„Zufall?“ Seiana war sich nicht so ganz sicher, was sie davon halten sollte. War es ihm egal gewesen, wo er eine Stelle bekam, und hatte einfach irgendeine genommen? War es ein glücklicher Zufall gewesen, weil ihn sonst keiner hatte haben wollen? Oder war er einfach auf der Suche nach einer Herausforderung gewesen, und dann hatte ihm jemand von der freien Stelle in Ägypten erzählt… „Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand nur auf Grund eines Zufalls nach Ägypten geht. Vielleicht war das der Auslöser, aber… Ägypten ist doch zu weit weg, zu anders, um aus einer Laune heraus hinzugehen. Für dich muss doch von vornherein klar gewesen sein, dass du nicht hier, oder wenigstens in Italia, bleiben würdest, oder? Was reizt dich daran?“ Sicher bedeutete Ägypten auch Karrieremöglichkeiten. Seiana konnte sich vorstellen, dass es dort möglicherweise einfacher war aufzusteigen als hier in Rom. Und in einem Land, dass trotz der Romanisierung immer noch so anders war als die Heimat, war auch nicht jeder dazu in der Lage unter Beweis zu stellen, was er konnte. Aber vielleicht ging es ihm ja auch einfach nur wie ihr, vielleicht spürte er auch diese unterschwellige Sehnsucht, jedes Mal wenn er von fernen Ländern hörte oder las…
Bei seiner Frage schüttelte Seiana den Kopf. „Nein, ich war noch nie in Germanien. Aber es klingt interessant… Nun, die Kälte vielleicht nicht unbedingt, aber das Land selbst. Ich würde gerne mal hinreisen und es kennen lernen.“ Genauso wie viele andere Länder. Aber auch wenn sie jetzt in Rom war, unabhängig, blieb doch die Frage, was möglich war für sie. Davon abgesehen war sie ja erst vor kurzem angekommen, und allein in dieser Stadt gab es unzählige Dinge zu sehen, zu entdecken – in diesem Moment nahm sie sich vor, das auch zu tun. Sie würde nicht nur zu Hause herumsitzen und die Tage einfach so verstreichen lassen oder versuchen, mit sinnlosen Beschäftigungen die Zeit totzuschlagen. Sie lächelte den Aelier an, und auf Grund ihrer Gedanken in diesem Moment war es ein offeneres Lächeln als bisher. „Es ehrt dich, dass du dich nicht nur auf dem Namen deiner Familie ausruhen willst. Das tun zu viele, denke ich… Und ich kann verstehen, dass du selbst etwas erreichen möchtest, das würde mir genau so gehen.“
Dann kam Archias endlich auf den Punkt zu sprechen, weswegen er offenbar hier war – konnte es aber nicht lassen, sie dabei ein weiteres Mal auf die Folter zu spannen, indem er noch zögerte. Seiana musterte ihn gespannt und hätte am liebsten noch einmal gefragt, aber sie beherrschte sich. Und als sie dann endlich hörte, was er sie fragen wollte, zog sie überrascht die Augenbrauen hoch. „Du… willst mir schreiben? Warum?“ Die Frage rutschte ihr heraus, bevor sie wirklich darüber nachdenken konnte. Im nächsten Moment überzog eine hauchzarte Röte, kaum erkennbar, ihre Wangen. „Natürlich, wenn du… wenn du mir schreiben möchtest. Ich… würde mich über Briefe freuen.“ Sie ließ offen, ob über Briefe allgemein oder speziell von ihm. Sie wusste es ja selbst nicht, und sie wusste auch nicht so recht, was sie von seiner Anfrage halten sollte. Warum sollte er ihr schreiben wollen?
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„Hmmm.“ Elena überlegte. Seiana würde ihr den Kopf abreißen, wenn sie erfuhr, dass sie über sie redete. Aber die Sklavin ging nicht davon aus, dass Katander tratschen würde – höchstens mit seinem Herrn würde er reden, und wenn dieser klug war, würde er nicht zu erkennen geben, was er von Seiana wusste, bis sie selbst beschloss es ihm zu sagen. „Ihre Mutter ist im letzten Frühjahr gestorben. Seitdem ist sie… nun ja, ihre Lebensfreude ist irgendwie… nicht verloren, hoffe ich wenigstens, aber offenbar auf einer sehr langen Reise. Und ihr jüngster Bruder ist zur Zeit in Parthien. Mit ihm hat sie sich gestritten, als er vor zwei Jahren weg ist, aber sie war immer vernarrt in ihn, und sie macht sich große Sorgen, dass ihm was passieren könnte. Hm. Vielleicht solltest du deinen Herrn das doch besser selbst rausfinden lassen. Aber du kennst ihn besser.“ Danach grinste sie wieder spitzbübisch. „Bemerkungen, so? Jaaa, wäre vermutlich angebracht. Alleine kommt sie nicht drauf.“
Interessiert hörte sie anschließend, wie Katander von sich erzählte. „Meine Eltern waren auch Sklaven, aber sie waren bei einer anderen Familie, die mit den Decimern befreundet waren. Sie sind gestorben, als ich zehn war – sonst gab es in dem Haushalt kaum jemanden, der sich um mich hätte kümmern können, und auch keine anderen Kinder, also hielt es mein damaliger Herr für das Beste, mich wegzugeben. Dass ich es bei den Decimern gut haben würde, wusste er. Und zumindest Kinder gab es dort genug. Seiana war elf, damals, und sie hat mich gleich unter ihre Fittiche genommen.“ Elena lachte wieder, als sie an diese Zeit dachte. Kindern – nicht allen, aber doch vielen – waren Standesunterschiede meistens egal. Und Seiana hatte ein Faible dafür gehabt, Schwächere zu beschützen, wobei sich Elena ziemlich sicher war, dass sie das auch getan hatte, damit sie sich mit anderen anlegen konnte, notfalls auch handgreiflich. Wenn ihre Mutter sie zur Rede gestellt hatte deswegen, hatte sie zumindest immer einen triftigen Grund gehabt, warum sie sich ausgerechnet mit diesem Jungen gestritten hatte.