Beiträge von Decima Seiana

    „Das sicherlich“, stimmte sie ihm zu. „Wobei es mich weniger nach Rom gezogen hat, um dort mein Glück zu versuchen, als vielmehr weil ein Teil meiner Familie dort bereits heimisch geworden war.“


    Sie lachte leise, als er dann davon sprach, dass sie sich in Tarraco hätten treffen können. „Ich weiß nicht. Wäre meine Mutter nicht krank geworden, hätte sie mich wohl irgendwann nach Rom geschickt, um eine vorteilhafte Ehe zu schließen.“ Immerhin waren sowohl Meridius als auch Livianus da schon seit langem Senatoren gewesen. Eine Tochter des Hauses irgendwo in der spanischen Provinz an irgendeine lokale Größe zu verheiraten, war nicht mehr das, was für eine Familie erstrebenswert war, wenn sie sich in Rom bereits einen derartigen Platz erarbeitet hatte. „Aber früher, als Kinder... da wäre das sicher möglich gewesen.“ Sie verschwieg lieber, wie dieses Treffen dann vielleicht ausgesehen hätte. Wer sie heute kennen lernte, mochte das nicht im Geringsten vermuten, aber Seiana war alles andere als ein braves Kind gewesen – was wohl passierte, wenn ein Mädchen mit drei Brüdern und ohne die strenge Hand eines Vaters aufwuchs. Vor allem mit Faustus hatte sie sich häufig in den Straßen herumgetrieben... und sich mit jedem geprügelt, der ihren kleinen Bruder auch nur schief anschaute. Bis dann irgendwann ihre Mutter die Nase voll gehabt und die Zügel bei ihr so kurz genommen hatte, dass Seiana nur noch damit beschäftigt gewesen war zu lernen. Sich zu benehmen, vor allem, und all das andere, was von einer römischen Frau erwartet wurde, was ihre Mutter von ihr erwartete – aber durch den deutlich erweiterten Unterricht, dem sie von da an folgen musste, hatte sie sich quasi als Ersatz für die wilden Tage mit ihren Brüdern, die sie nun nicht mehr hatte, auf alles gestürzt, was Wissen und Bildung verhieß.
    „Ja, da hast du wohl Recht.“ Schlecht getroffen hatte es sie ganz sicher nicht. Sie fragte sich zwar manchmal, ob eine einfache Fischersfrau in Tarraco nicht glücklicher war, trotz der Widrigkeiten, die das Leben für sie bereithalten mochte... aber trotzdem würde sie nicht tauschen wollen, würde nicht das aufgeben wollen, was sie im Gegenzug alles erhalten hatte für die Einschränkungen, die mit ihrem Stand, ihrem Status einher gingen. Und den generellen Einschränkungen, denen eine Frau unterlegen war, egal aus welchem Stand sie kam, konnte sie mit Sicherheit mehr entgegen setzen als andere Frauen... und auch wenn gerade das wieder Probleme anderer Art mit sich brachte, wollte sie auch daran letztlich nichts ändern. „Möchtest du noch etwas essen?“ wies sie dann auf das Essen, das sich langsam dem Ende zuneigte. „Wenn du möchtest, kannst du dich im Anschluss daran gerne hier ein wenig umsehen. Dich selbst von den Sicherheitsvorkehrungen überzeugen, mit meinen Leibwächtern sprechen, was immer du für deinen Bericht benötigst.“

    „Unter anderem, ja“, bestätigte sie lächelnd, unschlüssig ob sie nun überrascht sein sollte, dass er das wusste. Immerhin war gerade Meridius in vielen Einheiten gewesen. Andererseits war Hispania ihre gemeinsame Heimat, und Meridius sogar Statthalter der Provinz gewesen. Sie war zu lange nicht mehr dort gewesen, um zu wissen, wie viel dort noch geredet wurde über ihn, wie bekannt seine aktiven Zeiten noch waren.
    Sie hielt sich zurück bei den weiteren Worten, nur ihr Gesichtsausdruck wurde leicht betroffen, als er von seiner Mutter sprach. Das immerhin war bei ihr anders gewesen – der Tod ihres Vaters hatte ihre Mutter getroffen, aber nicht so sehr. So lange sie gesund gewesen war, hatte sie sich immer um die Familie gekümmert, darum, dass es ihnen an nichts fehlte. „Das merkt man“, kommentierte sie erst wieder seine Worte zur Garde, damit im Grunde noch einmal wiederholend, was sie zuvor gesagt hatte. Er hatte gesagt, dass er für die Garde lebte – und genau diesen Eindruck bekam man auch, wenn man ihn reden hörte. Es war schwer sich vorzustellen, dass eine Frau in seinem Leben derzeit überhaupt Platz haben könnte, so wie er von seinem Dienst sprach... andererseits würde sich das vielleicht ändern, sobald er eine kennen lernte. Allerdings: er würde ohnehin noch warten müssen, bis er heiraten durfte, oder eine Sondererlaubnis beantragen, und es war fraglich, ob ein Optio eine solche erhalten würde.
    Bei seiner nächsten Frage bekamen ihre Augen wieder einen merkwürdigen Ausdruck. „Mich haben ähnliche Gründe nach Rom gebracht wie dich“, antwortete sie. „Bevor ich nach Rom gezogen bin, war meine Mutter lange Zeit sehr krank. Ich habe sie gepflegt und mich um den Haushalt gekümmert.“ Allein. Zwei ihrer Brüder waren da schon längst fort gewesen, den dritten hatte es nicht interessiert, was sich zuhause abspielte. „Zwei meiner Brüder waren damals schon seit längerem fort, der dritte wollte ebenfalls gehen. Und als sie... dann gestorben ist, hat es nichts gegeben, was mich noch in Tarraco gehalten hätte.“

    „Natürlich macht es keine Umstände“, bekräftigte Seiana nochmals. Es wäre lächerlich, würde er anderswo übernachten – und unhöflich von ihr obendrein, war er doch von ihrem Mann geschickt worden.


