Sie war allein. Die Parentalia waren eigentlich ein Familienfest, für die Verstorbenen, aber mit den Lebenden. Dennoch war sie allein. Seiana stand vor dem Hausaltar, reglos, mit verschränkten Armen, und atmete den Geruch der glühenden Weihrauchkörner ein, die sie entzündet hatte. Mattiacus, der einzige ihrer näheren Verwandten, der mit ihr in Rom war, und der einzige, der in dieser Casa lebte, sah sie herzlich selten. Sie hatte mittlerweile so viel zu tun, dass sie es häufig noch nicht einmal schaffte, die normalen Essenszeiten einzuhalten. Und diese waren bereits seit längerem die einzigen Gelegenheiten, bei denen es eine Chance gab, Mattiacus zu treffen, wenn sie nicht gerade explizit nach ihm suchte. Und Verus... Verus. Nun, der stand auf einem völlig anderen Papyrus. Sie würde ihm noch schreiben müssen, dachte sie, aber das war etwas, was sie augenblicklich noch aufschob. So konsequent sie normalerweise vorging, gab es doch Taten, die wohl überdacht sein mussten, noch mehr als sonst. Die Mitteilung, die ihr vorschwebte, die Worte, die sie Verus mitzuteilen gedachte, gehörten zu jenen Taten. Noch dazu, da sie gedachte diese Worte eben zu verschriftlichen. Sie würden mehr wirken, auf diese Art. Aber sie würden auch nicht einfach verhallen, würden nicht mehr zurückgenommen werden können.
Sie war allein. Selten wurde ihr das so schmerzlich bewusst wie an diesen Tagen. Selten brannte die Erinnerung an die, die sie verloren hatte, so stark in ihr – selten ließ sie zu, dass sie überhaupt zu brennen vermochte. Es war leichter, damit umzugehen, wenn sie die Gedanken an ihre Familie einfach in Kälte erstickte. Ihre Eltern, ihre Brüder... Alle waren sie tot, alle außer Faustus. Und der war in Aegyptus. Augenblicke lang erlaubte sie sich, ihre Gedanken schweifen zu lassen, hin zu ihrem jüngeren Bruder. Stellte sich vor, was er wohl gerade tat. Und wünschte sich, er wäre hier. Die einzige Gesellschaft, die sie selbst in Momenten wie diesen ertragen konnte, wenn sie derartiger Stimmung war. Nicht einmal Elena hatte sie dann in ihrer Gegenwart ausgehalten. Allerdings, Elena hatte sie sowieso zunehmend schwerer ertragen. Nicht, weil sie aufgehört hätten befreundet zu sein... aber sie hatten sich mehr und mehr in eine unterschiedliche Richtung entwickelt. Oder, was exakter war: Seiana hatte sich in eine andere Richtung entwickelt. Wo die Decima sich mehr und mehr verschloss und abkühlte, blieb die Sklavin so emotional und offenherzig wie eh und je. Selbst der Verlust Katanders, unter dem Elena sehr gelitten hatte, und sein noch immer ungewisses Schicksal hatten nicht dazu geführt, dass sich daran etwas geändert hätte. Und Seiana war das irgendwann zu viel geworden. Das war mehr Gefühl, mehr offen gelebte Emotion, mehr offensiv gezeigte Zuneigung – auch ihr selbst gegenüber – als sie ertragen konnte. Und so hatte sie Elena schließlich wieder nach Hispania zurück geschickt. Beileibe nicht gegen ihren Willen, vielmehr hatte sie sie darum gebeten, und Elena, die natürlich die Veränderungen gespürt hatte, hatte sich nicht lange bitten lassen. Dazu kam, dass sie auch froh gewesen war, Rom den Rücken kehren zu können. Sie war Iberin mit Leib und Seele. Sie liebte Hispania. Und in Rom gab es zu viele Orte, die sie an Katander erinnerten, mit dem sie auf eine Art glücklich gewesen war, die Seiana für sich selbst schon längst als unerreichbar abgehakt hatte – von der sie nicht einmal geglaubt hätte, dass sie existieren könnte, hätte sie es nicht eben bei den erlebt.
Ja, sie wünschte sich, Faustus wäre hier. Der einzige Grund, warum sie die Götter nicht um seine Rückkehr bat, lag in ihrer Überzeugung, dass er glücklich war bei der Legio in Aegyptus. So glücklich ein Mann sein konnte, wenn er gerade auf einem Feldzug war. Und so sehr sie sich wünschte, ihn hier zu haben, so wenig konnte sie das fordern, wenn es nur um sie ging. Seiana unterdrückte ein Seufzen und rieb sich über ihre Stirn. Der Weihrauchgeruch setzte ihr langsam zu – aber sie stand auch schon lang genug hier. Sie hatte heute noch anderes vor. Mit bedächtigen Bewegungen verteilte sie Brot, Salz und Wein, stellte auch einen der Kränze bereit, die sie hatte anfertigen lassen – die übrigen waren im Haus aufgestellt –, richtete sich dann auf und wandte sich um, um das Opfer am Grabmal ihrer Familie vorzubereiten.