterleib abging, ob gewollt oder nicht, konnte etwas zerstört werden in der Frau, so sehr, dass sie nicht mehr schwanger werden konnte. Und dass die Flavia in dieser Ehe immer noch kein Kind trug, war doch ein Hinweis dafür, dass etwas nicht stimmte. Entweder Corvinus lag nicht bei ihr – und gerade eben versicherte er ihr, dass dem nicht so war –, oder die Flavia konnte nicht schwanger werden. Oder sie tat etwas, um es zu verhindern, so wie Siv in den letzten Jahren. Es half nicht immer, aber es konnte eine Schwangerschaft immerhin deutlich verzögern, wie an ihr zu sehen war. Wieder berührte sie mit ihren Lippen sacht den Kopf ihres Sohnes. Sie hatte keine Ahnung, welches Spiel Celerina spielte. Und so gern sie es auch gehabt hätte, dass es ihr egal wäre, es war ihr nicht egal. Es betraf Corvinus, es betraf sie. Und es machte die Situation für Siv nahezu unerträglich.


    Corvinus unterdessen klang erneut gereizt. Und Siv verstand durchaus, was er sagte. Sie verstand, dass er die Familie der Flavia nicht gegen sich aufbringen konnte, schon gar nicht wenn sie so mächtig war, wie er sagte. Sie verstand, dass er ihr irgendwelche Zugeständnisse machen musste. Aber warum ausgerechnet dieses? Siv hatte das Gefühl, dass Corvinus umgekehrt nicht verstand, was die Flavia da trieb – nämlich einen Keil zwischen Siv und Corvinus zu treiben. Sie hatte das Gefühl, dass er es tatenlos zuließ. Und dabei hatte er sie doch gerade erst zurückgeholt, hatte gerade erst eingestanden, dass er sie wollte, dass er sie brauchte. Und jetzt, kaum dass sie da war, eröffnete er ihr das hier. "Dein Wort", sagte sie leise. "Für was? Du kannst nicht sagen wie, du kannst nicht sagen wann. Du kannst mir nicht mal dein Wort geben, dass es irgendwann mal anders wird. Dass du an mich denkst, wenn du raus gehst… das reicht nicht." Auf einmal klang Siv unglaublich müde. Unwillkürlich machte sie einen Schritt zurück, dann noch einen, bis sie gegen die Wand stieß und sich daran anlehnen konnte. Und dafür war sie zurückgekommen. Sie hatte tatsächlich angefangen zu glauben, dass er es ernst meinte – und irgendwie meinte er es ja auch ernst. Aber sie hatte auch geglaubt, es würde sich nun etwas ändern. Es würde anders werden als zuvor. Sie hatte geglaubt, er würde… wenigstens ein bisschen mehr zu ihr stehen, nicht vor anderen, aber wenn sie alleine waren. Aber genau das tat er nicht. Er konnte nicht. Und nach allem, was schon gewesen war, begann Siv sich zu fragen, ob er das je können würde. "Es reicht nicht."

    Sie hörte Corvinus’ Seufzen, sie hörte, wie er ihren Namen nannte, wie er bitte sagte. Und etwas in ihr wehrte sich dagegen. Dagegen, Verständnis für ihn aufzubringen. Erwartete er denn tatsächlich von ihr, auf unbestimmte Zeit zu warten? Es konnte ewig dauern, bis die Flavia schwanger wurde! Und begriff er denn nicht, dass seine Frau das einzige gefordert hatte, was er und Siv hatten? Sie sprach noch nicht einmal davon, das Lager mit ihm zu teilen, es ging auch um die Zeit, die sie gemeinsam hatten – und darum, wenigstens diese Momente genießen zu können! Und das ging nicht mehr, nicht für Siv, und für ihn offenbar auch nicht, denn zumindest für sie war nun klar, dass er zuvor wohl jedes Mal an die Flavia gedacht hatte, wann immer sie beide sich nahe gekommen waren und er dann abgelenkt hatte. Und das sollte sie weiter gehen? Bis Celerina schwanger war? Und Corvinus gab ihr keine konkrete Antwort, sagte nichts von einem bestimmten Zeitpunkt, an dem er der Flavia sagen würde, dass es nun genug war, wenn sie nicht schwanger war bis dahin.


