Beiträge von Decima Flava

    Einen kurzen Moment glaubte sie, dass sie ihn soweit hätte, dass sie mit ihm vernünftig darüber reden könnte. Aber dann machte er sich von ihr los und ging zu seinem Bett, und der Moment war vorbei. Flava schaute kurz traurig zu ihm herüber, denn sie hätte den bösen Geist in seinem Inneren gerne für ihn vertrieben, aber jetzt war es wieder, als wäre überhaupt nichts gewesen. Also atmete sie einmal kurz durch und spielte mit. Ihn jetzt gleich darauf anzusprechen hatte wohl ohnehin nicht viel Sinn, er würde alles abblocken.
    Ich bin aufgewacht und konnte nicht wieder einschlafen. Ich hatte einen schlechten Traum.
    Einen Moment fragte sich Flava, ob es eine Verbindung zwischen ihrem Traum und dem Handeln ihres Bruders gab. Sie wusste nicht, was sie geträumt hatte, dafür war der Traum zu schnell verflogen, aber auch da ging es um Schmerz und Dunkelheit, genau wie sie hier stattgefunden hatte. Vielleicht waren ihre Seelen ja in mehr als einer Weise miteinander verknüpft? Aber vielleicht bildete sie sich das auch ein.
    Ich wollte ja eigentlich damit aufhören, damit kein falscher Eindruck entsteht, aber… ich wollte einfach ein bisschen bei dir sein, bis ich wieder einschlafen kann.
    Normalerweise wäre sie zu ihm ins Bett geklettert und hätte vielleicht bis zum Morgen durchgeschlafen, eng an ihn gekuschelt. Aber das wäre hier im Haus vielleicht wirklich etwas viel gewesen.

    Nur ganz langsam wich die Anspannung aus Flavus Körper. Sie konnte es regelrecht fühlen, wie es nach und nach weniger wurde und er sich mehr an sie kuschelte. Sie blieb einfach nur still stehen, ließ sich von seinen noch vorhandenen Körperreaktionen nicht ablenken. Sie wusste, dass sie nicht ihr galten, sondern der Situation vorhin, also schenkte sie ihnen nicht nähere Aufmerksamkeit. Sie hielt einfach nur ihren Bruder fest, bis er sie beim Namen nannte. Es erinnerte sie an jemanden, der aus einem schlimmen Alptraum aufwachte, und ganz sanft schmiegte sie sich mehr an ihren Bruder, glücklich, dass er wieder da war und die dunklere Hälfte von ihm gewichen schien für den Moment.
    Ich bin da, Marcus. Alles ist gut.
    Mehr gab es noch nicht zu sagen. Sie war jetzt einfach für ihn da und hielt ihn fest, bis er auch den Rest des Traumes abgeschüttelt hätte.
    Kurz galten Flavas Gedanken der Tür. Sie hatte sie nicht abgesperrt, das hatte sie vergessen. Aber es war mitten in der Nacht, und für die paar Momente würde sicher niemand hereinplatzen. Und das hier war jetzt auch wichtiger. Sanft gab Flava ihrem Bruder einen Kuss auf den Kopf, da er sich so an ihren Hals vergraben hatte, dass sie nichts anderes von ihm erreichte. Aber es zählte nur die Geste.

    Flava war nicht blöde, sie wusste, was wohl vorgefallen war. Ein Blick auf die Sklavin hätte genügt, aber als sie dann ihren Bruder erblickte, war auch das letzte bisschen Zweifel weg. Und sie hatte so sehr gehofft, dass sie das hinter sich gelassen hätten! Zuhause in Britannia war so etwas auch ab und zu vorgekommen, und auch wenn Flava ihr Tunlichstes tat und niemals darüber sprach und es auch bei den Sklaven in ihrer Anwesenheit sofort immer unterbunden hatte, hatte sie doch die Gespräche der jungen Sklavinnen im Hause der Großeltern mitbekommen. Und auch das ein oder andere Mal war dort eine Sklavin heulend aus dem Cubiculum ihres Bruders geflüchtet und an ihr vorbei gerannt. Flava hatte so sehr gehofft, dass das hier in Rom anders sein würde. Hier waren es ja nicht seine Sklavinnen, die ihrem Bruder selbst gehörten, sondern die von Meridius. Und hier waren sie so weit weg, es gab so viele Möglichkeiten, den wilden Geist ihres Bruders mit anderen Dingen zu beschäftigen. Aber offenbar war es nicht die Langeweile, die ihn dazu getrieben hatte.
    Sie sah den wütenden Blick ihres Bruders, aber er schreckte sie nicht. Er brauchte sie jetzt, um seinen aufgewühlten Geist wieder zu beruhigen, und sein Zorn und sein Ärger würden sie nicht abhalten. Er hatte ihr noch nie etwas getan, und auch jetzt hatte Flava keine Angst vor ihm. Sie betrat sein Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Dann trat sie einfach auf ihren Bruder zu und umarmte ihn ganz sachte. Sie sagte kein Wort dabei. Vorwürfe waren sinnlos, solange er noch so war. Erst einmal musste er sich beruhigen, und das konnte sie mit Umarmungen besser als mit Worten der Vernunft.

