Natürlich war auch die Hautevolee Mogontiacums, der sowohl Verus als auch Marsus angehörten, anwesend, um sich das 'Spektakel' anzusehen. Sowohl der Flamen als auch sein Vetter waren heute in der Funktion ihrer Ämter nicht an dieser Sache beteiligt, weshalb sie zusammen mit anderen Würdenträgern der Stadt etwas abseits der Menge standen und bloß als Zuschauer fungierten. Phelan hatte seine Tochter zwar erspäht, allerdings stand sie weiter weg und mit dem Rücken zu ihrem Vater, sodass sich ihre Blicke nicht kreuzen konnten.
Während der Tross zum stehen kam und die Gefangenen zu ihrer letzten Stätte gebracht wurden, verschränkte Verus seine Arme und beobachtete genau die Szenerie. Sein Vetter tat es ihm gleich. Sie tauschten mehrmals Blicke aus, ohne dazu ein Wort zu sagen. Es war ein denkwürdiger Tag, erinnerte er sich doch an die Anfänge seiner Familie, der Kinder Wolfriks, in Mogontiacum. Sie wurden behandelt als Menschen zweiter Klasse, als Emporkömmlinge. Missgunst und Neid begleiteten sie auf ihrem Weg nach oben in die höhere Gesellschaft des Reiches. Erst seit ein paar Jahren hatte sich die große Opposition zerschlagen und die Kinder Wolfriks konnten als die romanisierten Duccii ohne Vorurteile in ihren Ämtern für Rom schalten und walten. Wie bezeichnend, dass die germanischen Gefangenen, die sich gegen Rom gestellt und die Chance auf Teilhabe am Imperium vertan hatten, nun für ihre Ideale und Freiheit ihr Leben gaben.
Dass Idun, die vermeintliche Seherin, als erste bestraft werden sollte, verwunderte ihn nicht. Es sollte ein Exempel statuiert werden, dass Rom sich auch nicht vor einer Seherin, die vermutlich von den Göttern begleitet wurde, einschüchtern ließ. Im Rahmen der Romanisierung setzten die Römer ihre Justiz überall durch, wo ihre Sandalen den Boden trafen. Vor einiger Zeit hätte ihn dieser Akt der Bestrafung gegen eine Seherin seines Volkes noch aus der Fassung gebracht. Mittlerweile nahm er es einfach gleichgültig hin, ohne groß Emotionen zu zeigen. Erstaunlich, wie tief seine Zweifel an den Göttern - sowohl an den römischen als auch an den germanischen - und an sich selbst waren, sodass sich seine Einstellung bzgl. Religion rationalisiert hatte. Er strich sich mit einer Hand über seinen Bart und schaute rüber zu seinem Vetter. "Beachtlich, dass das Volk Mogontiacums kein Mitleid mit den Gefangenen zeigt." Vor vielen Jahren wäre das sicher noch anders gewesen, aber die Menschen hatten es gut in Mogontiacum, waren glücklich und zufrieden. Sie hatten sich angepasst, sie waren romanisiert.
Die Bestrafung viel hart für die Seherin aus, sodass Verus kurz seine Augenbrauen hob. Ob der hohen Anzahl der Peitschenhiebe war er durchaus überrascht. Der Centurio gab wirklich alles, um für Rom dieses Exempel zu statuieren. Die Worte die er wählte waren hingegen das Standart-Programm, also nichts Besonderes.
Was hingegen besonders war, war die Standhaftigkeit dieser Seherin. Sie nahm die Strafe hin und wurde nicht ohnmächtig, wie es so viele bei den extremen Schmerzen durch die schnellenden Peitschenhiebe wurden. Gerade wollte Verus seinen Vetter anstoßen, da merkte er, wie sich einige in der Menge hinknieten. Es war fast schon eine Gruppendynamik, die von einem Punkt in der Menge ausging. Der Flamen ließ seine Blicke streifen, wo war seine Tochter? Nach einigen Momenten hatte ihr Vater sie gefunden, sie kniete ebenfalls. Am liebsten wäre Verus die Kinnlade runtergefallen, aber er hielt sich zurück und nahm es hin, immerhin stand er hier zusammen mit anderen Würdenträgern. Das konnte doch wohl nicht ihr Ernst sein? Nachdem sie seinen Klienten Helvetius Curio geheiratet hatte, war es relativ ruhig um ihre Beziehung zu den germanischen Göttern geworden, sie hatte sich nach und nach ihrer Rolle als römische Ehefrau und Hausherrin angepasst. Doch jetzt zeigte sie wieder alte Tendenzen. Als Tochter des Flamen Divi Augusti und Frau eines angehenden Pontifex konnte sie sich doch nicht wirklich für diese germanische Hexe hinknien! Verus behielt die Fassung, das würde aber ein Nachspiel haben...