    „Ich weiß, was du meinst. In meiner Famlie hat der Militärdienst eine lange Tradition... mein Vater ist im Dienst gestorben, einer meiner Brüder ebenfalls.“ Für einen flüchtigen Moment wurde der Ausdruck ihrer Augen fast ein wenig traurig. „Es hat seinen Grund, dass einfache Soldaten nicht heiraten dürfen. Es lenkt sie ab, und es lässt zu viele einsam und auf sich allein gestellt zurück, wenn sie für ihren Dienst fortziehen müssen.“ Sie lächelte kurz bei seinem Scherz. „Und du bist immerhin in Rom, wo du auch nach deiner Familie sehen kannst.“ Körbe flechten. Fischen. Bei ihr wäre dieser Sprung nicht ganz so groß gewesen. Sie hätte so oder so irgendeinen einflussreichen Mann heiraten müssen, eine Verbindung eingehen also, die ihrer Familie zur Ehre gereicht und Vorteile gebracht hätte. Als Verwandte von Senatoren, Legaten, sogar einem Triumphator hatte sie in dieser Hinsicht ohnehin nie eine Wahl gehabt.


    Sie sah sich kurz um, aber keiner der Sklaven war zu sehen – natürlich, sie hatte sie ja hinaus geschickt. Kurzerhand stand sie selbst auf, holte die Karaffe, die die Sklaven etwas abseits zum Nachfüllen hingestellt hatten, und schenkte dem Iunius ein. Nachdem sie sich wieder gesetzt hatte, trank sie einen Schluck Wasser, bevor sie fortfuhr. „Wer dich über die Garde reden hört, Iunius, kann nicht anders als zu sehen, dass du dorthin gekommen bist, wo du hingehörst.“

    Seiana wandte wieder ihren Kopf leicht zur Seite und sah nachdenklich zum Fenster hinaus. „Geplant?“ murmelte sie, für einen winzigen Moment in Gedanken versunken, während sie an die Vergangenheit dachte, an früher, an das, was sie tatsächlich mal geplant, sich ausgemalt hatte für ihre Zukunft. Dass ihr Leben heute so aussehen würde, war nie so in ihren Vorstellungen gewesen, auch dann nicht, als sie den Aelius kennen gelernt hatte und ihm nach Aegyptus gefolgt war. Spätestens da schien ihre Lebensplanung einigermaßen fest gewesen zu sein. Nur hatte der dann die Cousine des Iunius kennen gelernt... und Seiana war vor den Trümmern ihrer Planung gestanden, und hatte wieder von vorn anfangen müssen. Mit dem kleinen Unterschied, dass sie nicht mehr so jung war wie damals, als sie dem Aelius das erste Mal begegnet war.
    Sie bemühte sich um ein Lächeln. „Ich habe schon öfter die Erfahrung gemacht, dass Pläne sich nicht immer in die Tat umsetzen lassen.“ Neben ihren Aufgaben als Auctrix und Rectrix, und neben der Fortführung ihrer Betriebe hatte ihr Plan ohnehin im Grunde nur darin bestanden, zu heiraten. Weil sie wenigstens diesen Part dessen erfüllen wollte, was erwartet wurde von einer Römerin. Und das, immerhin, hatte sie nun erfüllt, auch wenn das nun anders zustande gekommen war als sie gedacht hatte. „Letztlich kann ich zufrieden sein, das ist das Wichtigste.“ Sie. Ihr Mann. Ihre Familie. So groß waren die Unterschiede da nicht. Und die Ehe mit dem Terentius hatte sich tatsächlich bislang als nicht so schlecht entpuppt, wie sein Benehmen zu Beginn ihrer Bekanntschaft hätte vermuten lassen. Sicher war er manchmal... abweisend, ließ sich auf kein Gespräch, keine Diskussion ein. Aber es gab auch andere Momente, in denen er offener war... und er behandelte sie nicht schlecht, ganz im Gegenteil.


    Als der Iunius dann doch beschloss zu bleiben, flog ein weiteres Lächeln über Seianas Gesicht, schwach zwar, aber dafür ehrlich. „Das denke ich auch“, stimmte sie zu. „Darf ich dann davon ausgehen, dass du über Nacht bleiben wirst? Es ist sicherer, nicht im Dunkeln zu reiten, vor allem nicht hier in den Bergen.“

    Seiana presste die Lippen aufeinander, und der Druck, den sie auf ihre Kiefer ausübte, verstärkte sie noch, als sie die knappe und – in ihren Ohren – nun ziemlich abweisende Reaktion des Iunius hörte. Fantastisch. Es zeigte sich immer wieder, dass es ein Fehler war, die Beherrschung über sich, über ihr Temperament zu verlieren. Sie hätte nichts sagen dürfen, hätte nicht so reagieren dürfen. Hätte nicht zeigen dürfen, wie sehr dieses Thema sie nach wie vor traf, wie wund dieser Punkt wirklich war.
    Als sie dann jedoch hörte, dass der Iunius es offenbar für besser hielt nun zu gehen und Bericht zu erstatten, schloss sie für einen Moment die Augen. Bericht erstatten. In Rom. Bei ihrem Mann. Und natürlich würde er auch von dieser letzten unschönen Szene erzählen, würde wohl berichten, was sie gesagt hatte, wie sie es gesagt. Würde seine Meinung darüber kundtun, und er und ihr Mann würden wussten die Götter welche Schlüsse daraus ziehen. Sie konnte nicht zulassen, dass es so weit kam, dass der Iunius jetzt, mit diesem Eindruck, davon ritt – und unter diesem Eindruck stehend ihrem Mann berichtete. „Du hast mich nicht verärgert, Iunius“, erwiderte sie, nun wieder ruhiger – so ruhig, dass es beinahe tonlos wirkte. Allerdings stimmte es sogar: sie war nicht verärgert, sie war... getroffen. Weil dieses Ideal unerreichbar für sie war. Noch einmal presste sie die Lippen aufeinander, dann, endlich, sah sie ihn wieder an. „Ich muss mich bei dir entschuldigen. Ich hätte nicht so auffahren dürfen. Es ist nur... Meine Situation ist...“ Sie schloss erneut kurz die Augen und atmete ein. „...nicht ganz einfach“, formulierte sie es dann. „Wenn du gehen möchtest, werde ich dich selbstverständlich nicht aufhalten. Aber dein Pferd hat sich mit Sicherheit noch nicht erholt von dem Ritt, ebenso wenig wie du, und...“ Sie zögerte kurz. „...ich würde mich freuen, wenn du mir verzeihen könntest und noch bleiben würdest.“