    Siv sah wieder hoch, sah ihn an. "Sie ist fähig? Woher willst du das wissen?" fragte sie. "Und woher willst du wissen, dass es nicht noch Jahre dauert? Was dann?" Als Corvinus nach vorne kam und die Wiege umfasste, sah sie ihn immer noch, umfasste nur Finn noch ein wenig fester. "Was?" fragte sie, hilflos und bitter zugleich. "Was versuchst du denn? Sagst du ihr, dass du dein Versprechen zurücknimmst?" Siv presste die Lippen aufeinander. "Gib mir etwas. Sag mir, wie das werden soll. Wie sollen wir Zeit miteinander verbringen, ohne dass sie da ist? Ohne dass du an sie denkst? Sag mir, wann das vorbei sein wird, und sag nicht: 'wenn sie schwanger ist'. Gib mir einen Zeitpunkt."

    Siv streichelte Finn weiter sacht, bemühte sich, ruhig zu bleiben, und einzig dieser Tatsache war es geschuldet, dass sie auch tatsächlich – einigermaßen – ruhig blieb und Corvinus zuhörte, als dieser nun zu reden begann. Sie hörte zu, obwohl es vieles gegeben hätte, was sie hätte sagen können. Dass sie immer für ihn da gewesen war. Dass sie immer gewusst hatte, worauf sie sich einließ. Dass sie immer verstanden und akzeptiert hatte, dass seine Familie und seine gesellschaftliche Stellung vorgingen, dass sie ihm so unglaublich wichtig waren – nicht zuletzt weil sie das auch aus ihrer Heimat nicht anders kannte. Aber sie sagte nichts. Sie hörte ihm nur zu. Und als er endlich stehen blieb, war sie froh, dass nicht nur Finn zwischen ihnen war, sondern auch die Wiege. Sie hätte es im Augenblick nicht ertragen, ihn nahe bei sich zu haben, sie hätte ihn nicht ertragen in diesem Moment. "Für dich ist das also erträglich." Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen spöttischen Klang zu geben, aber sie versagte. Stattdessen klang sie nur noch müde und vor allem verletzt. "Für dich ist erträglich, dass sie ständig dabei ist. Selbst jetzt. Dass wir niemals mehr allein sein werden. Dass wir uns nicht mehr berühren können. Nicht in den nächsten Wochen, vielleicht nicht in Monaten. Vielleicht nicht in Jahren. Wer weiß denn, ob sie überhaupt ein Kind tragen kann?" Statt des gewollten Spotts erhielt ihre Stimme nun eine bittere Färbung. Selbst die Vorstellung, Corvinus zu sehen, aber niemals wirklich mit ihm zusammen sein zu können, fand sie unerträglich. Und es stimmte ja: wer wusste schon, ob die Flavia Kinder tragen konnte? Siv wusste nur, dass sie bereits verheiratet gewesen war, aber Kinder gab es keine.


    Finn wurde wieder ein wenig lauter, und diesmal hielt Siv inne, schwieg einige Momente lang und nahm sich die Zeit, ihn zu beruhigen. "Du hast Recht. Ich weiß nicht, wie schwer das für dich ist. Aber ich kann das nicht. Ich kann nicht… ständig sie dabei haben, wenn du bei mir bist. Und ich will dich. Ich will dich nicht nur sehen und mit dir reden, ich will dich spüren. Ich will nicht warten, schon gar nicht, wenn ich nicht weiß wie lange. Ich kann das nicht."

    Er antwortete nicht. Egal was sie sagte, was sie fragte, er antwortete einfach nicht, und Siv brachte das nur noch mehr auf gegen ihn. Was um alles in der Welt hatte er denn erwartet? Dass sie anfing zu jubeln, wenn sie hörte dass er sie nicht mehr anrühren konnte? Dass sie sich einverstanden damit erklärte, auf das zu verzichten, was sie seit Monaten nun schon vermisste?


