Beiträge von Decima Flava

    Nicht weinen! Das war das Erste, was ihr durch den Kopf schoss. Nicht weinen!
    Ein dicker Klos hatte sich in Flavas Hals gebildet, während sie Meridius zuhörte. Verschollen in Parthia konnte ihr Vater auch schon tot sein. Sie hätte nie Gelegenheit gehabt, ihn kennen zu lernen. Und was war dann mit ihrem Wunsch, Priesterin der Diana zu werden? Und all das, nachdem ihre Großeltern endlich mit der Sprache herausgerückt waren, wer er überhaupt war.
    Flava hielt sich an der Hand ihres Bruders fest, und diesmal war er nicht so aufbrausend wie den restlichen Tag, sondern gab ihr den Halt, den sie brauchte. Sie musste ihre Gedanken ordnen, und sie durfte keinesfalls weinen. Das schickte sich nicht, eine Römerin behielt einen klaren Kopf. Und noch war ihr Vater nicht sicher tot. Wenn er es war, dann konnte sie weinen.


    Ich wollte doch nur seine Erlaubnis, Priesterin zu werden und ihn kennen lernen…
    Sie sprach mehr zu sich selbst, vielleicht auch zu Flavus, als mit jemand bestimmten. Ihre Stimme war nur ein heiseres Flüstern, und sie merkte erst hinterher, dass sie den Gedanken ausgesprochen hatte. Sie räusperte sich und ließ auch Flavus’ Hand wieder los.


    Verzeih, ich bin nur etwas durcheinander. Es wäre uns eine Ehre, wenn wir hier bleiben dürften.
    Flava warf ihrem Bruderherz bei diesen Worten einen kurzen „wag es bloß nicht“-Blick zu.
    Und es wäre mir auch eine große Freude, deiner Frau und deinem Sohn Gesellschaft zu leisten. Ich werde zu den Göttern beten, dass sie dich beschützen und du schnell mit unserem Vater zurückkehrst.

    Flava bedachte ihren Bruder mit einem flehentlichen „Bitte“-Blick, als dieser anfing, zu sprechen. Natürlich interessierte sie auch, was mit ihrem Vater nun los war, aber Flavus hatte eine Art heute an sich, die sie nicht leiden mochte. Er war so kalt und wütend, und sie mochte lieber den Bruder, der sie schützte und zum Lachen brachte. Aber der war heute wohl nicht anwesend. Verlegen nippte sie noch einmal an ihrem Wein.
    Als der Senator dann offenbarte, dass ihr Vater noch nicht vom Feldzug gegen die Parther zurück sei, hätte Flava beinahe den Becher fallen lassen. Schnell stellte sie ihn ab, um ein Malheur noch zu verhindern, und überdachte kurz das Gesagte. Die Legionen waren doch schon längst zurückgekehrt aus Parthia? Der Feldzug war doch schon lange vorbei? Was machte er dann noch dort? Ein ungutes Gefühl der Angst beschlich Flava, und jetzt griff sie doch kurz nach der Hand des Bruders, um dort kurz Stärke zu finden. Sie brauchte die Gewissheit, dass er noch an ihrer Seite war.


    Aber er ist wohlauf?


    Eigentlich wusste Flava die Antwort auf diese Frage schon. Wenn er noch nicht zurück war, war er wahrscheinlich auch nicht wohlauf. Ihr Traum der vergangenen Nacht fiel ihr wieder ein. Ein dunkler, heißer Ort, wo Dämonen in den Schatten lauerten und an den Wänden kratzten. Ein leichtes Frösteln überkam sie dabei. Sie wollte doch nur, dass alles gut werden würde.

    Gerne nahm Flava das Angebot, sich zu setzen, an. Sie traute nach der langen Zeit auf dem Schiff ihrer Grazie noch nicht wirklich, und sie wollte nicht wie ein Holzfäller hier noch herumlaufen. Beim Sitzen konnte sie weniger falsch machen.
    Ja, es geht ihnen sehr gut. Wenn du möchtest, kann ich ihnen auch von dir Grüße übermitteln, wenn ich ihnen schreibe. Sie machen sich sicher Sorgen, ob wir gut angekommen sind, deshalb muss ich ihnen noch schreiben, wie herzlich wir hier empfangen wurden.
    Dass Flava glücklich war, konnte man ihr ansehen. Zwar war noch immer etwas Restspannung in ihr, da sie ihren Vater ja immer noch nicht kennen gelernt hatte, aber die freundliche Begrüßung hier und nicht zuletzt das nette Kompliment ließen ihr ganze Gebirge vom Herzen fallen.
    Ihr fiel auf, dass er ihre Frage nach dem Vater gar nicht beantwortet hatte. Aber sie wollte nicht drängeln und nicht zu neugierig erscheinen. Da kam ihr der Wein gerade recht, um ihre Unsicherheit zu überdecken. Natürlich wartete sie, bis Meridius auch einen Schluck nahm, ehe sie an ihrem Wein nippte. Sie trank nur ganz wenig, denn für Frauen war es schließlich nicht schicklich, zuviel zu trinken.