    Die meisten Frauen von Männern in dieser Position arbeiten nicht. Seiana presste die Lippen aufeinander, als sie diese Worte hörte. Natürlich taten sie das nicht. Frauen taten das im Grunde generell nicht, sah man mal von den unteren Schichten ab, wo jede Hand, jedes Einkommen gebraucht wurde, egal mit wem sie verheiratet waren. Egal ob sie verheiratet waren. Aber je höher die Familie oder der Mann einer Frau standen, desto mehr wurde erwartet, dass sie sich lediglich in die ihr zugedachte Rolle einfügte. Mittlerweile hatte Seiana sich immerhin mehr oder weniger damit abgefunden, dass sie dafür einfach ungeeignet war... dass sie mehr brauchte. Trotzdem nagte es an ihr, vor allem wenn es ihr wie jetzt auf die Nase gebunden wurde, dass sie nicht dem Bild der perfekten römischen Frau entsprach. Zu geschäftstüchtig, zu aktiv im öffentlichen Leben, zu unabhängig. Nichts davon war sie bereit aufzugeben... und sie konnte das auch gut rechtfertigen – vor sich selbst, hieß das, denn vor anderen machte sie sich diese Mühe gar nicht, es ging schließlich niemanden an, abgesehen von ihrem Mann und ihrem Bruder vielleicht. Und doch haderte ein Teil von ihr nach wie vor damit, dass sie den Erwartungen – vor allem jenen ihrer Mutter – so wenig entsprach.


    „Ich bin nicht wie die meisten Frauen“, antwortete Seiana, nun deutlich kühler, fast ein wenig schroff, und ihre Stimme hatte einen merkwürdigen Unterton, der erahnen lassen mochte, dass die Sache nicht ganz so einfach war wie sie es darstellen wollte. Natürlich war sie das nicht... war sie das je für Menschen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprachen? „Terentius wusste das, als er meinem Angebot zustimmte.“ Ohne es selbst überhaupt zu merken, nannte sie ihren Mann nicht bei einem der beiden vertraulicheren, sondern bei seinem Gensnamen. Und sie sprach noch weiter. Sie wusste selbst nicht so genau woran es lag – an der generell angespannten Gemütsfassung, in der sie sich die ganzen letzten Tage schon befand, am Schlafmangel oder den Nachwehen des Katers, den sie gestern gehabt hatte... aber sie reagierte empfindlicher als sonst, hatte sich nicht so gut im Griff wie sonst. Und sprach weiter, wo sie unter anderen Umständen vermutlich geschwiegen oder einfach irgendetwas Neutrales von sich gegeben hätte. „Wäre ich es, hätten wir uns nicht einmal kennen gelernt – oder zumindest nicht unter den von dir erwähnten Umständen. Und die Lage ist für alle Beteiligten doch perfekt. Der Praefectus Praetorio hat sowohl Acta als auch meine Familie besser in der Hand, als es ihm sonst möglich wäre, Acta und Decimi haben ihre Ruhe vor weiteren Nachstellungen, und meine Familie hat eine Verbindung geschlossen, die besser kaum sein könnte. Und das kam zustande, weil ich Auctrix bin. Ich sehe also keinen Grund, warum ich meine Arbeit aufgeben sollte.“
    Sie presste die Lippen aufeinander, als sie dann doch verstummte, und wich seinem Blick aus. Sie musste dringend an ihrer Selbstbeherrschung arbeiten, in den letzten Tagen hatte sie... nachgelassen. Zu sehr, als dass es noch zu tolerieren wäre. Und trotz dieser Erkenntnis wünschte sie sich jetzt, sie hätte Wein in ihrem Becher und kein Wasser. Sie drehte das Gefäß in ihren Fingern und sah erst wieder auf, als der Iunius auf ihren Bruder zu sprechen zu kam. „Er ist auf einer Inspektionsreise“, wiederholte sie, was Faustus ihr gesagt hatte. Ihr und allen anderen.

    „Da hast du wohl Recht“, schmunzelte sie auf den Kommentar hin, dass nach oben immer noch Luft war. Sie nahm sich Brot und etwas von dem gebratenen Fleisch und knabberte daran, während sie ihm lauschte. „Verständlich“, kommentierte sie, bevor sie noch anfügte: „Für mich zumindest.“ Ihren Bruder hatte es ja sonst wohin gezogen... gut, es war nicht immer seine Entscheidung gewesen, aber zumindest die Versetzung nach Aegyptus – da hatte er die Wahl gehabt. „Und auch was die Familie betrifft, kann ich dich verstehen. Bei der meinen ist es derzeit auch etwas schwierig, weil mein Bruder wieder fort musste... und sonst kaum jemand aus meiner Familie in Rom weilt im Augenblick.“ Catus, der sich mittlerweile tatsächlich als Sproß der griechischen Linie entpuppt hatte, kam nicht in Frage – weil er Sproß der griechischen Familie war, da war Seiana durchaus voreingenommen, und weil er... seltsam war. Was vielleicht daran liegen mochte, dass er lange Jahre ziemlich einsam und fernab der römischen Zivilisation verbracht hatte. Er hielt nicht viel von der militärischen Tradition ihrer Familie, und er machte keine Anstalten, dem Familiennamen Ehre zu machen und eine Karriere anzugehen. Und allein der letzte Punkt war schon Grund genug, ihm die Würde des Hausherrn zu verweigern. Und sonst? Gab es nur ein paar Jungspunde, die nach wie vor nicht einmal dauerhaft in Rom lebten, geschweige denn sich in ihr Erwachsenenleben eingefunden zu haben schienen. Gerade wollte sie ihn fragen, ob er ihren Bruder schon kennen gelernt hatte – und bei der Gelegenheit vielleicht herausfinden, ob er etwas wusste über Faustus' Aufenthaltsort, auch wenn sie das bezweifelte, und noch mehr bezweifelte, dass er ihr etwas sagen würde wenn es doch so war –, als der Iunius ihr eine Frage stellte. Ein wenig verwundert musterte sie ihn. „Das habe ich vor, ja. Warum?“