    Irgendwann gingen ihr die Worte aus, und sie starrte Corvinus einfach nur an, der immer noch nichts sagte. Finn war der einzige, der weiter plärrte, und erst nach einigen Augenblicken setzte Corvinus dazu an, etwas zu sagen – und brach wieder ab, aus welchen Gründen war ihr schleierhaft. Aber sie sah, dass er genervt wirkte, und als Finn für Momente seine Lautstärke noch steigerte, wurde ihr auch schlagartig klar, warum. Sie selbst war so… aufgebracht gewesen, so wütend, dass sie Finns Geschrei größtenteils ignorierte. Und dann rührte Corvinus sich, stand auf und entfernte sich an das andere Ende des Raums, wo er hin und her zu gehen begann, während er nun doch noch etwas sagte. Und Siv starrte ihn schon wieder an. "Ja, wär schön, wenn das so einfach gehen würde!" fauchte sie. Und dann biss sie sich auf die Unterlippe. Corvinus’ Kommentar war daneben gewesen, fand sie, sie konnte Finn nicht einfach so zum Aufhören bringen, aber er stieß sie damit auf etwas, worauf sie selbst hätte kommen müssen: anstatt sich um ihren Sohn zu kümmern, stritt sie hier mit seinem Vater herum – und regte den Kleinen dadurch nur immer mehr auf. Sie atmete tief ein und hob Finn ein kleines Stückchen höher, brachte seine Wange an ihre, murmelte beruhigende Worte auf ihn ein, während sie nun auf und ab ging mit ihm – und sich zur Abwechslung nur auf ihren Sohn konzentrierte und darauf, ihn zu beruhigen. Obwohl sie immer noch aufgebracht war, bemühte sie sich, Corvinus und das, was er ihr eröffnet hatte, die unmögliche Forderung der Flavia und dass er dennoch zugestimmt hatte, auszublenden. Und langsam, nach und nach, wurde Finn tatsächlich ruhiger, bis er schließlich nur noch leise vor sich hin quengelte.

    Ihr Ausbruch schien Corvinus nun erst recht zu verärgern, aber Siv hatte nicht wirklich Augen dafür – sie hätte auch keine dafür gehabt, hätte sie nicht einen plärrenden Säugling auf dem Arm gehabt. Und jetzt, mit Finn, der einfach drauflos heulte, konnte sie erst recht nicht mehr darauf eingehen, was sich auf Corvinus’ Gesicht spiegelte. Sie bemerkte es zwar durchaus, aber sie hatte einfach nicht den Nerv dafür, nun darauf Rücksicht zu nehmen, oder sich gar, wenn auch nur kurz, Gedanken darüber zu machen, warum er nun wütend war. Ihr kam noch nicht einmal in den Sinn, dass er kein Recht hatte, wütend zu sein, nicht wenn er auf so eine bescheuerte Forderung eingegangen war. Was ihr allerdings durch den Kopf schoss war, dass die Flavia eine gerissene Schlange war. Verdammt gerissen. Es gab ohnehin nicht viel, was Siv mit Corvinus hatte, was sie mit ihm teilen konnte. Selbst wenn sie gewollt hätte, sie konnte nicht in der Öffentlichkeit an seiner Seite sein, konnte nicht auf diese Art sein Leben mit ihm teilen, konnte ihm nicht helfen oder sonst etwas tun. Sie hatten doch nur diese privaten Stunden miteinander – und die Flavia hatte es geschafft, sich nun mehr denn je zwischen sie zu drängen, mehr denn je präsent zu sein, obwohl sie überhaupt nicht hier war. Wann immer Corvinus und sie Zeit miteinander verbringen würden, Celerina würde immer, immer, ebenfalls anwesend sein. Bei jedem Blick, jedem Wort, jeder Berührung. Es gab keine Chance mehr darauf, sie wenigstens für einige Momente auszuschließen. Umgekehrt würde Corvinus allerdings wenig Probleme haben, sie, Siv, auszuschließen, nicht nur wenn er mit seiner Frau zusammen war, auch wenn er arbeitete, wenn er im Senat war oder in den Tempeln oder sonst wo – alles Orte, wo seine Frau ihn hin begleiten, Zeit mit ihm verbringen konnte, wenn sie denn wollte. Im Gegensatz zu ihr. In Siv loderte es.


