Als ein Sklave ihr in den Gängen der Casa über den Weg lief und ihr einen Brief in die Hand drückte, war Seiana im ersten Augenblick verwirrt. Von dem Aelier konnte der Brief unmöglich sein, es sei denn er hatte ihr noch in Rom zum ersten Mal geschrieben, noch vor seiner Abreise, und das wäre… Seiana stoppte sich in Gedanken rechtzeitig, als ihr klar wurde, dass das etwas wäre, was dem Aelier durchaus zuzutrauen wäre – so wie sie ihn bisher kennen gelernt hatte. Dennoch bezweifelte sie, dass das Schriftstück tatsächlich von ihm war. Neugierig nahm sie es entgegen und faltete es gleich auseinander, und kaum dass sie den Absender gesehen hatte, breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Faustus… Mit einem Kopfnicken entließ sie den Sklaven und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer, um den Brief ihres Bruders in Ruhe zu lesen. Mit einem Glas Fruchtsaft machte sie es sich auf einem der Korbstühle nahe am Fenster bequem, zog die Beine an und verkreuzte sie unter sich, und begann zu lesen.
Schon bei den ersten Worten breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Sie war sich selbst nicht sicher gewesen, wie Faustus ihre Worte auffassen würde, ihr Geständnis, dass sie eigentlich eifersüchtig gewesen war… Aber vielleicht hatte er das auch gar nicht herausgelesen, immerhin hatte sie es so deutlich nicht geschrieben, dafür war sie dann doch zu feige gewesen. Oder zu stolz, zu eigensinnig? Sie wusste es nicht. Die Gefühle, die sie damals gehabt hatte, waren jedenfalls nichts worauf sie stolz war, und sie hatte es nicht über sich gebracht, das zu Papier zu bringen. Aber wenn er erst einmal hier war… konnte sie es ihm ja immer noch sagen. Wenn sie jemand verstehen würde, dann ihr kleiner Bruder. Das Lächeln blieb auf ihrem Gesicht, während sie den Brief weiterlas, seine Erzählung, wie es ihm ergangen war. Er hatte versucht auf eigenen Beinen zu stehen. Nur als ich selbst… Wie gut konnte sie ihn verstehen, hatte ihn damals schon verstanden. Losgelöst von der Familie, von dem Namen, von der Verantwortung und den Erwartungen, die an einen gestellt wurden – wobei sie zugeben musste, dass ihre Mutter die Brüder immer mehr unter Druck gesetzt hatte, so sehr hatte sie sich gewünscht, dass sie das Erbe ihres Vaters antraten und aus ihnen Soldaten wurden. Seiana verstand nach wie vor nicht ganz, warum ausgerechnet das einer der Herzenswünsche ihrer Mutter gewesen war, aber sie hatte gesehen, wie sehr die Enttäuschung ihr zugesetzt hatte, vor allem in den letzten Lebensjahren.
Weiter las sie, konnte sich nicht helfen als eine Augenbraue hochzuziehen, als Faustus davon schrieb, dass er Hilfe gebraucht hatte – er schien nichts davon zu wissen, dass ihre Mutter jemanden auf ihn angesetzt hatte, der recht genau davon zu berichten gewusst hatte, wie es Faustus ergangen war. Und weiter ging es, auf ihrem Gesicht deutlich die Emotionen zu lesen, wie sie nachdenklich wurde als er vom Tod sprach, dann wieder schmunzelte, wie sich ihre Augen überrascht weiteten bei dem Satz, dass die Legion nach Hause kommen würde, und schließlich ein breites Grinsen während seiner Beschreibungen von Antiochia. Noch breiter wurde es beim nächsten Teil, als er seine Vorzüge als Soldat herausstellte, die sie in Zweifel gezogen hatte, gleichzeitig aber sein Glück hervorhob… Sie trank erneut einen Schluck und veränderte ihre Sitzposition, stellte einen Fuß vor sich auf und legte ihr Kinn auf das Knie, während ihre Augen schon wieder über das Pergament flogen. Jetzt kam zum ersten Mal ein Laut über ihre Lippen, ein Laut der Empörung, während sie rot wurde und in Gedanken grübelte, was sie Faustus genau über den Aelier geschrieben hatte. Doch nichts, was ihren Bruder zu diesen Sätzen veranlassen könnte? „Von wegen Köpfe verdrehen. Wart nur bis du nach Hause kommst, dann wirst du schon sehen, dass ich immer noch jemanden verdreschen kann, wenn du mir dann auch mit solchen Sprüchen kommst…“ Jetzt grinste sie wieder, eine Spur verlegen noch, aber die Freude über die gegenseitigen Neckereien – auch wenn sie nicht direkt ausgetauscht werden konnten –, war doch wesentlich größer. Der Rest des Briefes war schnell gelesen, und als Seiana das Ende erreicht hatte, streckte sie ihr angewinkeltes Bein aus, zog das andere an und begann von vorn.