    Dass er auf ihrer Hochzeit gewesen war, war ihr nicht aufgefallen – aber an dem Tag hatte sie wahrlich anderes zu tun gehabt, als auf die Gesichter der Prätorianer zu achten, die ihr Mann abgeordert hatte an diesem Tag dabei zu sein und dafür zu sorgen, dass alles seinen geplanten Gang ging. „Verzeih, du bist mir an diesem Tag gar nicht aufgefallen... aber ich habe dich bei der Hochzeit deiner Cousine kurz gesehen.“ Allerdings hatten sie auch da nicht wirklich ein Wort miteinander gewechselt. Ihr Mann und sie hatten das Brautpaar begrüßt und sich im Übrigen ziemlich zurückgehalten – das immerhin war eine Sache, die sie gemeinsam hatten, wie Seiana bemerkt hatte: sie beide waren nicht übermäßig begeistert davon, sich auf diversen gesellschaftlichen Anlässen blicken lassen zu müssen, auch wenn er wie sie in den sauren Apfel biss und es tat.
    „Die Rolle des Hausherrn auszufüllen bei der Hochzeit des a memoria gleicht ja mehr einem Sprung ins kalte Wasser, wenn du davor noch nicht viel Erfahrung hattest mit gesellschaftlichen Anlässen.“ Sie lächelte flüchtig. „Andererseits lernen manche so am besten... und als Centurio wird es dir sicher nicht schaden, vor allem nicht, wenn du bei den Stadteinheiten bleibst. Ich gehe doch richtig davon aus, dass du bei der Garde bleiben möchtest?“

    „Ich glaube ich weiß, was du meinst.“ Seiana lächelte schwach. Sie dachte nicht unbedingt gern an diese paar Tage zurück, in denen sie zunächst keine Ahnung gehabt hatte, was sie tun sollte – und dann keine Ahnung gehabt hatte, ob ihre Idee funktionieren würde. Ob der Terentius ihr Angebot annehmen würde. Dass sie später mit dem Iunius auf dem Landgut ihrer Familie sein und mit ihm gemeinsam essen würde... das hätte sie auch nicht geglaubt. Und, natürlich, noch weniger unter den aktuellen Umständen.
    „Ich nehme an, mein Mann hat dich geschickt, weil du Bescheid weißt über die Umstände, wie wir uns kennen gelernt haben. Du warst ja sogar dabei.“ Da der Iunius das alles ja mitgekriegt hatte – bis hin zu Raghnall, der von ihm verhört worden war –, machte Seiana sich in diesem Fall nicht die Mühe, etwas vorsichtiger zu formulieren. Oder gar um den heißen Brei zu reden. Und einer jener Soldaten, die dabei gewesen waren, würde sich nicht im Mindesten Gedanken darüber machen, dass ihr Praefect einen von ihnen seiner Frau nun hinterher schickte. Andere hätten da vielleicht dumme Fragen gestellt... vielleicht nicht ihm gegenüber, aber gestellt hätten sie sie wohl. Und: der Iunius war kein einfacher Miles mehr, wenn sie ihren Leibwächter vorhin richtig verstanden hatte. Sie wusste nicht genau, wie viele Optiones die Garde in ihren Reihen hatte, aber allzu viele konnten es nicht sein – was die Auswahl derjenigen, die ihr Mann schicken konnte, einschränkte. Und dass er ihr keinen einfachen Miles schicken würde, fand sie nun wieder ziemlich selbstverständlich. „Ich hoffe, daraus wird nicht die Regel. Dass wir uns immer unter solch ungewöhnlichen Umständen treffen.“ Ein leichtes Lächeln huschte über ihre Lippen, dann nahm sie sich mehr von den Speisen – neben Oliven gab es Brot, gebratenes Huhn, gefüllte Eier und noch ein paar andere Dinge. „Wenn ich meinen Leibwächter vorhin richtig verstanden habe, bist du inzwischen Optio. Meinen Glückwunsch dazu... hast du dich mittlerweile an Roms Gesellschaftsleben gewöhnen können?“

    Seiana nickte leicht. „Wenigstens das ist ein Punkt, um den sich mein Mann keine Sorgen machen muss. Für meine Sicherheit hier ist gesorgt, das kannst du ihm ausrichten. Du kannst später auch gerne noch mit den Männern sprechen, wenn du möchtest“, bot sie an. Auch wenn sie selbst das nicht für nötig hielt, weil sie durchaus in der Lage war, für sich, ihre Sicherheit und ihr Wohlergehen zu sorgen – immerhin hatte sie das jahrelang selbst getan, ohne sonderliche Unterstützung ihrer Familie, weil sie zuerst in Ägypten und später dann außer ihr kaum einer in Rom gewesen war –, aber sie würde dem Iunius ganz sicher keine Steine in den Weg legen. Nicht bei diesem Auftrag, jedenfalls.


