Beiträge von Decima Flava

    Flava war froh, dass Orestes nicht nach ihrem Vater gefragt hatte. So ganz verstand sie die ganzen Umstände ja selber noch nicht, und sie da einem fremden Menschen – oder besser gesagt zwei – zu erklären, war schwierig. Insbesondere, da eigentlich niemand genau wusste, wo Decimus Livianus nun genau war.
    Von daher war es Flava sehr recht, dass ihr Lehrer gleich zum praktischen Teil überging und gleich mit der Lehre anfing. Die Aufgabe war auch nicht so schwierig, wie sie erwartet hatte. Wenn ihr Mitschüler nicht gleich mit ausgefallenen Gottheiten daherkam, würde sie wohl keine größeren Probleme haben. Sie selbst bemühte sich ebenfalls, es ihm weder zu leicht noch zu schwer zu machen. Immerhin sollte die Liste, wie sie es verstanden hatte, schnell und spontan geschrieben werden. Daher machte sich Flava auch gleich an die Arbeit.
    Die erste Gottheit, die ihr einfiel, war ganz klar Diana, also kam die auch als erstes auf ihre Tafel. Und auch sonst fielen Flava eher weibliche Gottheiten ein als männliche.


    Diana
    Apollo
    Epona
    Minerva
    Fortuna
    Aesculapius
    Bona Dea
    Ceres
    Faunus
    Flora



    Flava waren sicher noch mehr Götter eingefallen, und sie war schon versucht, heimlich einen der Götternamen noch gegen Iuppiter auszutauschen. Immerhin hatte Orestes vorhin noch erwähnt, er sei Priester des höchsten Gottes, und da war es fast schon ungebührlich, ihn nicht auf ihrer Liste zu finden. Aber wenn sie mit dem Handrücken das Wachs wieder plattgedrückt hätte, hätte ihr Lehrer das ganz bestimmt gemerkt und das hätte wohl ein noch schlechteres Licht auf das alles geworfen. Also übergab sie Verus die Tafel, so wie sie war, und nahm die seine entgegen.

    Flava strich leicht über die Schreibfeder und zuckte lächelnd mit den Schultern.
    Nun, ich wollte noch die Briefe fertig schreiben und mich dann ein wenig im Haus umsehen. Heute Abend hat uns Meridius ja zum Familienessen eingeladen, da will ich möglichst vorher schon die Gesichter auseinander halten können. Und natürlich muss ich auch angemessen dafür gekleidet sein.
    Sie wollte schließlich den besten Eindruck auf ihre neue Familie machen. Sie hoffte, das in der Schola würde bei ihrem Bruder nicht allzu lange dauern, sonst verspätete er sich noch zum Essen. Sie glaubte zwar nicht, dass das seinen Eindruck bei der Familie gleich ins Negative ziehen würde, aber es wäre zumindest kein optimaler Einstieg. Und Flava wollte doch so sehr, das alles klappte.
    Daher sollte sie sich auch an diesen Brief endlich machen, damit sie Meridius beim Abendessen auch gleich danach fragen konnte. Würde er ihn nicht mitnehmen, hätte sie ihn umsonst geschrieben. Aber wenn er sich bereit erklärte, wollte sie ihn schon fertig haben.