    "Oh, bis sie schwanger ist also?" Hätte Siv geahnt, dass Corvinus eigentlich versprochen hatte, sie bis zur Geburt eines Kindes nicht mehr anzurühren, sie wäre womöglich noch deutlich mehr in die Luft gegangen. Aber selbst das, was sie wusste, war ihr schon zu viel. "Wie lange seid ihr jetzt verheiratet, ohne dass sie ein Kind trägt? Wie lange haben WIR das Lager geteilt, bevor ich schwanger geworden bin? Wie lange soll ich auf dich warten, ein Jahr, zwei Jahre, noch mehr? Hast du irgendeine Grenze gesetzt?" Innerlich flehte sie zu Hel, dass er so schlau gewesen war, eine zeitliche Grenze zu setzen. Denn wenn nicht… Finn heulte wieder auf, und Siv strich über seinen Kopf und drückte kurz ihre Lippen auf den leichten Flaum, bevor sie ihn weiter wiegte – ohne indes innezuhalten sich aufzuregen, was die Voraussetzung gewesen wäre, wenigstens die Chance zu habe den Kleinen zu beruhigen. "Du wolltest mich doch wieder hier haben! Was soll das jetzt? Wir haben doch so schon nicht viel Zeit zusammen, du konntest noch nicht mal sagen, dass du jeden Tag ein bisschen Zeit für mich hast! Und das, das hier, das ist… Sie wird IMMER dabei sein. IMMER. Das will ich nicht!"

    An ihm liege es, sagte er, was Siv allerdings nicht so ganz glauben konnte, weil es schlicht lächerlich klang. Und als ob ihm das auch aufgefallen war, sprach er gleich weiter. Und das, was nun kam, klang fast noch lächerlicher. Siv starrte Corvinus sprachlos an. Er hatte es der Flavia versprochen? Sie brachte kein Wort über die Lippen, nicht in diesem Augenblick, starrte ihn nur stumm an, während er noch weiter sprach. Der Preis. Für sie. Für einen Erben. Siv konnte es immer noch nicht so recht begreifen, nur langsam sickerte das Verstehen ein. Und je mehr es das tat, desto mehr spürte sie, wie ihr Temperament aufflammte. Es mochte dieser Tage gedämpfter sein als üblich, aber von der Leidenschaft, die sie gerade eben empfunden hatte – und die derzeit so selten war wie ihr Temperament, und mit eben diesem verknüpft –, war es nur ein kleiner Schritt zu der Leidenschaft, die jetzt begann in ihr zu lodern. "WAS?!?" explodierte sie. Im nächsten Augenblick fing Finn an zu plärren, und Siv stieß sich von der Wand ab und war mit einem Satz bei der Wiege. Sie hob ihren Sohn hoch und legte ihn an ihre Brust, sein kleiner Körper aufrecht, so dass sein Kopf an ihrer Schulter ruhte, und sie wiegte ihn ein wenig auf und ab. Gleichzeitig blitzte sie Corvinus aus funkelnden Augen an. "Und wie stellst du dir das vor?" fauchte sie, deutlich leiser diesmal, aber um nichts weniger aufgebracht als noch zuvor – weswegen es ihr vermutlich auch nicht wirklich gelang, Finn zu beruhigen. "Dass ich hier sitze, in dieser Villa, und warte, und warte, während du sie hast? Wie lang?"

    Corvinus wich ihrem Blick aus, aber dass er plötzlich wütend schien, bemerkte Siv auch so. Spätestens als er ihre Frage in einem schroffen Tonfall abtat, ohne wirklich zu antworten, wurde ihr das klar. Allerdings wurde ihr sonst nichts klar, im Gegenteil. Sein Verhalten wurde immer verwirrender für sie. Was um alles in der Welt hatte sie nun schon wieder getan, dass er verärgert war? Weswegen hatte er sie denn zurückgeholt, wenn er nun so reagierte, kaum dass sie endlich, endlich wieder zusammen sein konnten? Warum bei Hel reagierte er nun so? Siv verstand es einfach nicht. Nicht einmal die Möglichkeit, dass er fürchtete ihr Körper könnte von der Schwangerschaft noch entstellt sein, wäre Grund dafür, dass Corvinus verärgert war über das, was gerade passiert war – und beinahe passiert wäre.