    Es wäre auch zu einfach gewesen, wenn er nach dem Tempel der Diana gefragt hätte. Aber wer konnte schon wissen, dass dieser nicht rund war, wo die meisten anderen ihrer Tempel doch eben dies waren? Flava sollte vielleicht lernen, ihre Zunge mehr im Zaum zu halten und nicht vorschnell und unüberlegt reden. Normalerweise war das ja auch gar nicht ihre Art, nur in diesem Fall hatte sie sich hinreißen lassen. Das würde ihr nicht noch einmal passieren.
    Und so schwieg sie auch zunächst auf die neue Frage hin. Sie wollte sich nicht noch einmal in die Nesseln setzen, wenn sie etwas Falsches sagen würde. Auch wusste sie nicht so recht, was genau Orestes wissen wollte. Ging seine Frage mehr in die Richtung, den Unterschied zwischen der Hausreligion mit den Lararien auf der einen Seite und den Tempeln und Gottheiten in der Öffentlichkeit auf der anderen Seite herauszuarbeiten? Oder wollte er vielmehr wissen, was man alles tun musste, ehe man einen Tempel an einem Ort errichten konnte? Flava hätte ihm das schon beschreiben können, von der litatio der Auguren und der consecratio des Bauleiters, anschließend die effatio wieder durch den Auguren, und schließlich, wenn der Tempel stand, dann noch die feierliche Weihung des Tempels, damit sie der jeweiligen Gottheit auch gehörte. Oder aber als dritte Möglichkeit wollte er wirklich mehr über ihre Kenntnisse über die Kulte wissen und die Unterschiede zwischen den Arvalbrüdern, den Luperci und den Saliern erfahren? Da wäre Flava wiederum nicht so gefestigt in ihrem Wissen. Ehe sie also wieder einfach so drauflos plapperte und mehr riet als wusste, fragte sie vorsichtshalber noch einmal nach.
    Verzeih, aber wie meinst du die Frage? Wie der Bauplatz beschaffen sein muss, damit man einen Tempel errichten kann, oder möchtest du die Unterschiede zwischen der Verehrung zuhause und der im Tempel erfahren?
    Flava ließ das mit den Kulten lieber erstmal weg, die Frage klang ihr dann doch zu abwegig. Und sie wollte ja nicht an ihrem ersten Tag als dumm dastehen.

    Mitten in der Nacht war Flava aufgewacht. Sie hatte schlecht geträumt. Sie wusste nicht mehr so genau, was sie geträumt hatte, aber es war verstörend gewesen. Sie wusste noch, dass sie erschrocken war, und etwas wie ein Schmerzenslaut oder auch ein Wimmern hallte in ihren Ohren nach. Aber es entglitt ihr langsam, als sie aufwachte, und sie konnte es nicht wirklich festmachen. Eigentlich hätte sie sich wieder hinlegen sollen und einfach weiterschlafen, aber in ihrem neuen Zimmer fühlte sie sich noch nicht so heimisch. Also hatte sie sich schnell eine sehr weit geschnittene Tunika übergezogen, und war hinaus auf den Gang gehuscht.
    Schon als kleines Kind war sie bei Alpträumen immer zu ihrem Bruder ins Zimmer geschlichen. Eigentlich hatte sie sich ja vorgenommen, dies nun in ihrem neuen Zuhause zu unterlassen, schon allein aufgrund der möglichen Komplikationen, weil sie nun mal eine Frau und ihr Bruder ein Mann war und sie beide im heiratsfähigen Alter. Wenn sie dann verschlief und bei ihm morgens aus dem Zimmer kam, könnte das schon gewisse Vorurteile erwecken. Auch wenn dazu keinerlei Grund bestand, aber Flava wollte ihre Verwandten da nicht unbedingt auf falsche gedanken bringen.
    Doch heute war sicherlich eine Ausnahme. Immerhin war hier alles noch neu, und der Traum hatte sie wirklich verstört. Sie wollte ja auch gar nicht die ganze Nacht bleiben, aber ein wenig mit ihrem Brüderchen zu reden würde ihr sicher gut tun.
    Also kam sie leger gekleidet an seinem Zimmer an und klopfte sacht an. Sie hörte etwas von drinnen, und es klang fast so verstörend wie ihr Traum. Kurz zögerte Flava und lauschte an der Tür. Eigentlich machte sie sowas ja nicht, denn es gehörte sich nicht, aber sie wollte einfach wissen, ob sie sich dieses Wimmern nun nur noch aufgrund ihres Traumes eingebildet hatte, oder ob sie das wirklich gehört hatte. Aber sie hörte eindeutig ein ängstliches Geräusch aus dem Zimmer ihres Bruders.
    Sie klopfte noch einmal. „Marcus?“, fragte sie leise gegen die Tür.