    Noch hatte Flava keine Zeit gehabt, die Tempel zu erkunden und zu besuchen. Und das, wo sie es sich eigentlich fest vorgenommen hatte. Aber mit der neuen Verwandtschaft hatte sie noch schwer zu tun, noch konnte sie nicht einschätzen, wer welches Verhalten schätzte und was von ihr erwartet wurde. Und schließlich wollte sie es sich nicht in ihrer ersten Woche gleich mit einem von ihnen verderben. Daher hatte sie sich eher bemüht, dort allen zu gefallen und ihre Stadtbesichtigung erst einmal hinten an gestellt. Doch da sich Duccius Verus so nett angeboten hatte, war jetzt eine willkommene Gelegenheit, das Nützliche mit dem Praktischen zu verbinden.
    Und natürlich war es auch eine schöne Gelegenheit, ihren Mitschüler ganz unverfänglich kennen zu lernen. Oft hatte sie nicht die Gelegenheit, mit jemandem spazieren zu gehen, der nicht zur Familie gehörte. Da gab es auch normalerweise soviel zu bedenken, immerhin konnte sie nicht von jedem dahergelaufenen Mann eine Einladung annehmen. Nun, sie war keine Patrizierin und damit doch in gewisser Weise freier als diese Frauen, aber natürlich galten auch für sie die Regeln des Anstandes und vor allem des Standes. Aber hier nun mit ihrem Mitschüler die Tempel zu besichtigen, das konnte einfach nicht unschicklich sein. Da würde sie niemand tadeln können, nicht einmal ihr Bruder.
    Sie besah sich die Tempel und staunte über die Architektur. In Britannia gab es solche Bauwerke nicht. Allein der Marmor, der hier verbaut worden war, musste ein Vermögen gekostet haben. Aber natürlich verdienten die Götter auch, dass man ihnen solch herrliche Tempel baute.
    Flava bemerkte nicht wirklich, dass ihr Stadtführer nervös war. Es war mehr eine Vermutung als ein wirkliches Wissen, aber sie ließ sich nichts anmerken. Wenn sie es sich nur einbilden würde, weil sie das unbewusst wünschte, wäre es sehr peinlich. Und wenn er wirklich nervös ihretwegen war, wäre es ebenfalls peinlich, ihn darauf anzusprechen. Also tat sie so, als hätte sie nicht den Hauch einer Ahnung und folgte Verus äußerlich ruhig zu dem Tempel des Mars Ultor, wie er ihr erzählte. Dann allerdings schaffte er es mit seiner Frage doch, sie ein wenig aus der Ruhe zu bringen. In Flavas Fall hieß das zwar, dass sie kurz überrascht schaute und nicht gleich antwortete, aber wenn er sie kennen würde, wüsste er, dass das schon sehr ungewöhnlich für sie war.
    Nun, ich hoffe, dass ich seinen Erwartungen gerecht werden kann. Ich möchte ihm ungern zur Last fallen, und noch weiß ich ja leider nicht ganz so viel. Ich hoffe, ich kann da mein Wissen noch schnell genug verbessern, um aufzuschließen.
    Flava überlegte, ob sie noch etwas zu ihrem Lehrer direkt sagen sollte. Aber etwas wie „Ich fand ihn nett“, klang in ihren Ohren einfach viel zu profan und auch zu gefühlsduselig. Und sie war sich auch nicht sicher, ob sie so etwas hier in aller Öffentlichkeit zu jemandem, den sie genau genommen kaum kannte, sagen durfte.

    Ihr Bruder zog sie an sich und Flava kuschelte sich leicht an ihn. Körperliche Nähe zu ihm beruhigte sie immer, sie wusste auch nicht so genau, warum. Aber umgekehrt wusste sie, dass es genauso der Fall war. Wenn Flavus tobte und wütete, reichte eine Berührung von ihr meist schon aus, um ihn zu beruhigen. Leicht lag ihr Kopf an seiner Brust, und sie hörte seinen ruhigen Herzschlag, der ihr so vertraut war wie ihr eigener. Sie musste aufpassen, dass sie nicht einschlafen würde, denn sie wollte ja den Brief heute auf alle Fälle noch schreiben, sobald Flavus in sein Zimmer gegangen wäre.


    Ja, das wirst du. Das hast du schon immer.


    Flava streichelte ein wenig verträumt über Flavus’ Seite und ließ sich einen Moment einfach in Gedanken versinken. Sie selbst dachte sich nichts dabei, aber nach einer Weile schaltete sich ihr Verstand wieder soweit ein, dass ihr wieder einfiel, was andere darüber dachten. Wenn ein Sklave oder ein Verwandter hereinplatzen würde, würden diese die Umarmung des Geschwisterpaares womöglich anders interpretieren. Also löste sich Flava von ihrem Bruder und setzte sich wieder auf. So war es sicherer für sie beide, auch wenn sie beide wussten, dass ihre Umarmungen unbedenklich waren.
    Flava stand auf und ging wieder zu ihrem Stuhl am Tisch. Sie sollte wirklich den Brief noch schreiben, solange sie dazu den Mut noch hatte. Wenn Flavus noch eine Weile auf sie da einreden würde, würde sie sich vielleicht doch nicht mehr trauen. Und wer wusste schon, ob Meridius diesen Brief dann überhaupt mitnehmen würde?
    Und hast du heute noch irgendwas geplant, Brüderchen?

