Es war einer dieser Tage. Einer von jenen, an denen man schon beim Aufwachen spürte, dass es wohl besser wäre einfach im Bett liegen zu bleiben. An denen man wusste, dass es zu viel sein würde – ganz gleich was die Götter einem an diesem Tag entgegen werfen würden. Es war einer der seltenen Tage, an denen sogar Seiana sich in der Früh gewünscht hatte, sie könnte sich die Muße erlauben, einfach ein wenig länger liegen zu bleiben, sich auszuruhen, sich zu entspannen. Und den Rest des Tags in genau derselben Manier zu verbringen, nicht zwingend im Bett, aber zwingend mit Dingen, die ihr gefielen. Ein ausgedehntes Bad nehmen. Sich anschließend massieren lassen. In Ruhe lesen. Die ganzen letzten Wochen waren schon so stressig gewesen. Gut, Stress gehörte zu ihrem Alltag mittlerweile so sehr dazu wie der beinahe tägliche Weg zum Acta-Gebäude, oder der abendliche Kurzbericht über ihre Betriebe, den sie stets vorbereiten ließ und auf den sie nur in Ausnahmefällen verzichtete. Aber die letzten Wochen waren... nun, fast schon abartig gewesen, selbst für ihre Verhältnisse. Sie hatte Raghnall von der römischen Niederlassung ihres Buchladens inzwischen herausgeholt, hatte bisher allerdings noch keinen adäquaten Ersatz gefunden, weshalb die Geschäfte dort mehr oder weniger auf Eis lagen derzeit. Sowohl der Taberna medica als auch der Töpferei machte der Winter zu schaffen, weil Lieferungen sich verzögerten oder gar ausblieben aufgrund des Winters. Und der Fernhandel war derzeit nahezu ganz zum Erliegen gekommen. Dazu kam die Arbeit in der Acta, die ihr vor allem deshalb viel abverlangte, weil sie sich viel abverlangte, weil sie schlecht im Delegieren war, und weil sie gerne alles selbst kontrollierte. Sie konnte gar nicht alles kontrollieren – aber sie tat ihr Bestes. Und in letzter Zeit wurde es einfach... etwas viel.
An diesem Tag hatte sie das Gefühl, dass es tatsächlich überhand nahm. Sie hatte sich aufgerafft, in der Früh, hatte den Wunsch einfach mal Pause zu machen rigoros beiseite geschoben und war aufgestanden, hatte sich an die Arbeit gemacht, wie jeden Tag. Hatte sich zuerst um den decimischen Haushalt gekümmert, das, was in ihren Händen lag. Hatte sich damit beschäftigt, was sie in Hinblick auf ihre Betriebe unternehmen könnte, vor allem was den Buchladen betraf, aber auch die anderen. Neue Lieferanten, andere Lieferwege, Ersatzwaren – irgendetwas, womit sie die Lieferengpässe überbrücken könnte, die sie mittlerweile um den Schlaf brachten. Und dann hatte sie sich auf den Weg zur Acta gemacht, wo ein Stapel an Arbeit auf sie wartete, ein Stapel, der im Lauf des Tages selten wirklich geringer zu werden schien, weil immer etwas neues dazu kam. Berichte von Mitarbeitern, Zusammenfassungen von Recherchen, Vorschläge für neue Beiträge und noch nicht gelesene Artikel, aber auch hier galt es, ein Auge auf den Betrieb zu haben, der im Hintergrund ablief und der dafür sorgte, dass die Subauctoren arbeiten konnten – dazu die Anfragen, die zu bearbeiten waren, und die Kontaktpflege, die Seiana so wenig lag und die sie dennoch mittlerweile mustergültig absolvierte, weil sie sich dazu zwang, mit Spendern, Informanten, Einflussnehmern gleichermaßen. Und dann war sie nach Hause gekommen, ein wenig früher als sonst, weil sie einen Termin mit dem Iulius hatte, der Livianus in Germanien geschrieben hatte, um sich über sie zu beschweren. Und dieses Gespräch hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Seiana brodelte innerlich vor Wut. Sie hatte das Bedürfnis, irgendetwas gegen die Wand zu schmettern, und kämpfte dagegen an. Sie sehnte sich danach, sich abzureagieren, und rang zugleich doch um ihre Selbstbeherrschung. Und je verbissener sie sich selbst bekriegte, desto größer wurde der Drang, loszulassen. Sich gehen zu lassen.