    Bei seiner Bemerkung zu ihrer Ähnlichkeit mit der Mutter nickte sie bescheiden.
    Ja, das wurde mir schon oft gesagt. Leider habe ich keine Vergleichsmöglichkeit, ich durfte Mutter nur von einem Bild und Erzählungen kennen lernen. Ich hoffe, dass ich hier vielleicht noch ein wenig mehr darüber erfahren kann, wie sie war.
    Ihre Traurigkeit ließ sich Flava nicht anmerken. Zum einen hatte sie ihre Mutter ja wirklich nie kennen gelernt und konnte daher nicht aufrichtig behaupten, dass sie sie als Person vermisste. Und zum anderen wollte sie ihrem Verwandten nicht unbedingt auf die Nase binden, dass ihre Geburt Schuld am Tod der Mutter war.


    Flavas Blick wanderte wieder zu ihrem Bruder, der irgendwie still war. Stur, wie sie meinte. Sie warf ihm einen aufmunternden Blick zu. Sie wünschte sich, er würde sich ein wenig am Gespräch beteiligen. Aber diesmal hoffentlich wirklich freundlich und nicht so schroff wie zu dem armen Ianitor. Er konnte schließlich nicht die ganze Zeit dastehen und nichts sagen. Vor allem nicht, da sie so freundlich hier aufgenommen worden waren.

    Allein schon an seiner Körperhaltung konnte Flava sehen, dass Flavus glücklicher gewesen wäre, der Ianitor hätte sie weggeschickt. Den Brief hatte er ihr beinahe aus der Hand gerissen und verstaut, und sein ganzer Gang zeigte ihr deutlich seinen Widerwillen. Sie kannte ihn einfach zu gut, um diese kleinen Zeichen der Gereiztheit zu übersehen. Jeder andere hätte ihn vielleicht nur für energisch gehalten, aber sie wusste es einfach besser. Auch wenn sich sein Gesichtsausdruck wohl für alle anderen nicht lesen ließ, seine Augen verrieten ihr mehr, als er zugeben wollte. Aber sie kannte ihn auch schon ihr ganzes Leben, er war wie ihr Spiegelbild.


    Als der Ianitor sie anmeldete, fiel Flava auf, dass er gar nicht nach ihren Namen gefragt hatte, oder überhaupt viel gefragt hatte. Entweder stimmte es wirklich, und sie sah wie ihre Mutter aus und deshalb hatte der Ianitor ihr vorbehaltlos geglaubt, oder der arme, alte Mann war etwas vergesslich. Flava hoffte für den Alten, dass der Cousin ihres Vaters mehr Gemütszüge mit ihr gemeinsam hatte als mit Flavus.
    Sie beide traten also ein und sahen sich zum ersten Mal einem Decimer gegenüber. Flava war nervös, widerstand aber dem Drang, nach der Hand ihres Bruders zu greifen. Ein wenig schüchtern stand sie erst einmal nur neben ihm, so gerade und edel wie eben möglich, und wartete, dass ihr Bruder sie vorstellen würde. Als dieser aber nach mehreren Herzschlägen keine Anstalten machte, übernahm Flava es schließlich doch selbst. Die Spannung war einfach zu groß.
    Salve. Ich bin Flava, das ist mein Bruder Flavus. Wir kommen aus Britannia, von unseren Großeltern.
    Sie verzichtete darauf, zu sagen, sie sei Decima Flava und ihr Bruder sei Decimus Flavus. Ihr Vater wusste noch nicht einmal etwas von ihnen beiden, da fand sie es etwas vermessen, seinen Namen für sich zu beanspruchen. Und sie konnte den Mann vor ihr nicht einschätzen, wie böse er sein würde, würde sie sich einfach so in seine Familie hineinreden. Immerhin wusste er genauso wenig von ihr oder ihrem Bruder.
    Unsere Großeltern sagten uns, unser Vater wohne hier. Decimus Livianus, der mit Aemilia, unserer Mutter, verheiratet war? Der Ianitor meinte, er sei momentan außer Haus?
    Vielleicht war er noch im Senat, oder irgendwo in der Stadt auf einem Fest? Flava wusste es nicht, aber sie nahm an, dass er die nächsten Tage schon wieder zuhause sein würde. Sonst würden sie sicher keine Zimmer erhalten, um auf ihn zu warten. Nie wäre ihr in den Sinn gekommen, wie es wirklich um sein Schicksal bestellt war.

    Flavas Enttäuschung, dass ihr Vater nicht da war, war höchstens an einem kurzen Flackern ihrer Augen zu erkennen. Sie hätte sich wirklich sehr gewünscht, ihn gleich kennen zu lernen. Dann wäre diese ganze Unsicherheit zu Ende. Aber wenn er nicht da war, war er nicht da. Und Flava war zu gut erzogen, um sich ihre Enttäuschung anmerken zu lassen. Ihr Gesicht blieb freundlich.
    Bevor ihr Bruder mit seiner schlechten Laune noch etwas sagen konnte, dass die Sache verderben hätte können, wandte sie sich also wieder an den Ianitor, der sie freundlich herein bat.
    Das wäre sehr schön. Natürlich nur, wenn es den Senator nicht stört.