    Siv blieb an der Wand stehen und verschränkte die Arme vor der Brust, so wie Corvinus es am Tisch tat. Es lag also nicht an ihr. Nicht an ihr. Woran dann? Ihre Brauen zogen sich leicht zusammen. "An was liegt es dann?" Diesmal hatte ihre Stimme einen leicht fordernden Unterton. Sein ganzes Verhalten war… merkwürdig, fand sie. Die Ablenkungsversuche zuvor… die sie noch hätte erklären können, aber nun das hier, dass er so abrupt abbrach, dass er sie abwies, obwohl so eindeutig war, selbst jetzt noch, dass er sie eigentlich wollte. Und Siv wollte wissen, warum.

    Diesmal lenkte Corvinus nicht ab. Im Gegenteil. Siv seufzte auf, als sich sein Griff etwas verstärkte und er sie noch näher an sich zog, und nur allzu bereitwillig ließ sie sich gleich darauf von ihm zurückdrängen, während sie zugleich dennoch versuchte, so dicht bei ihm wie möglich zu bleiben. Ihre Hände gruben sich in seine Haare, während sie ihn weiter küsste, sanken dann hinab, als sie die Wand im Rücken spürte und ihr Körper von seinem dagegen gedrückt wurde. Sie schien nicht genug davon bekommen zu können, ließ ihre Hände von seinen Schultern auf seine Brust wandern, während sie seine Finger an ihren Beinen fühlte. Erneut seufzte sie rau auf, zwischen zwei Küssen. Sie wollte das hier so sehr, wollte ihn spüren, wollte diese Leidenschaft mit ihm teilen, endlich wieder.


    Und dann – die kalte Dusche. Siv hörte, wie Corvinus aufstöhnte, aber es klang nicht leidenschaftlich, sondern seltsam… entnervt. Frustriert. Und gleich darauf ließ er von ihr ab, löste zuerst seine Lippen von ihren, indem er den Kopf zurücklegte, und tat dann sogar einen ganzen Schritt nach hinten. Siv starrte ihn an, irritiert und ein wenig verletzt. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, warum er sie zurückwies, schon gar nicht, wo doch so deutlich war, dass er sie auch wollte. Oder wollte er sie im Grunde gar nicht, nicht mehr? War ihm die Flavia vielleicht doch lieber – womöglich sogar deshalb, weil sie noch kein Kind geboren hatte? "Was ist?"

    Und wieder tat er es. Siv war sich sicher, dass Corvinus dasselbe durch den Kopf ging wie ihr. Dass er dasselbe wollte wie sie. Und doch, anstatt den Kuss fortzuführen, anstatt sie zu berühren, zu liebkosen, löste er sich schließlich von ihr. Das Thema, das er nun als Ablenkung nutzte, war deutlich geschickter gewählt, und trotzdem wurde Siv das Gefühl nicht los, dass es nichts anderes war als eben das: Ablenkung. Sie sah kurz zu Finn hinüber und korrigierte sich dann. Vielleicht nicht nur Ablenkung, gestand sie ihm zu. Nicht nur. Aber auch. Sie wusste nur nicht so recht, warum. "Ja", antwortete sie leise, ihre Nase an seiner Wange, ihre Lippen an seinem Kinn, sacht über seine Haut streichend, als sie sie bewegte während sie sprach. Und wieder suchten ihre Lippen die seinen. Sie wollte ihn. Jetzt. Und ihr war sogar bewusst, dass das zu einem guten Teil daran lag, dass sie sich eben nicht Gedanken darüber machen wollte, wie das hier weiter gehen würde – und das würde sie, sobald sie zuließ, dass die Leidenschaft abflaute anstatt stärker zu werden. Sie würde sich wieder Gedanken machen. Sie würde mit ihm wieder darüber reden – oder alternativ nicht wissen, was sie sagen sollte. Aber sie wollte ihn auch, weil sie ihn einfach… wollte. Weil sie ihn liebte, weil sie ihn vermisst hatte, ebenso sehr wie das hier. Wochenlang hatten sie sich nicht gesehen, aber das letzte Mal, dass sie sich körperlich so nahe gewesen waren, war schon Monate her. Und im Gegensatz zu ihm hatte sie niemanden sonst gehabt.

