Es war noch vergleichsweise früh, und doch hatte Siv das Gefühl, als hätte sie einen langen Tag hinter sich. Einen langen, anstrengenden Tag. Vielleicht war auch entmutigend das richtige Wort. Sie konnte es nicht genau sagen, aber sie fühlte sich… müde, und das nicht nur auf einer körperlichen Ebene.
Sie hatte es sich nicht nehmen lassen, Corvinus bereits am Vortag zu begleiten nach Ostia, auch wenn es für sie nicht wirklich viel zu tun gegeben hatte. Sie hatte geholfen, ihm, am Morgen, beim Baden, beim Einkleiden. Sie hatte sich nicht anmerken lassen, wie es ihr ging, oder besser: sie hatte versucht, sich nichts anmerken zu lassen, aber wie erfolgreich sie dabei gewesen war, wusste sie nicht so genau. Er kannte sie zu gut, inzwischen, argwöhnte sie. Und davon abgesehen war es vermutlich nicht schwer zu erraten für ihn, wie es ihr heute gehen mochte. Heute, wo er die Flavia heiratete. Unwillkürlich strich ihre Hand über ihren immer noch flachen Bauch. So viel war geschehen, und das innerhalb so kurzer Zeit. Der Gedanke, dass Corvinus ab heute verheiratet sein würde, tat ihr weh – sicherlich, sie hatte ihm mehr als einmal versichert, dass es ihr nichts ausmachte, nicht an seiner Seite sein zu können. Nicht seine Frau zu sein. Und das stimmte auch – aber gleichzeitig stimmte es nicht. Sie hatte nicht das geringste Bedürfnis danach, die Dinge zu tun, die von einer Römerin offenbar erwartet wurden. Aber sie wünschte sich, sie könnte die sein, mit der er Zeit verbringen konnte, und das, ohne es irgendwie vertuschen oder schön reden zu müssen, ohne Verpflichtungen oder Bedingungen. Siv machte sich nichts vor. In dem Moment, indem die Flavia zu ihnen zog, würde das nur schlimmer werden, schon allein weil Corvinus ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen haben würde. Ihnen beiden gegenüber. Mehrmals hatte sie sich schon bei dem Gedanken ertappt sich zu wünschen, er wäre nicht ganz so aufrichtig, nicht ganz so… bemüht darum, stets das Richtige zu tun, aber dann musste sie wieder daran denken, dass sie ihn kaum so sehr lieben würde, wenn er nicht wäre, wie er nun einmal war. Er würde ein schlechtes Gewissen haben. Er würde versuchen, es recht zu machen, irgendwie, und Siv wusste, dass das letztlich auch auf ihre Kosten gehen würde. Weniger Zeit, die sie miteinander verbringen konnten. Melancholische Gedanken, die die Stimmung trüben würden, wenn sie zusammen waren. Siv seufzte lautlos und strich ein letztes Mal über die Tunika, die sie trug, ebenso in rot-gold gehalten wie die der anderen Sklaven, die auf dem Schiff bedienten, aber um ihren Status als Leibsklavin hervorzuheben, war ihre festlicher, aus feinerem, roten Stoff, mit grazilen goldenen Verzierungen. Ihre Haare waren in einem für ihre Verhältnisse komplizierten Muster am Hinterkopf zusammengesteckt, nur wenige Strähnen wanden sich daraus hervor und fielen über ihren Rücken hinab, während sich andere, kürzere um die Ohrhänger kringelten, die von ihren Ohrläppchen baumelten. Das Kettchen mit dem Anhänger, den sie von ihm bekommen hatte, vollendete ihr Aussehen. Es war immer noch deutlich, dass sie Sklavin war, aber ebenso deutlich wurde auch, dass sie nicht zu den Sklaven gehörte, die heute arbeiten mussten. Sie würde das tun, was sie sonst auch tat, wenn sie Corvinus irgendwohin begleitete – in seiner Nähe sein, darauf achten, was er wollte. Wobei sie bezweifelte, dass er heute sie in Anspruch nehmen würde, wenn er etwas brauchte. Trotzdem würde es das sein, was sie tun würde. Nach feiern war ihr sicherlich nicht zumute. Aber ebenso wenig würde sie etwas tun, was ihm den Tag verderben würde. Es war ihre Entscheidung gewesen, und sie konnte sich noch zu gut daran erinnern, wie sie darüber gesprochen hatten. Wie er beinahe darum gebeten hatte, sie möge sich anders entscheiden. Sie hatte nicht auf ihn gehört. Sie war überzeugt davon gewesen, dass es richtig war, was sie tat, und das war sie noch. Es war an diesem Tag nur schwerer war als sonst, damit zu leben. Das war alles.