    Flava ging noch kurz zu der Truhe, in der der Brief lag, und holte ihn heraus. Vielleicht wollte der Senator ihn sehen, und Flava wollte nicht nachher noch laufen. Er war zwar eigentlich für ihren Vater bestimmt, aber besser ein Stück Papier zuviel mitgetragen als sich nachher entschuldigen zu müssen, und es noch zu holen.
    Sie drückte ihn ihrem Bruder noch in die Hand, damit er ihn verstaute. An ihrem Kleid gab es dazu keine Möglichkeit, und sie wäre sich dumm vorgekommen, ihn in der Hand zu tragen.
    Ohne zu zögern trat sie also in die Casa. Eine gute Römerin zauderte schließlich nicht.


    Kannst du uns den Weg weisen und uns anmelden?

    Das war nicht unbedingt das, was Flava unter „nett“ verstand. Irgendwie hatte dieser alte Mann es geschafft, „den Drachen zu wecken“, wie sie es gerne umschrieb. Manchmal war ihr Bruder aufbrausend und dann wenig freundlich. Zu seiner Schwester war er zwar immer liebevoll und er würde nie die Hand gegen sie erheben, das wusste Flava nur zu gut, aber wenn sein Zorn geweckt war, konnten sich andere dieses Schutzes nicht gewiss sein. Auch wenn er meinte, sie bekäme davon nichts mit, wusste Flava, dass so manche Sklavin ihren Bruder weinend verließ, weil sie sein Missfallen erregt hatte. Aber da er wusste, dass sie es missbilligte, ließ er sie bei solchen Bestrafungsaktionen meist außen vor oder hielt sie gar vor ihr geheim. Aber sie kannte ihn besser, als er sich selbst.
    Aber hier nun ging es um etwas anderes, und Flava hatte nicht vor, von dem Drachen in ihrem Bruder sich den Zutritt zum Haus erschweren zu lassen. Da konnte ja jeder kommen, um ohne Grund ein Mitglied des Hauses sprechen zu wollen. Und Flava wusste, dass man es sich und dem Ianitor leichter machte, wenn man gleich sagte, weswegen man zu jemandem wollte. Dann musste nicht erst lange nachgefragt werden.
    Also wandte sie sich – viel herzlicher als ihr Bruder und diesem sanft ihre Hand auf den arm legend, um ihn zu bremsen – an den alten Mann.
    Wir sind die Kinder seiner Frau, Aemilia. Unsere Großeltern sagten uns, er ist unser Vater und wohnt hier. Wir haben auch einen Brief dabei, falls das etwas hilft?


    Flava hoffte so sehr, dass er da war. Die letzten Wochen ihrer Reise waren so anstrengend und aufreibend gewesen. Sie wollte, dass es sich nun auszahlte, je länger sie warten musste, umso angespannter wurde sie. Und sie sehnte sich so sehr danach, endlich ihren Vater kennen zu lernen.

    Hinter der Tür waren Schritte zu vernehmen, und Flava spannte sich an. Nicht zuletzt, weil an der Türe ein Schild hing, das etwas von einem Hund erzählte. Flava mochte Hunde nicht unbedingt. Sie waren groß, laut und hatten scharfe Zähne, und Flavas schüchterne Zurückhaltung veranlasste diese Vierbeiner häufig dazu, ihre Stärke noch ein wenig mehr zu demonstrieren. Allerdings, solange sie klein waren, war sie wie die meisten Frauen und fand Welpen einfach nur niedlich und zum knuddeln.
    Der Ianitor öffnete die Tür und schaute sie beide an. Flava war sich nicht sicher, ob seine Augen noch so gut waren, er schaute so angestrengt und war auch schon recht alt. Am liebsten hätte sie gleich losgeplappert und selbst gesagt, was sie hier wollten. Sie konnte es kaum erwarten, ihren Vater zu sehen. Sie waren so kurz davor, ihn endlich kennen zu lernen. Hoffentlich war er da!
    Aber sie erinnerte sich an ihre Erziehung, und da Flavus ihr nicht schnell genug reagierte, bekam er statt ihrer Antwort einen kleinen, auffordernden Schubs. Er war schließlich der Mann von ihnen beiden, also sollte er, wie es sich gehörte, seine Schwester und ihn anmelden. Einen flehentlichen Blick zu ihm konnte Flava dann aber doch nicht unterdrücken. Hoffentlich war ihr Bruder nett.

    Nach dem – Flavus und Philippus, der warten musste, zuliebe sehr kurzen – Bad und einem neuen Kleid fühlte sich Flava wie eine neue Person. So konnte sie ihren Verwandten gegenübertreten, sauber, duftend und wie eine feine Dame angetan. So machte sie ihren Vorfahren Ehre.
    Dennoch war sie nervös, als sie vor der Haustüre endlich angekommen waren. Während Philippus und ihr Bruder die Kisten abluden, stand sie schon da und starrte wie gebannt auf die Türe. Ihre Sorgen kamen wieder. Was war, wenn ihre verwandten sie nicht haben wollten? Vielleicht sah sie ihrer Mutter ja doch nicht so ähnlich, wie immer alle sagten, und sie wurden für Hochstapler gehalten. Vielleicht nützte auch der Brief der Großeltern nichts.
    Als Philippus sich schließlich verabschiedete, nickte sie ihm noch einmal lächelnd zum Abschied zu und wandte sich dann an ihren Bruder. Sie traute sich nicht, anzuklopfen.