    Ich würde nie lauschen, Marcus, es ist nur… oh, du bist gemein!
    Am Anfang wollte sie sich noch rechtfertigen, dann sah sie aber seinen schelmischen Gesichtsausdruck und sah ihn vorwurfsvoll an. Aber nur kurz, da sie zum einen viel zu glücklich über den bisherigen Verlauf des Tages war und zum anderen ihrem Bruder einfach nicht lange böse sein konnte. Erst recht nicht wegen so einem kleinen Spaß.
    Als ihr Bruder ihr ihren Cousin vorstellte und dieser ihr auch gleich seinen Praenomen nannte, strahlte Flava regelrecht. Sie hätte nie gedacht, dass sie von allen so freundlich aufgenommen werden würden, aber so lieb wie alle zu ihr waren, fühlte sie sich schon fast wie zuhause. Und noch besser, wenn sie den Stammbaum nicht völlig durcheinanderbrachte, war das hier ihr „richtiger“ Cousin, nicht ein entfernterer Verwandter, sondern einer der nächsten. Dass dieser sie so freundlich begrüßte, freute die junge Frau gleich noch einmal mehr, und sehr gerne nahm sie die Einladung an und setzte sich zu den beiden Männern.
    Oh, Rom ist wunderschön. Nur etwas groß. Wäre Meridius nicht so nett gewesen, mir einen Sklaven als Stadtführer mitzugeben, glaube ich, ich hätte mich vorhin verlaufen. Hier gibt es auch so viel zu sehen!
    Flava bekam einen fast schwärmerischen Gesichtsausdruck. Rom war wirklich wundervoll, allein die Tempel waren mehr als nur sehenswert. Sie war von dieser Stadt gänzlich verzaubert bislang, auch wenn sie die bloße Ausdehnung ein wenig erschreckte.
    Und bislang sind hier alle so freundlich. Auch der Septemvir eben. Ach, wo hab ich nur meinen Kopf, das kannst du ja gar nicht wissen. Ich war eben beim Cultus Deorum, um mich als Schülerin zum Dienst an den Göttern zu melden.“ Und jetzt wandte sie sich ganz freudig aufgeregt ihrem Bruder zu. „Und sie haben ja gesagt. Ich muss nur noch auf einen Brief warten, aber dann kann ich Priesterin werden, genau wie Mutter. Ist das nicht wundervoll?
    Flava fand es so wundervoll, dass sie übers ganze Gesicht geradezu strahlte, während sie zwischen ihrem Bruder und Faustus hin und her blickte. Sie konnte es kaum erwarten und war so überglücklich, dass es so unkompliziert und schnell doch geklappt hatte.

    Von heute Abend an die nächsten 7 Tage nur seeeeehr sporadisch anwesend. Rechnet also lieber nicht mit schnellen Antworten bei mir, vor Sonntag bin ich wahrscheinlich gar nicht anwesend.

    Einen Moment blinzelte Flava verwirrt. War diese Frage eine Falle, oder hatte der Lehrer sie dennoch so einfach gestellt? Zwar war Flava noch nie auf dem Aventin, aber sie war sich dennoch ganz sicher, dass er den Tempel ihrer geliebten Göttin, den Tempel der Diana meinte. Da war sie sich so sicher, dass sie entgegen ihrer sonst doch sehr zurückhaltenden Art nicht wartete, ob Verus, der ja immerhin der ältere Schüler war und damit sicher den Vorrang hätte haben sollen, die antwort wusste. Nein, sie ergriff selber das Wort, wenn auch sehr zaghaft.
    Du meinst den Dianatempel auf dem Aventin? Der wurde errichtet nach einer Seeschlacht bei Sicilia, weil diese in der Nähe eines Heiligtums der Artemis stattfand. Bei…“ Oh, jetzt musste Flavas schlechtes Gedächtnis für Geographie aber ganz schön arbeiten. „…Naulochos?“ Das war mehr geraten als gewusst. Aber beim Rest war sie sich dafür ganz sicher. Runder Tempel, allein das sprach für Flava schon Bände.
    Trotzdem, auch wenn sie sich eigentlich sicher war, blieb ein bisschen Restzweifel bestehen. Immerhin war sie noch nie selber dort gewesen und hatte es nicht mit eigenen Augen gesehen. Sie wusste das nur, weil sie sich für schlicht und ergreifend alles interessierte, was die Göttin anbelangte.
    Entschuldigend schaute sie danach noch zu ihrem Mitschüler. Hoffentlich war sie ihm jetzt nicht ins Wort gefallen und hatte es sich damit mit ihm verdorben. Eigentlich war sie ja doch eher zurückhaltend.