    Siv stand da, die Arme inzwischen verschränkt, und als Corvinus kam, ließ sie sich widerstandslos erneut in den Arm nehmen. Sie hörte, was er sagte. Und sie hörte, dass er auf ihre Frage nicht antwortete. Dass er ihr nicht sagte, bei was er seiner Frau den Vorzug geben würde. Oder dass es nicht so werden würde wie vor der Geburt. Er sprach nur davon, dass er nicht vergessen konnte, nicht einmal für Momente, und von der Pflicht, die er hatte. Siv atmete tief ein, während ihr Kopf an seiner Brust lag, und fast klang es wie ein Seufzen. Sie wusste doch, wer er war, und dass er nicht aus seiner Haut konnte. Sie wusste es. Sie wollte das auch gar nicht von ihm. Sie wollte doch nur, dass er sich Zeit für sie nehmen würde, regelmäßig – und dass er das tat, weil er es wollte. Sie wollte, dass es so war wie früher – nicht dass es einfach war, als sie noch seine Leibsklavin gewesen war, aber es war immerhin… irgendwie selbstverständlich gewesen. Sie hatte direkt neben seinem Gemach gewohnt, es war ein Leichtes gewesen, abends zu ihm zu gehen. Es war niemandem aufgefallen. Und sie hatten Zeit miteinander verbringen können, abends war die beste Gelegenheit dafür. Corvinus hatte häufig noch etwas gelesen, aber das hatte Siv nichts ausgemacht. Nur wenn es wieder Diskussionen gegeben hatte… Aber was war jetzt? Sie schlief nun hier, sie hatte darüber hinaus Finn. Wenn sie jetzt abends zu ihm ging, gar die Nacht bei ihm verbrachte, würde es jemandem auffallen. Wenn er zu ihr kam, noch mehr, erst recht dann, wenn er länger blieb. Und sie wollte einfach nicht ständig auf ihn warten müssen, schon gar nicht tagelang – aber genau das war es doch, was er ihr in Aussicht stellte, oder nicht? In jedem Fall versicherte er ihr nicht, dass das nicht passieren würde. Siv wusste beim besten Willen immer noch nicht, wie Corvinus sich das vorstellte, aber sie wusste, was sie nicht wollte.


    Siv presste die Lippen zusammen und fühlte sich hin und her gerissen. Sie liebte das hier. Sie wollte nicht mehr als das, seine Nähe zu spüren, von ihm gehalten zu werden, so wie jetzt, seinen Geruch einzuatmen und seine Berührung zu fühlen. Ihr hatte das auch gefehlt, so sehr. Aber tagelang auf das hier warten – und dann hatte er endlich Zeit für sie, und am Ende diskutierten sie nur doch jedes Mal wieder, weil er die Flavia nicht aus dem Kopf bekam und ein schlechtes Gewissen hatte? War es dann nicht besser, wenn sie… wenn sie nicht doch einfach… ging? Etwas in ihrer Brust krampfte sich zusammen bei dem Gedanken, und in diesem Augenblick spürte sie seine Lippen auf ihrer Stirn. Ich werde für dich da sein. Sie wollte so gern daran glauben. Wollte glauben, dass er für sie da sein würde, wenn sie ihn brauchte, wenn sie ihn wollte, dass er sich nicht wieder zurückziehen von ihr, dass er sie nicht alleine lassen würde. Sie spürte die Berührung seiner Lippen auf ihrer Haut, spürte seinen Atem, der darüber strich, und langsam hob sie ihr Gesicht an, so dass sein Mund Stück für Stück nach unten wanderte, über ihre Haut, bis sich ihre Lippen schließlich fanden.