Als sie ihre Räume betrat, war sie so weit, dass ihr ihre Wut deutlich anzusehen war, jedenfalls für die Menschen, die sie kannten. Und dieses Bedürfnis, irgendetwas zu tun, wurde nicht geringer, im Gegenteil. Ruhelos strich sie durch den Raum. Im Grunde hatte sie noch zu tun, aber im Moment hatte sie beim besten Willen nicht die nötige Beherrschung dafür, um sich nun einfach hinzusetzen und zu arbeiten. Und in diesem Moment kam Raghnall herein. Wie so häufig ohne überhaupt zu klopfen, öffnete er einfach die Tür, und als Seiana das Geräusch hörte, wirbelte sie herum und blitzte ihn wütend an. Und dann, plötzlich, fiel irgendetwas in ihrem Kopf an einen anderen Platz und gab den gedanklichen Blick frei auf etwas, was sie in der vergangenen Zeit lieber verdrängt hatte, als sich damit zu beschäftigen. Sei anders, hallte es in ihr. Löse dich. Sie musste nicht überlegen, um die Stimme zu identifizieren. Auch wenn sie es vorgezogen hatte, über jene Nacht nicht allzu intensiv nachzudenken, änderte das doch nichts daran, dass dieses Erlebnis für sie... nun, intensiv genug gewesen war, dass sie es auch nicht wirklich komplett verdrängen konnte. Die wenigen Male, an denen sie sich erlaubt hatte darüber nachzudenken, hatte sie sich auch eingestehen müssen, dass sie das wieder wollte. Sie hatte nur nicht wirklich eine Idee gehabt, wie sie das anstellen sollte, und dazu kam die Tatsache, dass ihr Verstand ihr nach wie vor einhämmerte, dass sie es nicht tun sollte, dass schon dieses eine Mal ein Fehler gewesen war. Jetzt allerdings, in diesem Moment, wo eine der größten Barrieren in ihrem Inneren, die sie aufgebaut hatte um sich selbst zu kontrollieren, ohnehin gerade nahezu komplett eingerissen war, hatte ihr Verstand nicht mehr den Einfluss, den er normalerweise hatte. Es war gleichgültig, ob es ein Fehler gewesen war – es war einer gewesen, den sie bereits gemacht hatte. Was sprach nun also dagegen, ihn zu wiederholen? Es ist das einzige, was dich den Dingen dieser Welt wirklich entrücken kann. Der Duccier hatte Recht gehabt mit dem, was er gesagt hatte. Er hatte verdammt noch mal Recht gehabt, und genau das – was er ihr bei ihrem Treffen versprochen und gleich darauf auch eingehalten hatte – war es, was sie jetzt wieder wollte. Den Dingen der Welt entrückt sein. Und Raghnall schien genau der Richtige zu sein. Sie kannte ihn lange genug um zu wissen, dass er, auf seine Art, vertrauenswürdig war, den Decimern und ihr loyal. Zugleich war es gerade seine Art, die ihn so... richtig machte. Sie wollte keinen gehorsamen Sklaven, der tat, was sie befahl. Sie wollte einen Mann, der das gleiche wollte. Sie brauchte einen Mann, der das gleiche wollte – und ab einem gewissen Punkt das Zepter in die Hand nahm, weil immer noch galt, dass sie nicht sonderlich viel Erfahrung hatte. Raghnall, davon ging sie aus, würde ihr das geben, was sie wollte. Und sie war sich ziemlich sicher, dass er später kein großes Aufhebens darum machen würde. Weit wahrscheinlicher war es, dass er einfach unverschämt zufrieden und von sich eingenommen sein würde. Und damit konnte sie umgehen, ganz im Gegensatz zu einem Verhalten, das unterwürfig, anbiedernd oder unsicher gewesen wäre.
Raghnall kam also in den Raum hinein. Seiana starrte ihn für einen Augenblick nur an. Zuerst nur wütend, über den Tag, über den Termin gerade, über Raghnalls Unverfrorenheit. Dann jedoch änderte sich ihr Gesichtsausdruck. Er verlor nicht an Heftigkeit, nicht einmal wirklich an Wut, aber es gesellte sich Entschlossenheit dazu – und bevor Raghnall hätte deuten können, welcher Art diese Entschlossenheit war, kam Seiana auf ihn zu und küsste ihn, mit derselben Heftigkeit und Entschlossenheit, die zuvor auf ihrem Gesicht zu lesen gewesen war. Einige Momente später allerdings löste sie sich wieder von ihm, trat einen Schritt zurück, noch einen weiteren. Sie sagte kein Wort, das musste sie auch nicht, ihr Blick war Aufforderung genug. Sie wollte, dass er kam, freiwillig.