    Ja, das würde dir wohl gefallen, was?
    Flava schaffte es nur kurz, eine beleidigte Miene aufzusetzen, dann musste sie ebenfalls lachen. Sie konnte sich schon gut vorstellen, dass ihrem Bruder das gar nicht mal so unrecht wäre, würde sie auf ewig unverheiratet und unberührt bleiben. Zwar war Flavus nicht im eigentlichen Sinne eifersüchtig, aber dennoch störte es ihn wohl, wenn jemand Flava auch als Frau wahrnahm. Sie hatte sich schon daran gewöhnt und kannte es ja nicht anders, aber in ihrem Alter noch nicht einmal einen Kuss bekommen zu haben war schon etwas, was sie von den meisten anderen ihrer Altersklasse unterschied. Manchmal übertrieb er in seinem Eifer, sie zu beschützen, so dass Flava sich schon gar nicht mehr anders zu helfen wusste, als ihn zu packen und festzuhalten, damit er sich wieder beruhigte.
    Sie hoffte ja, dass sich das legen würde. Als Tochter eines Senators war sie eigentlich eine zu gute Partie, um unverheiratet zu bleiben. Wenn ihr Vater nach seiner Rückkehr seine Position im Senat festigen wollte, konnte sie sich schon vorstellen, verheiratet zu werden. Wie ihr Bruder das ganze aufnehmen würde war aber eine andere Sache. Vermutlich würde er dann nur noch mehr toben, wenn ihr Vater sie für so etwas einsetzte. Aber Flava hatte es auch nicht so eilig damit, sich verheiraten zu lassen. Sie wollte erstmal nur Priesterin sein, das war genug. Ein Mann verkomplizierte das ganze nur, falls dieser nicht wünschte, dass sie das fortführte.
    Nein, ich möchte Diana dienen, wenn es geht. Natürlich wäre ich auch glücklich, in den Dienst jeder anderen Gottheit gestellt zu werden, aber wenn es möglich ist und ich wählen kann, dann wähle ich Diana. Ich hoffe, es wird alles so funktionieren, wie wir uns das Wünschen, Marcus. Das wäre so schön.
    Flava bekam diesen träumerischen Ausdruck in den Augen und legte sich einfach ruhig ins Bett. Sie wünschte sich so sehr, dass es klappen würde. Sie träumte schon so lange davon.

    Ich kann ja mitkommen, wenn du magst“, gab sie ihm lächelnd seine Bemerkung von vorhin wieder zurück.
    Dann lachte sie und legte sich neben ihn ins Bett. Da hatte sich Flava noch nie etwas dabei gedacht, mit ihrem Bruder in einem Bett zu liegen. Als sie klein war, war sie immer zu ihm ins Bett gekrochen und hatte sich im Schlaf an ihn gekuschelt. Und auch jetzt, wo sie an der Schwelle des Erwachsenseins stand, hatte sich an der Selbstverständlichkeit nicht viel verändert. Natürlich wusste sie, wie das für andere aussah und war daher sehr darauf bedacht, sich dabei nie erwischen zu lassen. Aber auch auf der Reise nach dem ein oder anderen Alptraum war sie zu ihrem Bruder gekommen und hatte sich an ihn gekuschelt, um wieder einschlafen zu können. Es war ihr Bruder, und sie fühlte sich bei ihm sicher, da gab es keine weiteren Hintergedanken.
    Sie stützte sich leicht auf einem Ellbogen auf, den Kopf in die Hand gestützt, und sah zu ihm herüber. Sie war ja so froh, dass er bei ihr war, sie konnte sich gar nicht vorstellen, von ihm getrennt zu sein. Wäre er in Britannia geblieben, sie wäre auch dort geblieben.
    “Dann muss ich dir auf jeden Fall die Daumen drücken. Am Kaiserhof hast du auf jeden Fall die besten Chancen überhaupt. Das wäre wundervoll, wenn du dort gleich einsteigen könntest.