    Sie trank einen Schluck ihres Wassers, und als sich das Schweigen ausbreitete, ergriff der Iunius wieder das Wort – und brachte sie dazu, ihre Lippen zu einem angedeuteten Lächeln zu verziehen. „Ich weiß nicht, ob du ihn überzeugen kannst... aber ich wäre dir auch schon für den Versuch verbunden.“ Auch wenn sie nicht vorhatte, sich nur darauf zu verlassen. Sie würde jemanden nach Rom schicken... jemanden, der danach dann offen mit ihr reden würde, wirklich offen. Und je nachdem was sie von diesem hörte, würde sie ihre Entscheidung treffen. Warum war sie eigentlich nicht schon früher auf diesen Gedanken gekommen? … Ach ja richtig. Weil sie sich ihren Grübeleilen, dem Selbstmitleid und dem Alkohol hingegeben hatte.
    Gleich darauf wurde sie ernster. „Das hoffe ich auch...“ Und dann kam er erneut auf Rom und die Lage dort zu sprechen. Seiana musterte ihn eingehend, innerlich teils überrascht, teils misstrauisch. Sie wusste nicht so recht einzuordnen, dass er nun doch wieder davon anfing. Wollte er etwa sie aushorchen? Nur: warum? Um es an wen weiter zu geben? Ihren Mann vielleicht... allerdings: er und sie mochten nicht das herzlichste Verhältnis zueinander haben, und nach wie vor galt, dass sie sich zu wenig kannten, zumindest für ihren Geschmack, um eine Ehe zu führen, die nicht von diversen unbeholfenen und distanzierten Momenten geprägt war. Oder vielleicht wollte er das auch gar nicht anders haben, das konnte auch sein. In jedem Fall jedoch konnten sie über solche Dinge durchaus reden, wenn er denn Zeit hatte. Natürlich war sie ihm gegenüber nicht so offen wie beispielsweise bei manchen ihrer Mitarbeiter – das galt für den Iunius allerdings eher noch mehr.


    „Ich-“, begann sie, nur um sich zu unterbrechen, als sich die Tür öffnete und nun einige Sklaven begannen, das Essen aufzutragen – kein übermäßig opulentes Mahl, sondern eher eine Ansammlung von leichteren Speisen, wie es ihrem Geschmack entsprach. „Bitte, bedien dich“, lächelte sie. „Noch etwas zu trinken?“ Sie wartete, bis der Iunius wieder eingeschenkt bekommen hatte und die Sklaven sich dann auf ihren Wink hin zurückzogen und sie wieder allein ließen, bevor sie sich räusperte. Natürlich war es auch für sie nicht ungefährlich, so mit ihm zu reden, aber letztlich ging er das größere Risiko ein. „Ich glaube, im Moment weiß niemand wie es weiter gehen wird. Auch der Vescularius nicht. Oder mein Mann.“ Sie nahm sich ein paar Oliven, ohne allerdings davon zu essen, überlegte, was sie sagen, wie sie es formulieren sollte. „Wie schon gesagt: im Moment können wir nicht viel mehr tun als zu warten. Darauf, wer wie reagiert, wer welche Schritte unternimmt. Wer die Truppen mit der größten Schlagkraft hinter sich versammeln kann.“ Sie musterte ihn, und nun wurde auch ihre Stimme deutlich leiser. „Ich bin mir sicher, mein Mann wird die richtige Entscheidung treffen...“ Die Frage war nur: was verstand man unter der richtigen Entscheidung. Die ehrenhafte? Also nach den wahren Mördern des Kaisers suchen, um jeden Preis, und diese zur Rechenschaft zu ziehen? Oder die risikoärmste? Den zu unterstützen, den man für den Stärksten hielt, für jenen mit den meisten Aussichten zu triumphieren? Seiana wusste, für was sich ihr Mann entscheiden würde – aber sie wusste nicht, wie der Iunius das sah. Gerade jene, die in ihrer Karriere noch nicht so weit fortgeschritten waren, herrschte eine teils naive Auffassung von Ehre. Sie wusste das, sie hatte ja früher selbst so gedacht, hatte so viel auf Ehre gegeben und auf den Familienstolz... aber das Leben lehrte einen, das andere Dinge wichtiger waren, und die Lektionen waren bitter gewesen.

    Seiana musste ebenfalls schmunzeln und verbarg es nur unzureichend, indem sie kurz leicht nach unten sah. Vorausgesetzt, die Plünderer wussten, wessen Frau hier zur Zeit war, stimmte wohl was der Iunius sagte. Aber auch ein Landgut der Decimer ausrauben zu wollen, mit all dem Reichtum und den Militärverbindungen, die die Familie hatte, war nicht gerade das Klügste, was ein üblicher Plünderer wagen konnte. Sie kommentierte das allerdings nicht weiter, horchte aber auf, als er nun doch noch einmal etwas zu Rom sagte. Unregelmäßigkeiten. Das Stocken in seinen Worten ließ sie dabei schon nichts Gutes ahnen, und dann sprach er von Aufständen und hartem Durchgreifen. „Nun, so lange es geholfen hat... so lange die Menschen etwas zu essen bekommen und einigermaßen sicher sind, sollte es wohl möglich sein die öffentliche Ruhe wahren zu können. So lange nichts anderes passiert.“


    Bei seinen nächsten Worten sah sie ihn beinahe überrascht an. „Sicher? Natürlich fühle ich mich sicher hier, Iunius.“ Sie machte eine vage Geste, die nach draußen weisen sollte. „Wir befinden uns weit genug außerhalb Roms. Klienten meiner Familie sind da, um mich zu schützen. Ich habe zwei Leibwächter. Es ist nicht nötig, dass wegen mir noch weitere aus Rom abgezogen werden.“ Sie lächelte, diesmal aufrichtig. „Ich danke dir für deine Sorge, aber... meine Sicherheit ist das Letzte, worum ich mir hier Gedanken mache.“