    Klopfst du?

    Bei seinen Worten grinste Flava übers ganze Gesicht und hüpfte einmal kurz aufgeregt auf dem Sitz herum. Manchmal liebte sie ihren Bruder wirklich. Das Umarmen ersparte sie ihm aber, immerhin waren sie trotz allem in Gesellschaft.
    Philippus nickte nur und zwinkerte Flava einmal zu, woraufhin sie sich scheinbar schüchtern empört abwandte. Sie waren ohnehin gleich bei den Stadttoren angelangt, und Flava war schon ganz aufgeregt, wie es dann erst innerhalb der Mauern sein würde. Vor Aufregung griff sie wieder nach der vertrauten Hand von Flavus.

    Von der plötzlichen und ruppigen Art ihres Bruders aus dem Gespräch gerissen, bedachte Flava den Fuhrmann noch mit einem entschuldigenden Lächeln, als sie sich ihm zuwandte. Wären sie alleine unter sich gewesen, wären ihre Worte wohl ein wenig deutlicher und weniger charmant ausgefallen, da Philippus sie aber hören konnte, blieb Flava leise und geduldig lächelnd, als sie mit ihrem Bruder sprach.
    Nun, Flavus, du bist mein Bruder. Letztendlich werde ich mich deiner Entscheidung fügen, wie es sich für eine gute Schwester geziemt. Aber wenn du mich fragst, wie es mir lieber wäre, würde ich sehr gerne noch eine Therme kurz besuchen, um mich frisch zu machen. Schließlich möchte ich, dass wir wie die Kinder eines Senators zu unseren Verwandten kommen und nicht wie die eines Bettlers.
    Was Markus aber sicher an ihrer Stimme herauslesen konnte, war, dass sie es ihm ewig vorhalten würde, wenn ihre Verwandten einen schlechten Eindruck von ihnen erhalten würden. Er würde sich dann noch in Jahren, was Jahrzehnten anhören dürfen, dass das alles damals seine Schuld gewesen sei und sie besser aufgenommen worden wären, hätte er nur zehn Minuten an einer Therme halt gemacht.

    Flava bedachte ihr Bruderherz mit einem bösen Blick und ließ sich wortlos auf dem Kutschbock nieder. Ihr Bruder saß in der Mitte, sie links, der Fuhrmann rechts. Es war eine etwas wackelige Angelegenheit, als der Wagen losrollte über die gepflasterte Straße vom Hafen weg. Mit lauten Rufen scheuchte der Fuhrmann, wenn nötig, die Leute beiseite, die sich hier auf der breiten Hauptstraße auch tummelten. Aber die beiden, alten Pferde, die seinen Wagen zogen, hätten vermutlich auch sonst niemandem gefährlich werden können, so gemächlich und gelassen, wie sie dahintrotteten.
    Flava sah sich die Straßen an, und als sie an einer großen, einladend aussehen Therme vorbeifuhren, gab Flava ihrem Bruder einen herzhaften Knuff mit dem Ellenbogen in die Rippen. Sie hätte wirklich, wirklich gerne sich noch schick gemacht, bevor sie ihrem Vater gegenübertrat. Schließlich wollte sie nicht, dass sie beide wie Bettler vor der Villa der Familie standen. Sie waren immerhin die Kinder eines Senators und einer Priesterin, da sollte man schon etwas hermachen. Aber Flavus schien das nicht weiter zu stören. Überhaupt schien er kaum interessiert an der ganzen Reise. Flava hatte das Gefühl, dass er de Vater gar nicht kennen lernen wollte, sondern es wirklich einzig und allein ihr zuliebe tat. Natürlich, sie hatte ihn auch überreden müssen und ihm angedroht, notfalls auch ganz alleine zu fahren. Aber das es ihn wirklich so überhaupt gar nicht interessierte?


    Als sie schließlich aus Ostia hinausfuhren, beschloss Flava, dem Schweigen ein Ende zu machen.

    Der Fuhrmann war wirklich sehr unterhaltsam, wenn man ihn erst einmal zum Reden brachte. Flava hatte mit ein paar gezielten Fragen, ihrem charmantesten Blick und dem ein oder anderen perfekten, kleinen Lachen ein Thema gefunden, über das er gerne redete: Seine Familia. Sie erfuhr, dass er Sextus Minatius Philippus hieß, und die fünf Miatii Philippi vor ihm das Geschäft gegründet hatten, für das er jetzt unterwegs war. Sein Vater, ein Mann, der wohl schon achtzig sein musste, überließ es seinem Sohn allerdings noch nicht, weswegen er nur den Wagen fuhr. Sein Sohn, Septimus, sei ohnehin viel besser für das Geschäftliche geeignet, da Sextus sich selbst als zu einfältig dafür bezeichnete. Flava widersprach natürlich, wie es sich gehörte.
    Während die Gegend so langsam dahin glitt und die Pferde auf der guten Straße in einen gemütlichen Trab gewechselt waren, unterhielt sich Flava fröhlich über ihren Bruder hinweg weiter mit Philippus. Auch Flavus’ zeitweilig gereizter Blick ließ sie nicht einhalten. Immerhin erfuhr sie so noch, dass Philippus Enkel gerade eine Erkältung hatte. Fachmännisch merkte sie an, dass Aesculapius wohl sehr empfänglich für Kaninchen sei, vor allem weiße, und ein Opfer wohl nicht schaden könne. Sextus zweifelte noch, aber mit einer kleinen Diskussion – während der sie den Hilfesuchenden Blick von Philippus an Flavus gekonnt ignorierte – war er schließlich überzeugt und wollte es einmal versuchen.