    Gerne kam Flava der Aufforderung nach und setzte sich auf den angebotenen Stuhl, den Rücken gerade, den Blick nur leicht gesenkt, wie sie es gelernt hatte. Aufmerksam hörte sie den Vorstellungen beider Männer zu. Nachdem ihr Lehrer geendet hatte, was sie froh, dass Duccius Verus gleich das Wort ergriff und somit längeres Schweigen verhinderte. Sie wollte nicht vorlaut oder vorschnell erscheinen und hätte wahrscheinlich erst geschwiegen. So nun aber kam sie nicht in diese Verlegenheit und war darum dankbar.
    Während ihr Mitschüler sprach, hatte sie auch Gelegenheit, ihn zu mustern, ohne dass es ihr als Unhöflichkeit gegenüber dem Lehrer ausgelegt werden könnte. Sie fand die blonden Haare lustig, kannte sie sonst doch niemanden, der wirklich blond war. Leicht erwiderte sie sein Lächeln, aber nur ganz sanft und schicklich.
    Dass er offenbar schon beinahe fertig war mit seiner Ausbildung, nahm sie mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis. Sie hoffte, sie konnte noch zu ihm aufschließen oder würde in ihrem Wissen zumindest nicht zu weit hinterher hängen. Es war bestimmt eine Belastung für Aurelius Orestes, wenn seine beiden discipuli verschiedene Kenntnisstände hatten und er so alles doppelt und dreifach erzählen müsste. Sie würde sich auf jeden Fall nun noch mehr anstrengen, als sie es ohnehin getan hätte. Schließlich wollte sie eine Bereicherung für die Priesterschaft sein und keine Last.
    Als die Reihe dann an ihr war, sich vorzustellen, wandte sie sich wieder mehr ihrem Lehrer zu. Immerhin hatte er die Frage gestellt und stand im Rang höher, da wäre alles andere unhöflich gewesen. Natürlich blickte sie auch immer wieder zu Verus, aber nicht ganz so oft.
    Ich komme aus Britannia, dort habe ich bei meinen Großeltern gelebt. Meine Mutter, Decima Aemilia, war eine sacerdos der Diana. Ich hoffe, das fortführen zu können, was sie vor vielen Jahren getan hat. Daher bin ich auch nach Rom gekommen, um mich ausbilden zu lassen.
    Die Geschichte um ihren Vater ließ Flava erst einmal weg. Wenn es interessieren würde, würde sie es selbstverständlich erzählen. Aber sie glaubte nicht, dass das hier nun wichtig war. Und sie wollte sich weder wichtig machen noch Mitleid erhaschen.

    Ob es Flavus wohl weh tat, Decimus Livianus einmal als Vater zu bezeichnen? Flava zumindest tat es weh, ihn immer mit soviel Hass von ihm sprechen zu hören. Zwar kannte sie ihn genauso wenig wie ihr Bruder, aber dennoch fühlte sie sich mit ihm verbunden. Er war ein Teil dessen, was die Mutter geliebt hatte, also liebte Flava ihn auch, obwohl sie nichts von ihm wusste. Den unendlichen Zorn des Bruders dann zu spüren fiel ihr schwer, aber sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Flavus würde es nur weh tun, wenn sie traurig war, und er würde dann nicht mehr über das Thema mit ihr sprechen. Aber sie wollte es mit ihm bereden.
    Nein, das wusste ich noch nicht. Ich muss mich erst noch informieren, wer alles zu Vaters Freunden und Klienten zählt. Aber ich bin mir sicher, mein Brüderchen hilft mir gerne dabei.
    Sie schenkte ihm ein Lächeln, wobei er das so auf dem Bett liegend vermutlich nicht sehen konnte. Aber an ihrer Stimmlage hatte er sicher den Scherz erkannt.
    Flava schob die Gedanken an den Brief erstmal beiseite und ging zu ihrem Bruder hinüber. Sie setzte sich auf den Rand des Bettes und schaute zu ihm herunter. Am Kaiserhof wollte er dienen? Das war sicher eine sehr exzellente Startmöglichkeit hier in Rom. Aber als cubicularius konnte sie sich ihren Bruder beim besten Willen nicht vorstellen. Erst recht nicht, als sie sah, in welcher Unordnung ihre Bettdecken und Kissen nun waren.
    Hast du schon einen Posten ins Auge gefasst, oder möchtest du ihn erst einmal nur pro forma um Hilfe bitten?

    Noch einmal überprüfte Flava aus Reflex den Sitz ihrer Kleidung und des Haares und trat dann ruhig ein. Im Raum waren zwei Männer, ein etwas älterer – aber beileibe nicht alter – elegant gekleideter Braunhaariger und ein blonder Mann etwa in ihrem Alter, vielleicht ein, zwei Jährchen älter als sie. Da Flava ihren Lehrer nicht kannte, schätzte sie einfach, dass der Ältere Aurelius Orestes war. Wer sonst sollte hier sein? Und der jüngere sah ihr eher nach ihrem Mitschüler aus als nach einem Lehrer.
    Sie lächelte leicht, aber nicht zu sehr, als dass es übermütig wirken könnte. Flava war immer sehr auf ihre Wirkung bedacht und hatte sich daher meistens sehr gut im Griff, was einen ersten Eindruck betraf.
    Salve. Mein Name ist Decima Flava. Ich habe einen Brief erhalten von Aurelius Orestes, dass ich mich hier zum Unterricht einfinden soll. Ich nehme an, du bist Aurelius Orestes? Leider stand in dem Brief keine Zeit, ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.
    Sie versuchte, ihre Nervosität nicht nach außen dringen zu lassen und stand also einfach nur still wie eine Marmorstatue da. So hatte ihr Lehrer, so sie richtig geraten hatte, auch gleich die Möglichkeit, sich ein Bild von ihr zu machen. Und natürlich auch ihr neuer Mitschüler, der mit seinen blonden Haaren schon sehr interessant aussah. Aber Flava hatte sich gut genug unter Kontrolle, ihrer Neugier nicht nachzugehen und stattdessen den Blickkontakt zu ihrem vermeintlichen Lehrer aufrecht zu erhalten.