    Seiana lächelte zuerst noch, aber als der Iunius weiter sprach, wusste sie nicht so recht, wie sie reagieren sollte. Es sollte sie nicht wundern, dass ihr anzumerken war wie wenig sie hier sein wollte... dennoch erschreckte es sie fast ein bisschen, dass sie so leicht zu durchschauen war in dieser Sache. Ihr Lächeln verblasste ein wenig. „Ja, ich... sonderlich gerne bin ich nicht hier“, gestand sie in einem Anflug von Offenheit ein. Und musste sich gleich darauf wieder vor Augen führen lassen, dass sie im Grunde ein Luxusproblem hatte. Andere wären froh darum, hier zu sein, außerhalb Roms... und sie wollte zurück. „Ich dachte, die Lage hat sich beruhigt...“ erwiderte sie jedoch. „Hier zumindest hat es noch keine Probleme gegeben. Ein paar Klienten meiner Verwandten, Veteranen von deren Einheiten, sind auf dem Gut hier und sorgen für den Schutz... es gab ein paar Berichte von kleineren Gehöften in der Gegend, die überfallen wurden, aber hierher haben sich die Plünderer nicht getraut“, erzählte sie nun von sich aus etwas, was er dann vielleicht berichten konnte. Wenn ihr Mann schon jemanden herschickte mit dem Grund – oder dem Vorwand, je nachdem –, er mache sich Sorgen um sie, dann sollte er auch etwas erfahren. Vorzugsweise allerdings nicht, wie sie sich in den ersten Tagen hier hatte gehen lassen... „Es bleibt wohl nichts außer abzuwarten, was sich in den nächsten Wochen ergibt.“

    Ihr fiel durchaus auf, dass der Iunius keinen weiteren Kommentar abgab zu dem, was in Rom vorging und was möglicherweise passieren würde. Und sie nahm es ein wenig unwillig zur Kenntnis... zum einen war ihr Informationsdurst bei weitem noch nicht gestillt – zum anderen sehnte sie sich danach, mit jemandem reden zu können. Erst jetzt, wo sie wenigstens ansatzweise die Gelegenheit dazu gehabt hatte, merkte sie wie sehr sie sich danach sehnte. Wirklich zu reden, nicht die üblichen Gespräche, die man mit Sklaven eben so führte, sondern sich zu unterhalten, über Politik, über die aktuellen Ereignisse, darüber was wahrscheinlich war und was nicht, wie es weiter gehen konnte, welche Männer sich wie in Position brachten... Natürlich war das im Augenblick besonders interessant, aber es hätte ihr so oder so gefehlt. In Rom hatte sie immer ihre Gesprächspartner, vor allem natürlich in der Acta, und diese Diskussionen fehlten ihr genauso wie ihre Arbeit. Ob der Iunius nun zu wenig Ahnung von Politik hatte oder ob es seinen zuvor geäußerten Befürchtungen geschuldet war, darüber war Seiana sich nicht ganz sicher – fest stand jedoch, dass er sich nicht auf eine weitere Diskussion einließ. Und sie begann bereits zu merken, wie sie wieder in jenen absolut unterforderten Geisteszustand abzusinken begann, in dem sie die letzten Tage schon verbracht hatte.


    Immerhin äußerte er sich am Schluss dann doch noch. Und bewies, zumindest den Worten nach, Loyalität zu ihrem Mann. Rechtmäßiger Nachfolger und Praefectus Urbi schienen für den Iunius eine untergeordnete Rolle zu spielen, und das immerhin war doch eine positive Nachricht, eine, die auch ihren Mann interessieren dürfte: dass der Iunius ihm folgen würde in seiner Entscheidung. Sofern er diese Worte ehrlich meinte und sie nicht nur ausgesprochen hatte in dem Wissen, wer ihm gegenüber saß. „Ich bin überzeugt, dass auch er noch anderes vorhaben wird“, erwiderte sie, und ließ ihren Tonfall bewusst ein weiteres Mal noch ein Stückchen leichter klingen. Es schien fast, als sei der ernsthafte Part ihrer Diskussion schon an seinem Ende angekommen, in jedem Fall interpretierte Seiana die vorige Schweigsamkeit des Iunius so. Sie warf einen kurzen Blick zur Tür, wo sich allerdings noch nichts rührte. „Das Essen kann nicht mehr lang dauern... nun, hast du vielleicht noch Fragen an mich? Nicht dass mein Mann am Ende unzufrieden mit dir ist, wenn du nach Rom zurückkehrst.“

    Er ging darauf ein, mit ihr zu diskutieren... anstatt ihr über den Mund zu fahren. Wäre das Thema nicht so ernst gewesen, Seiana hätte gelächelt, so allerdings blieb ihre Miene ernst. „Du hast Recht. Nichts davon sollte diesen Raum verlassen.“ Sie vertraute ihren Sklaven hier... nur der Iunius war eine Variable, allerdings eine, die immer fester zu werden schien. „Was den Praefectus Urbi betrifft: wer würde nicht versuchen seine Macht zu sichern? Jeder in seiner Situation würde genauso handeln. Um genau zu sein: jeder Statthalter, der sich Hoffnungen auf den Thron macht, wird genauso handeln. Sie alle werden versuchen, ihre Widersacher auszuschalten... der Praefectus Urbi mag im Augenblick die besten Chancen haben, aber es gibt zu viele... die ihm nicht wohlgesonnen sind“, formulierte sie dann doch vorsichtig, anstatt das Wort Feinde zu benutzen. „Es ist nicht wie damals, als Divus Iulianus gestorben ist. Diesmal...“ Sie ließ den Satz unvollendet und starrte für einen Augenblick mit zusammengepressten Lippen zum Fenster hinaus. Damals war alles klar gewesen. Es hatte überhaupt nicht zur Debatte gestanden, wer Iulianus' Nachfolger werden würde. Aber jetzt? Sowohl Kaiser als auch Sohn tot? Und dem Vescularius in Rom an der Macht – der zwar viele seiner Günstlinge auf wichtige Posten gehievt hatte, um ganze Scharen zu haben, die ihn tatkräftig unterstützen konnten... der sich aber mindestens genauso viele Feinde gemacht hatte unter ebenfalls mächtigen Personen? Das konnte doch nur in einem Bürgerkrieg enden.
    Bevor sie allerdings weiter darüber grübeln oder gar laut etwas äußern konnte, sagte der Iunius etwas, das ihr für einen Moment die Sprache verschlug. Der Vescularius hatte seiner Cousine etwas angetan? Seianas Augen verengten sich ganz leicht... aber sie fragte nicht nach. Obwohl es sie interessierte, was ihre Lectrix mit dem Praefectus Urbi zu schaffen hatte: es ging sie nichts an. Und wo der Iunius vielleicht in Bezug auf die Garde leichte Indiskretionen bewiesen hatte, würde er das ganz sicher nicht bei seiner Familie tun, nicht so wie sie ihn einschätzte. Sie hatte nicht vergessen, weswegen er sie auf dem Markt angesprochen hatte... er hatte die Tatsache, dass er Prätorianer war, zurückgestellt, zugunsten seiner Familie. Er würde ihr nichts erzählen, nicht in dieser Hinsicht, da war sie sich sicher. Aber dass er sogar so weit ging zu sagen, dass er als Faustpfand diente... deutete darauf hin, dass es sich hier nicht um eine Kleinigkeit handelte. Auch wenn Seiana sich im Augenblick nicht vorstellen konnte, was das sein mochte, welches Interesse der Praefectus Urbi an der Iunia hegen mochte, dass so weit ging, dass sogar ihr Cousin dafür herhalten musste. Und trotzdem war er scheinbar entschlossen, dem Mann weiter zu dienen, so lange seine Befehle so lauteten. „Nun... sie ist jetzt mit dem a memoria verheiratet. Ich denke dieser wird sie ebenfalls schützen können.“ Sie trank einen Schluck Wasser. „Eines haben wir allerdings gemeinsam. Die Frage, die sich uns beiden stellt ist: wen wird mein Mann unterstützen, sollten tatsächlich mehrere den Thron für sich beanspruchen“, stellte sie ruhig fest – und sogar mit einem leichten Lächeln.