    Ach, jetzt hab ich soviel geschwatzt und geschwatzt. Guter Philippus, du musst mich sicher für leichtfertig halten. Verzeih meiner Jugend.
    Aber schau, ist es das da vorne schon?

    In der Ferne tauchte eine Stadt auf, die einfach Rom sein musste. Flava hatte noch nie etwas so riesiges gesehen.

    Ganz alleine am Hafen zu bleiben ohne wenigstens einen Sklaven als Wächter behagte Flava zwar ganz und gar nicht, aber was sollte sie schon machen? Die Kisten mitnehmen konnten sie schlecht, also musste einer von ihnen aufpassen. Und wenn ihr Bruder das so entschied, dann würde sie eben bleiben.
    Besorgt sah sie ihm hinterher, als er plötzlich in der Menge verschwunden war. Sie versuchte noch, seinen Haarschopf zwischen den anderen auszumachen, aber irgendwann hatte sie ihn verloren. Auf ihrer Kiste sitzend betrachtete sie die Leute um sie herum. Hauptsächlich waren Matrosen unterwegs, aber auch Kaufleute, Sklaven, ein Priester und ein paar, die sie nicht einordnen konnte, kamen an ihr vorbei. Je nach Stand desjenigen lächelte sie den hochgestellten schüchtern zu und blickte möglichst unauffällig zur Seite bei niederrangigen. Sie wollte keine zu große Aufmerksamkeit erregen. Nicht, dass noch jemand bemerkte, dass sie hier ganz alleine saß und damit ein leichtes Opfer wäre. Was konnte sie schon groß machen, außer laut um Hilfe zu rufen?
    Die Zeit schien endlos langsam zu verstreichen, und ihr Bruder kam und kam nicht wieder. Sie wurde auf ihrer Kiste immer kleiner und kleiner, als sie seine Stimme hörte. Ruckartig drehte sie sich zu ihm um und winkte freudig, als sie ihn sah. Im Schlepptau hatte er einen Mann mittleren Alters, der zwar keinen besonders wohlhabenden Eindruck machte, aber ein gutmütiges Gesicht hatte. Und Bettler durften auch kaum wählerisch sein, was ihre Gesellschaft anging. Und war Diana nicht höchstselbst mit den Einfachsten der Einfachen auf den Aventin gezogen?
    Flava zauberte also das makelloseste Lächeln der Welt auf ihr Gesicht, als sie dem Bruder entgegeneilte und in einer kleinen, sittsamen Geste kurz die Hand des Mannes berührte, während sie ihn begrüßte. „Salve, und das im wahrsten Sinne. Wenn wir in Rom sind, verspreche ich dir, dass ich dich für deine Großzügigkeit in mein Gebet einschließe, wenn ich Mercurius opfere. Mit diesen schweren Kisten wären wir sonst bestimmt heute nicht mehr nach Rom gekommen. Es ist schön zu sehen, dass es noch so gute, aufrechte Römer gibt.
    Sie merkte, dass der Mann wohl leicht rot wurde bei ihren Worten, und hörte auf, ehe es zuviel des Lobes wurde. Sie hatte manchmal diese Art, zu überschwänglich gefallen zu wollen, und bemühte sich immer, sich rechtzeitig zu bremsen.


    Während ihr Bruder und der Fuhrmann die Kisten auf den Wagen luden, schulterte Flava nur das leichte Bündel, das auch bei ihren Gepäckstücken lag. Niemand konnte schließlich von ihr verlangen, dass sie so eine vollgestopfte Truhe hob. Beim Klettern auf den Wagen ließ sie sich von ihrem Bruder helfen.


    Bei dieser Gelegenheit raunte sie ihm flüsternd zu. „Was ist jetzt mit meinem Bad?
    An ihrer Stimmlage konnte er deutlich hören, dass sie nicht besonders erfreut war, ungebadet nach Rom zu kommen. Aber auch, dass es nicht wirklich ein Vorwurf war, sondern mehr eine Sorge ihrerseits. Sie wollte ihrem Vater nicht nach Schiff und Pferdekarren stinkend das erste Mal begegnen. Der erste Eindruck war wichtig, wie sie wusste, für Damen gleich zweifach. Und sie wollte doch, dass alles perfekt wäre.