    Das hatte Flava auch gar nicht erwartet, dafür kannte sie ihren Bruder viel zu gut. Oh, sie würde ihn sehr wohl in ihrem Brief erwähnen und natürlich hinein schreiben, dass auch er den Vater grüßen ließ, das gehörte sich einfach. Aber dass er wirklich selbst etwas schreiben würde, das hatte sie von Anfang an nicht erwartet.
    Dann nehme ich wohl richtig an, dass du mir nicht dabei helfen magst?
    Eigentlich wollte sie ihn ja nach dem passenden Anfang fragen, weil sie sich damit etwas schwer tat. Aber bei seiner jetzigen Laune ließ sie das lieber bleiben, da würde wohl nichts Vernünftiges bei heraus kommen. Ob er unter besserer Laune eine größere Hilfe wäre, mal dahingestellt. Aber Flava fühlte sich einfach sicherer, wenn er in der Nähe war und ihr half.
    Flava sah zu ihrem Bruder hinüber, der ihr Bett mit seinem wiederholten Hineinfallen ganz durcheinander gebracht hatte. Flava bevorzugte lieber Ordnung, aber sie sagte nichts. Bei jedem anderen hätte sie eine freundliche Möglichkeit gefunden, ihn darauf hinzuweisen, dass dieses Verhalten nicht wünschenswert war. Einzig ihr Zwilling hatte eine unendliche Narrenfreiheit bei ihr, sie war ihm noch nicht einmal richtig böse deswegen.
    Und weißt du schon, was du machen möchtest hier in Rom?“

    Flava sah mit ihren Hundeaugen zu Flavus hoch. Natürlich hatte er irgendwo recht, aber sie wollte das nicht hören. Das war nicht das, wie sie von ihrem Vater denken wollte. Und so, wie sie es aus den Beschreibungen bisher herausgehört hatte, war er auch nicht so, wie Flavus ihn sich wohl gerne vorstellte.
    Meridius wird ihn doch nicht im Dunkeln darüber lassen, dass ihn zwei Kinder hier erwarten. Wenn er gerettet ist, wird er es doch schon wissen. Und meinst du nicht, es wäre gut, da schon die Initiative zu ergreifen und sich ihm schon vorzustellen? Wenn er uns erst einmal kennt, vielleicht erreichen ja ein paar geschriebene Worte sein Herz? Es muss doch etwas liebenswertes in ihm sein, sonst hätte Mutter ihn sicher nicht geheiratet. Und vielleicht hilft so ein Brief dann ja, dass er uns annimmt?
    Das waren zumindest die logischeren Gründe, warum Flava den Brief gut fand. Sie wusste, mit Logik konnte sie bei Flavus wohl mehr erreichen als mit Gefühl, vor allem, da seine Gefühle so ablehnend waren. Ihre hingegen waren gänzlich anderer Natur. Sie wollte gerne endlich einen Vater haben, ihn kennen lernen, ihn wie eine Tochter lieben und von ihm wie eine Tochter geliebt werden. Das hieß ja nicht, dass sie deswegen ihre Großeltern weniger liebte oder ihnen ihre Erziehung nicht dankte und alles, was sie für sie getan hatten. Aber ein richtiger Vater, das wäre schon ein Stück Traum für die junge Römerin.