    Sim-Off:

    Das mit dem Jahr musst aber noch erklären, dazu hab ich mal nix gefunden. Oder ich habs total falsch :D

    Nachdem sie sich zum Cultus Deorum gemeldet hatte, war Flava von Freude erfüllt wieder nach Hause gegangen. Sie hätte nie geglaubt, dass das alles so einfach gehen sollte. Aber es hatte das kurze, hastig aufgesetzte Briefchen ihres Bruders gereicht, und sie hatte den Eid sprechen dürfen. Jetzt hieß es also nur noch warten, bis eine neue Nachricht sie aufforderte, sich zu ihrem Lehrer zu begeben. Flava konnte es kaum erwarten.
    In diesem Gefühl religiösen Eifers und Vorfreude beschloss sie, in den Garten zu gehen. Sie hatte die Laube für Diana bereits an ihrem ersten Tag entdeckt, und sie wollte jetzt die Nähe zur Göttin suchen. Sie fühlte sich ihr im Moment so verbunden, dass sie gerne eine Weile einfach nur in ihrer Laube sitzen wollte und die Statue bewundern, vielleicht ein wenig beten.
    Also schlenderte sie dahin, direkt zu der Laube, als sie die Stimme ihres Bruders hörte. Sehen konnte sie ihn nicht, dazu war die Laube noch zu gut abgeschirmt. Wenn die letzten Blätter endgültig gefallen wären, konnte man vielleicht mehr einsehen, aber im Moment hörte sie ihn nur. Er sprach mit jemandem über ihre Großeltern, und über sie. Noch beschwingt von der Vorfreude der Anmeldung trat Flava lächelnd in die Laube.
    Du redest über mich, Bruderherz?“, meinte sie freudig lächelnd und ließ ihren Blick daraufhin zu seinem Gesprächspartner schweifen. Er hatte etwas vertrautes an sich, aber sie war sich sicher, ihn noch nie getroffen zu haben. Dennoch bekam er ein ebenso warmes Lächeln wie ihr Bruder, sie war einfach viel zu glücklich, um auf so etwas zu achten.
    Salve“, begrüßte sie den Unbekannten und überließ es ihrem Bruder, ihr seinen Gesprächspartner vorzustellen.

    Oh, Flava war es schon recht, wenn sein Leibwächter auch etwas näher bei ihnen blieb. Natürlich wäre sie gerne mit Verus allein, aber sie konnte ja nicht mit ihm allein sein. Das war vollkommen unmöglich, und da eine Anstandsperson – auch wenn es nur ein Leibwächter war – dabei zu haben, war wohl doch besser für alle Beteiligten. Dann musste sich Flava schon nicht zu viel überlegen, ob sie das durfte, und die Anwesenheit eines weiteren Zuhörers würde auch ihre Worte nicht ungebührlich werden lassen. Nicht, dass Verus sie noch für aufdringlich oder ähnliches hielt.
    Dass er allerdings ihre Verwandten vielleicht doch sprechen wollte, ließ ein flaues Gefühl bei Flava aufkommen. Natürlich wäre es wohl besser, es so zu handhaben, allerdings konnte dann auch leicht der falsche Eindruck entstehen. Sie gingen ja nur zu einem Tempel und nicht mehr, er wollte sie ja nicht gleich heiraten. Oder etwa doch? Flava war nun mehr als nur ein wenig verunsichert, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Sie kannte die Duccier nicht und hatte keine Ahnung, inwieweit Verus denn auch in einem solchen Fall eine passable Partie für die Tochter eines Senatoren war. Und sie wollte jetzt nicht zuviel hoffen oder träumen.
    Nun, ich denke, das wird nicht unbedingt nötig sein. Außer natürlich, du möchtest es gerne, dann könnte ich schon ein Treffen mit meinem Bruder arrangieren. Die meisten meiner anderen männlichen Verwandten sind leider gerade… nicht da.
    Flava überlegte einen Moment, ob sie ihn gleich von sich aus aufklären sollte, aber entschied sich dann dagegen. Wenn er es genauer wissen wollte, würde er fragen, und sie wollte da ja auch nicht aufdringlich sein. Abgesehen davon war die ganze Sache ziemlich kompliziert und nicht unbedingt das beste Gesprächsthema für den Platz hier und den eigentlich unverfänglichen Tempelrundgang.
    Die junge Römerin hoffte, er würde ihr Angebot ablehnen. Je weniger ihr Bruder in diesem Fall wusste, umso besser wäre es vermutlich. Sie liebte ihn ja, wirklich, aber manchmal konnte er so schrecklich besitzergreifend und eifersüchtig sein, und das, obwohl er dazu gar keinen Grund hatte. Und sie wollte sich das mit Verus nicht durch ihn kaputt machen lassen, was immer das hier auch sein oder mal werden mochte. Denn dafür war es viel zu schön.