    Ja, was nun? Das war eine gute Frage. Flava war erstmal damit beschäftigt, auf dem wankend scheinenden Untergrund des Piers ruhig stehen zu bleiben. Die ganze Reise über hatte sie nicht annähernd etwas wie Seekrankheit verspürt, außer an dem einen Abend, als es gestürmt hatte. Aber das zählte nicht richtig, denn sie sah an dem Tag kaum einen, der nicht etwas blass um die Nase gewesen war.
    Aber jetzt hier auf dem festen Steinpier schien es plötzlich loszugehen. Sie hatte ein Gefühl in den Beinen, als wäre das Schiff fester Untergrund gewesen und dies hier beweglich wie Wasser. Sie hatte zwar so was schon einmal gehört, die Seeleute nannten so was „Landgang“, aber sie konnte als Dame und hoffentlich baldige Priesterin hier nicht breitbeinig über den Pier latschen. Sie blieb also erstmal stehen und sah den Boden böse an, als ob das helfen würde. Ihr Bruder schien nicht halb so viele Probleme zu haben, obwohl er genauso lange auf dem Schiff gewesen war wie sie.
    Aber trotz ihrer Schwierigkeiten wollte sie ihm nicht eine Antwort schuldig bleiben. Sie setzte sich erst einmal auf eine Truhe und atmete beim Überlegen geräuschvoll und langsam aus.


    Wieviel Geld haben wir denn noch? Reicht es noch für zwei Opfer für Mercurius und Neptun für die gute Überfa…“ Der Blick ihres Bruders ließ sie den Satz abbrechen.
    Entschuldige, dumme Frage. Ich kann auch in Rom opfern.
    Ein bischen verschämt sah sie zu Boden und überlegte weiter. Die wichtigen Dinge zuerst, und die waren ein Bad, ein Essen und eine Fahrtgelegenheit. Ob sie das heute noch schafften?
    Wie weit ist es gleich noch mal nach Rom? Zwanzig Meilen?“ Sie überlegte, wie lange man dahin wohl brauchte. Mit einem schnellen Pferd wahrscheinlich grade mal eine Stunde, mit einem langsamen Karren bestimmt vier, zu Fuß und mit den Kisten noch länger. Sie atmete wieder geräuschvoll und langsam aus, als sie überlegte.
    Wir brauchen auf jeden Fall was zu Essen und ein Bad, und wenn wir nicht gleich jemanden finden, der uns mitnimmt, noch eine Übernachtungsmöglichkeit. Sonst kommen wir erst mitten in der Nacht an.

    Wenn nicht, haben die doch sicher ein Gasthaus?“ Flava behagte die Vorstellung, ungebadet nach Rom zu reisen, überhaupt nicht. Sie wollte bei ihren Verwandten den bestmöglichen Eindruck hinterlassen. Außerdem war sie sehr nervös, weil sie nicht wusste, was auf sie zukam. Dies war ein Problem, für das es keine Lösung gab. Für ihre persönliche Sauberkeit gab es eine Lösung, sogar eine recht einfache, also stürzte sich das Mädchen auf dieses Problem, um ein gutes Gefühl zu haben.


    Das Schiff wurde langsamer, je näher es dem Hafen kam. Erst jetzt war zu erkennen, dass sie in den Tiber hineinfahren mussten, um zu ihrer Anlegestelle zu kommen. Flava war das nicht wirklich geheuer, ihr Schiff wirkte so groß und schwer, und der Tiber im Gegenzug so klein auf die Entfernung. Aber je näher sie kamen, umso mehr schien sich der Fluss auszubreiten, und die Ruderer legten sich wieder etwas ins Zeug, um gegen die Strömung den richtigen Winkel für ihren Pier zu erwischen. Dann war die Strömung weg, und das ruhige Hafenbecken lag nur noch vor ihnen. Sie glitten dahin wie von Delphinen gezogen und kamen schließlich ganz sanft direkt beim Pier zum stehen. Seile wurden zwischen Land und schiff hin und her geworfen, und Männer machten sich sowohl an Land als auch am Schiff daran, alles zu vertäuen. Schließlich wurde eine breite Holzplanke zwischen Land und Schiff ausgelegt, über die man gehen konnte.
    Ich glaube, wir können nun von Bord gehen.

    Flava ließ sich von seiner Ruhe neue Kraft geben und blickte dem näher kommenden Hafen entgegen. Man konnte schon einzelne Häuser der Stadt ausmachen, es würde nicht mehr lange dauern, bis sie tatsächlich anlegten. Und dann musste alles fertig sein.


    Du hast recht. Ist denn schon alles gepackt?


    Gemeinsam mit ihrem Bruder sah sie noch einmal über die verschiedenen Truhen und Bündel, die ihre Habseligkeiten beherbergten. Hier und dort wurde noch etwas eingepackt, was am letzten Tag noch gebraucht worden war, aber im Großen und Ganzen waren sie fertig zur Abreise. Den Brief der Großeltern verstaute Flava sicher in der robustesten Truhe obenauf. Geöffnet hatte sie ihn natürlich nicht, aber sie wusste, dass er die Wahrheit enthielt und für ihren Vater als Beweis gelten sollte, dass die Zwillinge seine Kinder waren. Was die Großeltern genau hineingeschrieben hatten, wusste Flava allerdings nicht.