Als sie schließlich am Hafen eintraf, war Corvinus schon längst dort. Zusammen mit ein paar anderen hatte sie ihm beim Herrichten geholfen, und dann war er schon losgezogen, während die Sklaven sich noch selbst hergerichtet hatten. Absichtlich hatte sie lange genug gebraucht, dass die anderen schon vorgegangen waren. Sie würde an diesem Tag noch lange genug in Gesellschaft verbringen müssen, obwohl sie sich eigentlich am liebsten in der Villa in Rom verkriechen wollte, im Stall bei Idolum, und jeden Gedanken daran, was heute passierte, ausblenden. Sie wollte jeden Moment nutzen, den sie herausschlagen konnte, um allein zu sein. Aber auch dann, als die anderen schon gegangen waren, hatte sie noch getrödelt, nicht unbedingt absichtlich, jedenfalls nicht bewusst, aber unbewusst hatte sie sicherlich den Moment hinauszögern wollen, in dem sie selbst losgehen musste, zu dem Schiff, auf dem die Hochzeit stattfinden würde. Siv seufzte lautlos. Ausgerechnet auf einem Schiff. Es würde keine Möglichkeit für sie geben zu fliehen, wenn es zu viel werden würde. Auf dem Schiff hatte sie keine andere Wahl, als sich so lange unter Kontrolle zu behalten, wie es dauern würde. Einen kurzen Moment hielt sie inne, dann straffte sie die Schultern und bemühte sich um einen einigermaßen festen Schritt, ebenso wie einen sorgfältig kontrollierten Gesichtsausdruck, der so neutral wie möglich war, damit er nichts verriet von dem, was in ihr vorging. Sie schaffte es gerade mal ein paar Schritte weit, bevor sie erneut, diesmal abrupt, stehen blieb, während ihr ihr Gesichtsausdruck entglitt. Ihre Augen weiteten sich, während ihre Lippen sich um eine Winzigkeit öffneten, als sie das Schiff sah. Genauer gesagt, den Namen, der es zierte. Nordwind. Siv atmete ein. Die Luft strich durch ihre leicht geöffneten Lippen hindurch, über die Zunge, die das Salz in der Seeluft schmecken konnte, hinab in ihre Lungen, die sich weiteten und die Brust hoben. Nordwind hatte er sein Schiff getauft. Nicht den Bruchteil eines Augenblicks zweifelte Siv daran, dass er an sie gedacht hatte, als er sich für diesen Namen entschieden hatte. Etwas in ihrer Brust zog sich schmerzhaft zusammen, als die Sehnsucht überhand nahm, die sie ebenso sorgfältig zu kontrollieren versuchte wie ihre Miene. Sie schloss die Augen, und ihre bis gerade noch leicht bebenden Finger krümmten sich und schlossen sich zu Fäusten. Mehr denn je wünschte sie sich, sie könnte einfach gehen, nicht alleine, sondern mit ihm. Mehr denn je war ihr bewusst, dass sie das nicht konnte. Sie war sich sicher, dass sie davon kommen würde, wenn sie die ganzen Hochzeitsfeierlichkeiten einfach sein ließ und verschwand. Nach Rom zurückkehrte und sich verkroch, bis alles vorüber war. Corvinus würde sie nicht bestrafen, nicht dafür, dass sie nicht zusehen wollte, wie er heiratete. Er hatte sie nicht gezwungen, heute anwesend zu sein, und auch wenn sie sich jetzt noch umentschied, würde das keine Konsequenzen für sie haben, davon war sie überzeugt. Aber sie konnte nicht. Jetzt noch weniger als zuvor. Auch wenn es schwierig war, letztlich zählte doch, dass er sie liebte, und das zeigte er ihr immer wieder, in Blicken, Berührungen, kleinen Gesten – und gelegentlich großen. Nordwind. Die Fäuste öffneten sich langsam, und eine Hand hob sich. Fingerspitzen legten sich sacht auf den Anhänger an ihrem Hals, während ihre Brust sich erneut unter einem tiefen Atemzug hob. Es war an diesem Tag nur schwieriger als sonst. Das war alles.
Mit dieser lautlosen Versicherung öffnete Siv wieder die Augen und betrat schließlich das Schiff, wo sie sich unter die bereits anwesenden Gäste mischte und hindurch schlängelte, die Rufe ignorierend, die verkündeten, dass auch die Braut gerade eben erst eingetroffen war, bis sie schließlich Corvinus erreichte, in dessen Nähe sie stehen blieb, ihre Haltung gerade, ihr Gesicht eine ruhige Maske, die jedoch von Zeit zu Zeit Risse aufzuweisen schien. Er sah sich gerade suchend in der Menge um, und Siv überlegte, ihn auf sich aufmerksam zu machen – eine vorbildliche Leibsklavin, nicht mehr und nicht weniger wollte sie heute sein, das hatte sie sich vorgenommen, aber Corvinus befand sich in keinem Gespräch, das sie hätte unterbrechen können. In diesem Moment schien sein Blick sie jedoch zu streifen, und so nickte sie ihm leicht zu. Unwillkürlich zuckten ihre Mundwinkel etwas nach oben, formten ein vages Lächeln, als im nächsten Augenblick seine Aufmerksamkeit schon wieder abgelenkt wurde, diesmal ganz offensichtlich durch Celerinas Ankunft. Für einen Moment schien es ihr, als ob ihre Gesichtszüge ebenso wie ihre Lunge einfroren, dann holte sie tief Luft und bemühte sich wieder um eine neutrale Miene, während sie nun ihrerseits ihren Blick schweifen ließ. Sie sah einige bekannte Gesichter, aber sie suchte nach Brix, und sie hoffte, dass auch er heute nicht wirklich arbeiten musste, sondern Zeit hatte.