    Irrte sie sich, oder zeigte der Iunius die Andeutung eines Lächelns? So oder so: er wirkte nun wieder entspannter, also hatte sie wohl den richtigen Ton getroffen. Was sie aufrichtig freute, mehr als üblicherweise, wenn ihr das in einem ähnlich gearteten Gespräch gelang. Sie neigte ganz leicht ihren Kopf als Reaktion, sagte aber sonst nichts mehr zu dem Thema. Es gab Dinge, die einfach erst mal sacken mussten... und vielleicht konnte sie tatsächlich Vertrauen aufbauen, falls sie sich öfter sahen. Vielleicht... konnte sie ihn sogar bitten, ein Auge auf ihren Bruder zu haben, falls dieser wieder zurückkam. Nein. Nicht falls. Wenn, verbesserte sie sich in Gedanken. Faustus musste zurück kommen, das stand außer Frage. Für sie, jedenfalls. Und wenn wieder da war, würde sie sich wohler fühlen wenn sie wüsste, dass da jemand um ihren Bruder war, dem sie vertrauen konnte.


    „Das Problem ist, dass der Princeps noch nicht einmal seinen eigenen Sohn als Nachfolger eingesetzt hat.“ So klar war also noch nicht einmal, dass Maioranus die Nachfolge seines Vaters hätte antreten sollen, auch wenn das freilich anzunehmen war. „Ich gehe zwar davon aus, dass Maioranus im Testament als solcher genannt wird... aber wenn der Kaiser es zu seinen Lebzeiten nicht für nötig gehalten hat, ein Wort zur Thronfolge zu verlieren, bezweifle ich, dass er für den Fall vorgesorgt hat, dass auch sein Sohn stirbt.“ Sie atmete tief ein und überlegte, wie weit sie sich vor dem Iunius in Spekulationen ergehen konnte. Allerdings: er war in Vorleistung getreten. Wenn sie wollte, dass er ihr vertraute, musste sie das auch umgekehrt. Quid pro quo... und davon abgesehen war es ja nicht so, dass sie etwas Handfestes wüsste. Es waren nur Annahmen, Überlegungen, Möglichkeiten. Freilich darunter auch solche, die sie in Schwierigkeiten bringen konnten, wenn sie an die falschen Ohren gerieten. „Ein Machtvakuum in einem solchen Fall bedeutet Bürgerkrieg. Es wird mit Sicherheit mehr als einen geben, der sich befähigt sieht die Nachfolge anzutreten... und der Meinung ist genügend Truppen aufzubringen, um sich durchzusetzen.“ Versonnen starrte sie vor sich hin. „Und es wird kein Zufall sein, dass der Praefectus Urbi einige seiner größten Kritiker im Senat hat festsetzen lassen“, murmelte sie, wohl wissend, dass sie sich dem Iunius gegenüber damit weit aus dem Fenster lehnte. Sie ließ damit sowohl verlauten, dass sie Zweifel an der Verschwörungstheorie hatte – obwohl diese freilich nicht abstrus war –, als auch daran, ob der Vescularius sich die richtigen geschnappt hatte, wenn sie denn stimmte... und dass sie davon ausging, dass er die Macht für sich sichern wollte.