    Gibt es in Ostia wohl eine Therme oder ähnliches? Nach diesen Wochen hier auf dem Schiff sehne ich mich nach einem ordentlichen Bad.
    Flava wollte gar nicht wissen, wie sie nun für andere roch. Auf dem Schiff gab es leider keine Möglichkeit, sich ausgiebig unbeobachtet zu waschen. Und sie tat zwar ihr bestes, sich gründlich zu reinigen, aber ein Bad war doch etwas anderes. Und sie wollte ihren neuen Verwandten nicht gegenübertreten, wenn sie dabei stank wie eine Herde Rinder.

    Marcus konnte ihn nicht einmal Vater nennen. Flava ließ bei seinen Worten den Kopf hängen und kuschelte sich noch mehr in seine Arme. Sie wünschte sich, ihr Bruder würde sich wenigstens ein bisschen darauf freuen, den Vater kennen zu lernen. Nur ein klein wenig.
    Natürlich verstand sie auch seinen Ärger. Wenn stimmte, was ihre Großeltern erzählten, dann war ihr Vater ein grobschlächtiger Mann, der lieber andere Menschen umbrachte, als Zeit mit seiner Frau zu verbringen. Mutter war krank gewesen, als sie nach Britannia ging, und dennoch hatte er sie nicht einmal selbst zu den Schwiegereltern gebracht, sondern war statt dessen gleich mit der Legion losgezogen.
    Flava selber wusste ja nicht einmal, ob sie so einen Vater haben wollte. Aber irgendetwas an ihm musste Mutter doch geliebt haben. Mutter war bereits verheiratet gewesen, das hatte sie von einer Sklavin erfahren. Warum also sollte sie Flavas Vater später geheiratet haben, wenn sie ihn nicht wenigstens mochte? Und so gut und nobel und zart, wie ihre Mutter beschrieben wurde, hätte diese Frau kein vollkommenes Ungeheuer ausgesucht.


    Ich wünsche, dass du recht hast. Ich möchte einfach, dass alles gut wird. Aber… war ist, wenn er wirklich so ist, wie Großmutter sagte? Ich meine, vielleicht will er uns ja gar nicht. Was machen wir dann?
    Flava wollte so unbedingt Priesterin werden für Diana. Wie sollte sie das ohne Hilfe bewerkstelligen? Und ihr Bruder kannte ja auch niemanden in Rom.

    Die weiche Schlafstütze der brüderlichen Schulter war irgendwie einer harten Holzkiste gewichen. Diese war nicht halb so bequem und mit verspanntem Nacken wachte Flava langsam auf und blinzelte gegen die Sonne. Schlaftrunken setzte sie sich auf und rieb sich die Augen, als ihr Bruder zu ihr kam und die Neuigkeiten überbrachte. Noch nicht wirklich wach bekam sie es im ersten Moment nicht richtig mit, nur sein erster Satz war ihr irgendwie im Bewusstsein hängen geblieben.
    Irgendwann muss ich auch mal schlafen. Heute Nacht hatte ich einen so schlimmen Traum…“ In ihrer Erinnerung verschwamm der Traum schon wieder und mischte sich mit dem eben geträumten, so dass sie sich nicht mehr sicher war, was heute Nacht war und was von eben. Sie war sich nicht mal sicher, ob sie in der Nacht wirklich zu ihrem Bruder gehuscht war, um bei ihm zu schlafen, oder ob sie das auch geträumt hatte. Aber sie würde ihn sicher nicht danach fragen, wo andere sie hören konnten. „Ich habe von Vater geträumt. Ich glaube… ich glaube er war tot und wurde von Pluto gefoltert, oder… nein, vielleicht auch nicht tot… ich weiß es nicht mehr…
    Sie rieb sich noch einmal die Augen und versuchte, den Schlaf noch völlig abzuschütteln. Erst da wurde ihr bewusst, dass er gesagt hatte, sie seien endlich angekommen. Mit einem tiefen Atemzug kam auch wieder richtiges Leben in sie, und sie stand auf, um zum Land hinüber zu schauen. Das dort vorne war also Ostia, der berühmte Hafen Roms. Dann würde es nur noch ein kurzer Landweg sein, bis sie ihren Vater sehen konnten. Sofern er da war. Sie hoffte nur, dass er nicht tot war, dann wäre der ganze Weg, all ihre Überredungen bei ihrem Bruder und ihren Großeltern, all die Sorgen, all das Geld, all die Träume umsonst gewesen. Ein Schauer lief durch ihren Körper, als sie darüber nachdachte, und sie rieb sich die Arme, als würde sie frösteln.

