Er hatte nicht lange überlegen müssen, wo er das Konzept der Interpretatio Romana auf die Germanen hin ausgelegt finden konnte. In dem jüngst erschienenen Buch “De origine et situ Germanorum” des Tacitus. Jetzt hoffte er nur noch, dass es in der 'bescheidenen' Hausbibbliothek auch vorhanden war. Er konnte es sich kaum anders vorstellen, aber man wusste ja nie.
So ging er in die Bibliothek und fand auch schnell die Abschrift, die er gesucht hatte. Er begann zu lesen:
De origine et situ Germanorum
Germanien insgesamt ist von den Galliern, von den Rätern und Pannoniern durch Rhein und Donau, von den Sarmaten und Dakern durch wechselseitiges Mißtrauen oder Gebirgszüge geschieden. ...
Ja das war der Anfang. Nun erinnerte er sich recht am Anfang des Buches gab es doch zwei Abschnitte über die Religion: "Ah da ist es ja", sagte er zu sich selbst:
Von den Göttern verehren sie am meisten den Merkur; sie halten es für geboten, ihm an bestimmten Tagen auch Menschenopfer darzubringen. Herkules und Mars stimmen sie durch bestimmte Tiere gnädig. Ein Teil der Sueben opfert auch der Isis. Worin der fremde Kult seinen Grund und Ursprung hat, ist mir nicht recht bekannt geworden; immerhin beweist das Zeichen der Göttin – es sieht wie eine Barke aus –, daß der Kult auf dem Seewege gekommen ist. Im übrigen glauben die Germanen, daß es der Hoheit der Himmlischen nicht gemäß sei, Götter in Wände einzuschließen oder irgendwie der menschlichen Gestalt nachzubilden. Sie weihen ihnen Lichtungen und Haine, und mit göttlichen Namen benennen sie jenes geheimnisvolle Wesen, das sie nur in frommer Verehrung erblicken.Auf Vorzeichen und Losorakel achtet niemand so viel wie sie. Das Verfahren beim Losen ist einfach. Sie schneiden von einem fruchttragenden Baum einen Zweig ab und zerteilen ihn in kleine Stücke; diese machen sie durch Zeichen kenntlich und streuen sie planlos und wie es der Zufall will auf ein weißes Laken. Dann betet bei einer öffentlichen Befragung der Stammespriester, bei einer privaten der Hausvater zu den Göttern, hebt, gegen den Himmel blickend, nacheinander drei Zweigstücke auf und deutet sie nach den vorher eingeritzten Zeichen. Lautet das Ergebnis ungünstig, so findet am gleichen Tage keine Befragung mehr über denselben Gegenstand statt; lautet es jedoch günstig, so muß es noch durch Vorzeichen bestätigt werden. Und der verbreitete Brauch, Stimme und Flug von Vögeln zu befragen, ist auch hier bekannt; hingegen ist es eine germanische Besonderheit, auch auf Vorzeichen und Hinweise von Pferden zu achten. Auf Kosten der Allgemeinheit hält man in den erwähnten Hainen und Lichtungen Schimmel, die durch keinerlei Dienst für Sterbliche entweiht sind. Man spannt sie vor den heiligen Wagen; der Priester und der König oder das Oberhaupt des Stammes gehen neben ihnen und beobachten ihr Wiehern und Schnauben. Und keinem Zeichen schenkt man mehr Glauben, nicht etwa nur beim Volke: auch bei den Vornehmen, bei den Priestern; sich selbst halten sie nämlich nur für Diener der Götter, die Pferde hingegen für deren Vertraute. Sie beachten noch eine andere Art von Vorzeichen; hiermit suchen sie den Ausgang schwerer Kriege zu erkunden. Sie bringen auf irgendeine Weise einen Angehörigen des Stammes, mit dem sie Krieg führen, in ihre Gewalt und lassen ihn mit einem ausgewählten Manne des eigenen Volkes, jeden in den Waffen seiner Heimat, kämpfen. Der Sieg des einen oder anderen gilt als Vorentscheidung....
"Sehr gut, mal sehen was er dazu sagt.". Beim weiteren Stöbern schließlich fiel ihm noch eine dritte Stelle auf:
An die Markomannen und Quaden schließen sich weiter rückwärts die Marsigner, Kotiner, Oser und Burer an. Von ihnen geben sich die Marsigner und Burer durch Sprache und Lebensweise als Sueben zu erkennen. Bei den Kotinern beweist die gallische, bei den Osern die pannonische Mundart, daß sie keine Germanen sind, und überdies ertragen sie Abgaben: sie müssen sie als landfremde Stämme teils an die Sarmaten, teils an die Quaden entrichten. Die Kotiner fördern sogar Eisen, was sie noch verächtlicher macht. Alle diese Stämme haben nur wenig ebenes Gebiet; meist wohnen sie auf bewaldeten Höhen. Denn der Kamm einer fortlaufenden Gebirgskette teilt und durchschneidet das Suebenland. Jenseits des Kammes hausen noch zahlreiche Völkerschaften. Von ihnen haben sich die Lugier am weitesten ausgebreitet; sie gliedern sich in mehrere Einzelstämme. Es genügt, die bedeutendsten zu nennen: die Harier, Helvekonen, Manimer, Helisier und Naharnavaler. Bei den Naharnavalern zeigt man einen Hain, eine uralte Kultstätte. Vorsteher ist ein Priester in Frauentracht; die Gottheiten, so wird berichtet, könnte man in der Interpretatio Romana Kastor und Pollux nennen. Ihnen entsprechen sie in ihrem Wesen; sie heißen Alken. Es gibt keine Bildnisse; keine Spur weist auf einen fremden Ursprung des Kultes; gleichwohl verehrt man sie als Brüder, als Jünglinge. Im übrigen sind die Harier den soeben genannten Summen an Kräften überlegen. Ohnehin von schrecklichem Aussehen, kommen sie der angeborenen Wildheit durch Kunst und Ausnutzung der Zeit zu Hilfe. Schwarz sind die Schilde, gefärbt die Leiber; dunkle Nächte wählen sie zum Kampf, und schon das Grauenvolle und Schattenhafte ihres Totenheeres jagt Schrecken ein: kein Feind hält dem ungewohnten und gleichsam höllischen Anblick stand. Denn in jeder Schlacht erliegen ja zuerst die Augen.
Jetzt hatte er nur ein Problem: Er wollte diese Stellen seinem Schüler zum Lesen geben und von ihm erfahren, was er von der Beschreibung und von der Vorgehensweise der Interpretatio Romana denkt. Aber er würde ihm gewiss nicht das ganze Buch mitgeben. Also müsste man die entsprechenden Stellen abschreiben. Aber die Zeit hatte er nun wirklich nicht. Gerade als er dies gedacht hatte, fiel ihm ein, dass er nicht mehr in Aegyptus war, wo er alles selber machen musste. Es würde hier im Haus ja wohl einen Sklaven geben, der schreiben konnte. Ja – die stumme Sklavin Tilla kommunizierte ja immer schriftlich.
Also legte er die Schriftrolle auf einen Tisch in der Bibliothek und begann Tilla zu suchen. Er tat auf diese unnachahmlich liebenswürdige Weise, wie man einen Sklaven zu suchen pflegt. Er ging auf den Gang raus und sagte zu dem nächsten Sklaven, den er finden konnte: " Eheu, sorge dafür, dass Tilla zu mir in die Bibliothek kommt, sie soll auch gleich etwas zu schreiben mitbringen.". Und der Sklave tat, wie ihm befohlen.