    Seiana presste um eine Winzigkeit ihre Lippen fester aufeinander. Die Anspannung des Iunius war zu spüren, und sie konnte sogar bis zu einem gewissen Grad verstehen, dass er sich unwohl fühlte. Er schien sogar irgendwie wütend zu werden. Und als er endete, bekam Seiana beinahe ein schlechtes Gewissen... aber nur beinahe. Es tat ihr zu gut, endlich wieder mit jemandem reden zu können der wusste, was vorging, der ihr Neuigkeiten erzählen konnte, die sie aufnahm wie ein Schwamm das Wasser. Aber sie hatte Verständnis – und Erfahrung – genug, um über seine Befürchtungen nicht einfach hinweg zu gehen oder sie gar als nichtig abzutun. „Iunius“, begann sie mit einer ruhigen Klarstellung. „Ich bin nicht nur die Frau des Praefecten, ich bin auch die Schwester eines eurer Tribune. Aber was viel wichtiger ist: ich bin Auctrix. Und ich habe noch nie jemanden verraten, der mir etwas im Vertrauen erzählt hat.“ Sonst würde ihr oder ihren Leuten kaum jemand etwas erzählen. „Ich danke dir. Und ich werde dich ganz sicher nicht in Schwierigkeiten bringen.“ Sowohl in ihrem Blick als auch in ihrer Stimme lag Aufrichtigkeit. Ganz im Gegenteil konnte sie ihn sogar positiv ihrem Mann – und ihrem Bruder – gegenüber erwähnen, und das war etwas, was keiner seiner Kameraden hatte. Sie erwähnte diese Tatsache nicht... sie wollte das nicht als Tauschgeschäft da stehen lassen, und auch nicht den Eindruck erwecken, dass sie negativ über ihn reden würde, wenn er nicht mit ihr sprach. Letzteres würde sie so oder so nicht tun, so lange er sich nicht daneben benahm, hieß das, und ersteres... nun, es war ein Tauschgeschäft. Das war es immer. Eine Hand wusch die andere... aber das würde sie so tun, ohne es vorher als Druck- oder Bestechungsmittel einzusetzen. Sie wollte, dass der Iunius ihr vertraute. Es weit angenehmer und effektiver auf dieser Basis mit ihm zu sprechen. Und ihr lag auch persönlich daran, dass er ihr vertraute, auch wenn sie sich das ungern eingestand. Wie schon damals auf dem Markt stellte sie auch nun fest, dass seine Gesellschaft angenehm war, und sie... nun ja. Sie mochte ihn. Genug, dass sie wollte, dass er das erwiderte.


    Sie hoffte nur, dass ihn diese Worte tatsächlich beruhigten, und dass sie halfen, so etwas wie eine Vertrauensbasis herzustellen... spätestens dann, wenn er feststellte, dass sie tatsächlich ihr Wort gehalten hatte. Und damit war es dann so weit, sich mit dem Inhalt dessen zu beschäftigen, was er gesagt hatte. Vinicii, Flavii, Tiberii. Tatsächlich große Namen... zwei davon patrizisch, und der dritte von einem, der sich bei den letzten Wahlen massiv gegen den Praefectus Urbi positioniert hatte. Nur gegen diesen, wohlgemerkt, nicht gegen den Kaiser... Sie wüsste gerne, ob das die einzigen Verdachtsmomente waren, oder ob der Vescularius tatsächlich mehr in der Hand hatte – aber sie wollte den Bogen beim Iunius auch nicht überspannen... und davon abgesehen war ohnehin zweifelhaft, ob ihr Mann und der Praefectus Urbi ihre Männer tatsächlich derartig einweihten. Nachdenklich rieb sie sich über das Kinn. „Es bleibt zu hoffen, dass die Ruhe in Rom andauert... aber es dürfte schwierig werden. Je schneller das Testament geöffnet und ein Nachfolger bestimmt wird, desto besser...“, lenkte sie das Gespräch nun wieder ein wenig fort von den heiklen Nachfragen, und bot dem Iunius so die Gelegenheit, sich wieder allgemein zur Lage in Rom zu äußern.

    Seiana runzelte leicht die Stirn, als er nun doch nicht mehr weiter sprach... und jetzt war sie es, die sich leicht nach vorne neigte. „Iunius, glaubst du es lässt sich geheim halten, wer in euren Carcern sitzt? Glaubst du, ich könnte das nicht herausfinden?“ Seiana war sich nicht so sicher, ob ihr Mann ihr tatsächlich auf all diese Fragen antworten würde... aber sie war ja nicht nur die Frau des Praefectus Praetorio. Sie war vor allem und in erster Linie Auctrix. Und gerade wenn es sich um bekannte Gesichter des Senats handelte, wie er noch anmerkte, würde es wohl nicht allzu schwer sein herauszufinden, wen es getroffen hatte. „Es wird nur länger dauern, bis ich Antworten bekomme, wenn du es mir nicht sagst. Aber es wird nicht verhindern, dass ich sie bekomme.“ Sie brauchte Informationen. Sie wollte sich ein Bild machen können, ein möglichst vollständiges, von all den Ereignissen, wollte die Teilchen sehen und sie zusammensetzen und trennen und neu zusammensetzen... und dafür brauchte sie Informationen. Denn im Moment hatte sie noch viel zu wenig Teilchen, um daraus auch nur annähernd ein vernünftiges Bild zu bekommen. „Ich werde nichts davon weiter sagen, wenn es das ist, was dich beunruhigt. Nichts, was nicht auch aus anderer Hand zu erfahren ist.“

    Ihre Worte schienen gewirkt zu haben. Zuerst antwortete er zwar gar nicht, aber als die Sklaven weg waren, neigte er sich zu ihr – und was er sagte, ließ einen Schauer über ihren Rücken rieseln. Sie wurde noch ein wenig bleicher als sie ohnehin schon gerade war. „Senatoren haben sich zusammengetan und verschworen, den Kaiser zu töten?“ Dass es jemand mit Macht und Einfluss gewesen sein musste, war klar, aber was hatten denn Senatoren davon? Und wie waren sie überhaupt an den Kaiser gekommen, wo dieser doch seit mittlerweile Jahren schon massiv abgeschirmt war – und der Praefectus Urbi so ziemlich der einzige, der problemlos zu ihm kommen konnte? Natürlich gab es immer Mittel und Wege, an den Prätorianern vorbei zu kommen, wenn man nur suchte oder die richtigen Leute kannte...


    Seiana musterte den Iunius besorgt. Das ließ so viele Fragen offen... und wenn das so blieb, würde es dauern, bis Rom und das Reich wieder zur Ruhe kam. „Welche Senatoren, und warum sind sie verdächtig?“ hakte sie nach. Sie musste unbedingt wieder nach Rom, um sich ein eigenes Bild machen zu können. Oder wenigstens einen Boten hinschicken, der mit ihren Mitarbeitern in der Acta Kontakt aufnahm und ihr deren Berichte brachte. „Wurde das Testament schon geöffnet?“