    Es war ein weiter Weg gewesen. Vom Sitz ihrer Großeltern über Land nach Dubris, von dort auf das Schiff und hinaus auf das große Meer am Weltenende, immer das Land als kleinen Schimmer am Horizont behaltend, während sie gen Westen fuhren. Dann nach Süden, um Hispania herum, die rauen Felsen an der Küste gekonnt umschiffend.
    Dann war der Tag gekommen, an dem sie bei den Säulen des Hercules ankamen. Ihr Schiff verbrachte einen halben Tag damit, in sicherer Entfernung zu der Meerenge zu bleiben, um auf den Wechsel der Gezeiten zu warten. Flava stand mit ihrem Bruder auf Deck und beobachtete das, was früher als Ende der Welt galt. Hinter diesen Felsen lag ihr neues Leben, und sie hatte zum ersten Mal Zweifel, ob es richtig war, ihren Vater aufzusuchen. Sie suchte Trost bei ihrem Bruder und fand neue Kraft in seiner unerschütterlichen Stärke, die manche auch als Starrsinn abtaten.
    Schließlich fuhren sie durch die Säulen des Hercules, durch diesen tosenden Schlund schäumender Gischt. Flava hätte es nicht gewundert, an dessen Ende den Strudel der Carybdis zu erblicken und in die Tiefe hinabgesogen zu werden. Die ganze Zeit, in der die Ruderer des Schiffes sich ins Zeug legten, um sie von den beiden Steinwänden fernzuhalten, durch die sie fuhren, hielt sie die Hand ihres Bruders fest umklammert.
    So war es schon immer gewesen, wenn sie Angst hatte. Immer war ihr Zwillingsbruder da gewesen, anders konnte sie es sich gar nicht vorstellen. Wann immer sie ängstlich war, gab seine Unerschrockenheit ihr Kraft, wann immer sie zögerte, ging er mutig voraus, um den Weg für sie zu sichern. Immer wenn sie Angst hatte, konnte sie sich darauf verlassen, dass er sie halten würde. So war es seit dem ersten Tag gewesen, und Flava war sich sicher, dieses Band würde immer bestehen bleiben. Egal, in welche Ferne sie ihn noch führen würde.
    Das Mare Internum war ruhiger, hier kam das Schiff besser voran. Es hielt bei den großen Häfen Hispanias, Karthago Nova und Tarraco, weiter zur Südküste Gallias nach Narbo Martius, um sich schließlich an der Küste Italias nach Süden vorzuarbeiten, bis hinab nach Ostia.


    Als der Hafen in Sicht kam, rief es einer der Matrosen den Passagieren zu. Die meisten derer, die hier auszusteigen gedachten, begannen damit, ihre Habseligkeiten so gut es geht zusammenzusuchen. Ein reges Treiben entstand auf Deck, als die Passagiere und die Matrosen sich mehr und mehr in die Quere kamen, weil jeder nur möglichst schnell noch alles Nötige erledigen wollte.
    Flava bekam davon allerdings nichts mit. Sie hatte die letzte Nacht sehr schlecht geschlafen. Sie hatte von ihrem Vater geträumt, auch wenn sie sein Gesicht nicht gesehen hatte. Aber er war nicht in Rom, wo sie ihn erwartete, sondern an einem anderen, düsteren Ort. Es war dunkel, feucht, und unsichtbare Dämonen lauerten in den Schatten. Sie hörte sie an den Wänden kratzen und vorbeihuschen, wie tausend kleine Füße, die über Steinboden laufen. Sie sah ihn daliegen, nackt, verletzt, und wollte zu ihm gehen. Doch wenn sie ihn berühren wollte, glitt ihre Hand durch ihn hindurch, als wäre er nur ein Nebelhauch, den sie nicht fassen konnte. Und eine unheimliche Hitze lag über der ganzen Szenerie, so dass Flava selbst beim Aufwachen noch war, als wäre ihre Kehle ausgedörrt.
    Ihre Amme war eine abergläubische Person gewesen, und hatte ihr Halbwissen über die Geisterwelt mit den Zwillingen oft geteilt. Und vor allem Flava war dafür sehr empfänglich gewesen. So erinnerte sie sich auch beim Aufwachen an ihre Worte. „Es gibt zwei Arten von Träume. Die einen kommen durch ein Tor aus Elfenbein, und sind ohne Bedeutung. Sie sind nur Schatten unserer Wünsche und Erinnerungen, wild zusammengewürfelt.
    Aber die anderen Träume kommen durch ein Tor aus Horn, und diese sind von den Geistern gesandt. Wenn du einen solchen Traum hast, musst du ihn dir gut merken, denn die Geister wollen dir etwas sagen.

    Flava war sich nicht sicher, ob sie bei diesem Traum zu Beginn durch ein Tor aus Horn oder durch eines aus Elfenbein geschritten war, und diese Frage ließ sie nicht mehr einschlafen. Selbst, als sie sich zu ihrem Bruder gekuschelt hatte und seinem ruhigen Herzschlag lauschte, wollte der Schlaf nicht wieder kommen. Selbst nach den schlimmsten Alpträumen half das normalerweise – wenn sie es aufgrund von Anstand und Moral in den letzten Jahren auch nur sehr selten getan hatte. Aber diesmal lag sie wach und hörte dem Klopfen des Schiffes zu bis zum Morgengrauen.
    Irgendwann im Laufe des frühen Vormittages dann hatte sie sich neben Flavus gesetzt und ihm zugehört. Sie wusste nicht mehr, was er erzählt hatte, sie war zu müde gewesen. Und irgendwann war ihr Kopf dann gegen seine Schulter gesunken, als sie einschlief. Nicht einmal der Ruf des Matrosen oder die hektischen Schritte der Passagiere weckten das junge Mädchen auf.