    Er wollte deswegen gleich zu Meridius laufen? Flava hatte da doch ein paar Skrupel, ihren neuen Verwandten da gleich um sowas zu bitten. Vor allem, da er doch demnächst losziehen würde, da musste sie ihn doch wirklich nicht mit so etwas behelligen. Sie kam sich dabei vor, als würde sie seinen guten Ruf ausnutzen, und sie hatte nichts getan als Teil dieser Familie, um das zu dürfen. Nein, Meridius wollte sie lieber raushalten. Zumal sie ihn ja auch noch um einen anderen Gefallen bitten wollte.
    Ich glaube, wir versuchen es erstmal ohne Meridius’ Hilfe. Ich meine, Vater hat uns noch nicht einmal als seine Kinder angenommen, da kommt es mir irgendwie falsch vor, seinen Cousin gleich für uns einzuspannen. Zumal ich mir ohnehin überlegt habe…
    Gleich würde Flavus böse werden, das konnte Flava fast schon spüren. Oder vielleicht nicht böse aber… er würde eben Flavus sein, und nicht unbedingt ihr liebender Bruder. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass er ihre Idee auch gut finden würde.
    … ihm vielleicht einen Brief an Vater mitzugeben. Damit er schon etwas von uns hat, wenn er gerettet ist, und uns vielleicht etwas kennenlernen kann, bevor er wieder hier ist.

    Wolltest du nicht morgen selber losgehen, und dich um deine Karriere kümmern?“
    Flava wusste, dass Flavus nicht der Mensch dafür war, herumzusitzen und nichts zu tun. Er hatte eine innere Unruhe in sich, die sie gerne als Ehrgeiz bezeichnete, andere allerdings manchmal gemeinerweise als Ungeduld. Natürlich würde Flava nie so etwas über ihren Bruder denken. Er hatte lediglich die ganze Entschlossenheit, die ihr fehlte, ebenfalls im Mutterleib mitbekommen, davon war sie überzeugt.
    Allerdings war sie sich auch ziemlich sicher, dass ihr Bruder nicht so einfach locker lassen würde. Und sie wollte ja auch wirklich Priesterin werden und eigentlich wollte sie nicht warten, bis ihr Vater zurückkehren würde. Das konnte noch ein Jahr dauern, vielleicht zwei. Bis dahin war sie fast schon zu alt, mit der Ausbildung anzufangen. Wenn Vater dann heimkehren würde, würde seine Sorge wohl vornehmlich dem gelten, sie möglichst schnell zu verheiraten, ehe sie auch dafür zu alt wäre und nur unter ihrem Stand noch verheiratet werden konnte. Nein, da hatte Flavus schon recht, Warten war suboptimal.
    Meinst du denn, dein Einverständnis würde genügen? Also, wenn wir ein Schreiben aufsetzen und ich das mitnehme…
    Ein wenig zweifelte Flava, dass das wirklich so einfach nun sein sollte. Immerhin waren sie um die halbe Welt gereist, damit sie ihren Vater um Erlaubnis für genau diese Sache fragen konnte. Und nun sollte es wirklich so einfach gehen?

    Den Brief hatte Flava entgegen ihrer sonst so zurückhaltenden Art dem armen Sklaven fast aus der Hand gerissen. Ihre Augen waren nur so über die Zeilen geflogen, während sich ein Gefühl des Jubelns in ihr ausgebreitet hatte. Nur eine Sache war ihr aufgefallen: In dem Brief stand absolut keine Zeitangabe.


    Also stand sie nun vor dem Unterrichtsraum, zu dem sie sich durchgefragt hatte, und wusste nicht so recht, ob sie auch nicht ungelegen kam. Sie hatte sich so schlicht und stilvoll wie möglich gekleidet. Kein unnötiger Schmuck oder sonstiger Schnickschnack, die Tunika in einfachem Weiß. Sie war schließlich hier, um zu lernen, und nicht, um mit ihrem Stand anzugeben. Abgesehen davon, dass sie immer noch leichte Anpassungsschwierigkeiten hatte, obwohl sie sich alle Mühe gab. Aber die Tochter von Decimus Livianus war sie ja auch erst seit ein paar Monaten, wenn man es so sehen wollte.
    Von drinnen hörte sie Stimmen, also war sie sich sicher, dass zumindest jemand anwesend war. Sie hoffte, sie störte nicht, denn der erste Eindruck war, wie sie wusste, ungemein wichtig. Und sie wollte zwar eifrig und lernbegierig durchaus erscheinen, aber nicht ungeduldig oder unhöflich. Es war eine schwere Entscheidung, aber in dem Brief stand ja auch etwas von einem Mitschüler. Vielleicht waren ja auch das die Stimmen, und weiter zu warten hieße, sich zu verspäten.
    Sie fühlte noch einmal kurz nach ihren Haaren, ob noch alles richtig saß. Sie wollte schließlich einen guten Eindruck machen. Aber alles war eigentlich perfekt, jetzt musste sie nur noch ihre Nervosität nicht nach außen dringen lassen, dann konnte eigentlich gar nichts schiefgehen. Sie straffte die Schultern und atmete noch einmal durch. Dann, als das Gefühl der Ruhe und Routine sich in ihr ausbreitete, klopfte sie an die Tür.

    Eine Woche, sieben lange Tage. Flava würde den armen Sklaven, der die Post entgegen nahm, vermutlich nach fünf Tagen täglich mit ihrer Ungeduld überfallen, ob der Brief angekommen sei. Aber im Moment war sie einfach nur glücklich, diesen wichtigen Schritt in ihrem Leben nun geschafft zu haben und ihrem Ziel damit so greifbar nahe zu sein wie noch nie in ihrem Leben. Sogar der Septemvir lächelte, was Flava gleich noch einmal glücklicher machte. Anscheinend hatte sie wirklich alles richtig gemacht. Also gestattete sie sich einen Moment, ihre Gefühle ganz offen nach außen dringen zu lassen, und lächelte ihn überglücklich zurück an.
    “Nein, ich habe keine Fragen mehr. Ich danke dir, Aurelius Corvinus. Ich hoffe, ich werde mich der Ehre, dem cultus deorum dienen zu dürfen, würdig erweisen.“
    Dann aber erinnerte sich Flava wieder an ihre guten Manieren und bekämpfte den drang, die ganze Zeit nur so zu strahlen. Sie schlug demütig die Augen nieder und sammelte sich eine Sekunde, ehe sie zwar immer noch lächelnd, aber nicht mehr so überschwänglich, ihr Wort wieder an Corvinus richtete.
    “Aber ich bin sicher, du hast noch viel zu tun, und ich möchte dich nicht davon abhalten. Ich danke dir noch einmal für deine Zeit und die Gelegenheit, den Göttern dienen zu dürfen.“
    Sie wollte den Septemvir nicht so für sich beanspruchen, und bestimmt hatte jemand in seiner Position mehr zu tun als überschwängliche Jugendliche zu beaufsichtigen.

    Flava stand vor dem Altar und betrachtete die Darstellungen der Göttinnen und Götter. Im leicht flackernden Licht der Lampen warfen sie tanzende Schatten. Es sah beinahe aus, als würden sie sich bewegen, als warteten sie ebenso ungeduldig wie sie selbst auf den Schwur. Flava versuchte, ihre Anspannung und Nervosität fallen zu lassen. Das war es, was sie sich gewünscht hatte, seit sie ein kleines Mädchen war. Seit sie alt genug war, zu verstehen und zu beten, wollte sie den Göttern dienen, warum also sollte sie jetzt nervös sein? Sie wollte den Göttern lieber mit dem nötigen Respekt und Ernsthaftigkeit, die einer Priesterin geziemte, entgegentreten.
    Sie kannte die Worte, die sie sprechen musste, in- und auswendig. Dennoch glitt ihr Blick zu der Steintafel. Die wollte und durfte jetzt keinen Fehler machen. Flava schluckte einmal, straffte die Schultern, atmete tief und ruhig ein.
    Ego, Decima Flava ,deos deasque imperatoremque romae in omnibus meae vitae publicae temporibus me culturum, et virtutes romanas publica privataque vita me persecutorum esse iuro.
    Ego, Decima Flava, religioni romanae me fauturum et eam defensurum, et numquam contra eius statum publicum me acturum esse, ne quid detrimenti capiat iuro."

    In andächtigem Schweigen blieb Flava stehen und ließ die Worte für sich wirken. Jedes einzelne dieser Worte war wie in ihr Bewusstsein gebrannt, und sie meinte es so ernst, wie sie es in ihrem jungen Leben nur sein konnte.
    Nach einer Weile sah sie zu Corvinus hinüber, immer noch schweigend. Sie fühlte sich so glücklich, und doch gleichzeitig so von Ernst erfüllt. Sie hoffte, es war alles richtig gewesen.

    Flava schüttelte leicht den Kopf.
    “Natürlich stört es mich nicht, wenn der sacerdos schon einen weiteren Schüler hat. Ich vertraue da ganz deinem Urteil, geehrter septemvir.“
    Im Gegenteil, so konnte sie vielleicht noch mehr lernen. Andere Menschen hatten andere Gedanken und daher andere Fragen, und vielleicht fragte der andere Schüler ja etwas, das Flava nie eingefallen wäre? Sie sah das ganze sehr positiv und freute sich schon darauf, den sacerdos kennen zu lernen. Nicht nur, weil es sie ihrem Wunsch wieder einen Schritt näher brachte.
    “Weitere Fragen habe ich nicht. Nur noch den Wunsch, den Göttern endlich dienen zu dürfen.“
    Das klang vielleicht ein wenig überschwänglich, und Flava lächelte nach diesem unbedachten Satz kurz entschuldigend und schlug demütig die Augen nieder. Aber sie freute sich schon wirklich sehr auf das Sprechen des Eides und alles, was da noch vor ihr lag.

    Ein Gefühl von Erleichterung machte sich in Flava breit. So lange hatte sie darauf gewartet, das hier tun zu können, und nun endlich schien ihr Wunsch in Erfüllung zu gehen. Sie versuchte, ihre Freude nicht in unangemessener Weise nach außen dringen zu lassen und überlegte kurz, welche Fragen sie noch haben könnte.
    “In Britannia habe ich schon vieles gelernt und erfahren dürfen, allerdings bestimmt nicht genug, um gleich Priesterin zu werden. Jedoch doch sehr viel, so dass ich nicht völlig unwissend bin. Entscheidet mein Lehrer, wann die Zeit angemessen ist, dass ich die Prüfungen ablege?“
    Ungeduld war eigentlich nicht Flavas Art, aber sie stand so kurz vor der Erfüllung ihres Traumes, dass sich diese schlechte Eigenschaft doch in mehr als üblichem Maß zeigte. Flava versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen.
    Und zunächst einmal wollte sie auch den Eid ablegen.

    Na, wenn dem so war, konnte Flava ihm das Schreiben gleich übergeben. Mit einem sicheren Griff fischte sie den mitgebrachten Brief hervor und übergab Corvinus das Schriftstück freudestrahlend. Dass es so einfach ging war eine äußerst erfreuliche Erfahrung. Sie hatte schon halb befürchtet, mit ihrem Bruder hier erst persönlich vorbeikommen zu müssen. Und wie griesgrämig dieser manchmal war musste der Septemvir nicht unbedingt vorgeführt bekommen. Flava war sich auch nicht so sicher, ob sich ihr Bruderherz wirklich freute, dass sie Priesterin werden wollte. Er hätte sie vermutlich lieber als einfache Matrona irgendwo gesehen, aber sie wollte so unbedingt Diana dienen.
    Sie hoffte dennoch, die Formulierung war angemessen gewählt. So etwas hatte Flava ja noch nie aufgesetzt. Ihr Bruder hatte nur seine Unterschrift darunter gesetzt. Aber woher sollten sie beide auch wissen, wie so etwas ging?


    Ich, Marcus Decimus Flavius, gestatte meiner Schwester, Decima Flava, in meiner Funktion als ihr Tutor und Vormund (bis zur Rückkehr oder Bestätigung des Todes unseres Vaters Marcus Decimus Livianus), den Beitritt zum Cultus Deorum und die Ausbildung zur Priesterin der Diana.


    Gez. Marcus Decimus Flavus




    Sie hatte ihren Bruder ja fast ein wenig dazu nötigen müssen, vor allem der Teil mit der „Rückkehr“ und das Wort „Vater“ waren ihm sauer aufgestoßen, aber er war ihr Bruder und half ihr natürlich.

    Mit so etwas hatte Flava schon gerechnet. Sie selbst würde es ja auch nicht anders handhaben, denn schließlich konnte ja da jeder kommen und behaupten, der Vater wäre verschollen. Und mancherorts war das Ehrenwort eines Menschen leider nicht mehr viel wert.
    Brauchst du bestimmte Formulierungen bei dem Schriftstück? Mein Bruder und ich haben eines in Anbetracht dieser Situation formlos aufgesetzt, allerdings ohne genauere Kenntnis der nötigen Wortwahl.*
    Flava blieb ruhig sitzen und suchte nicht nach dem Brief, den sie bei sich hatte. Wenn wirklich ein bestimmter Wortlaut von Nöten war, wollte sie den Septemvir damit nicht behelligen. Übereifer war da sicher nur störend, und Flava war diesbezüglich sehr diszipliniert und exakt.


    Sim-Off:

    *Da mein Brüderchen mir schon vor über 3 Wochen versprochen hat, das auszusimmen, zieh ich das jetzt einfach mal dreist vor.