    Sie kamen ein wenig zu spät und hatten den Start des Rennens verpasst. Aber Flava machte sich daraus ohnehin nicht so viel. Sie wollte hier eigentlich nur anwesend sein, um auch ja pünktlich zum anschließenden Opfer zu kommen. Sie hatte dabei zwar keine wichtige Rolle zu spielen, aber sie sollte es hautnah miterleben, um etwas dabei zu lernen. Die junge Frau hoffte ja so sehr, dass sie alles richtig machen und sich vor ihrem Lehrer und vor Verus nicht durch irgendetwas blamieren würde. Nun, eigentlich konnte sie ja nichts falsch machen, hatte sie doch keine wirkliche Aufgabe außer dazustehen, still zu sein und etwas zu lernen. Aber man sollte den Tag bekanntlich nicht vor dem Abend loben.
    Sie hielt sich leicht an ihrem Bruder Flavus fest, als dieser für sie beide einen Platz suchte, von wo aus sie das Rennen sehen konnten. Ihr Bruder begeisterte sich wohl ein wenig mehr für dieses Spektakel, hatte sie den Eindruck. Sie sah gerade, wie sich mehrere Wagen ineinander verkeilten und versuchte, auszumachen, ob es einen ihrer Verwandten erwischt hatte. Als sie Serapio aber davor sah, war sie einerseits beruhigt und andererseits besorgt. Hoffentlich entkam er diesem Wagenknäuel.
    Sie konnte gar nicht hinsehen, als Flavus endlich einen Platz für sie beide gefunden hatte. Stattdessen ließ sie ihren Blick einmal über die Menge schweifen. Die Menschen waren wohl begeistert von dem Schauspiel, das sich ihnen bot, und hier und dort hoffte der ein oder andere blutrünstigere Mitbürger wohl auf einen schlimmeren Unfall. Flava schaute über die Ränge, ob sie vielleicht jemanden bekanntes sah. Vielleicht noch jemanden aus ihrer Verwandtschaft, wenn das auch nicht zu wahrscheinlich war.
    Und tatsächlich fand sie jemanden, den sie kannte. Einen Augenblick lang vergaß sie die Menschen um sich herum und musste leicht Lächeln, als sie in einiger Entfernung Verus mit Orestes stehen sah. Seine blonden Haare erkannte sie sofort, auch wenn er es bei ihr mit ihrer Palla wohl schwerer haben würde. Und sie wollte auch nicht zu lange schauen und drehte sich schnell wieder zu ihrem Bruder, an den sie sich ganz kurz leicht anschmiegte.
    Haben wir viel schon verpasst?“, fragte sie ihn leichthin. Von Rennsport hatte sie keine Ahnung.

    Wenn es in Mogontiacum dann wirklich einen Diana-Tempel gab, und wenn sie hier wirklich Priesterin für Diana werden würde, dann könnte sie ja vielleicht… Nein, schalt sie sich selber in Gedanken, in diese Richtung sollte sie gar nicht erst denken. Das lag nicht an ihr, so etwas zu entscheiden, daher sollte sie da auch nicht zuviel drüber nachdenken oder gar in Tagträume verfallen. Das war einer Decima nicht würdig.
    Nun, ich war selbst noch nie auf dem Aventin, ich weiß nur, was man sich so erzählt. Aber dort leben vor allem die, die weniger von Fortuna gesegnet wurden, und ich habe gehört, es gäbe auch immer mal wieder Unruhen. Meridius erzählte mir, dass sogar die Frau eines Senators auf offener Straße überfallen wurde. Und ich kenne mich in der Stadt noch nicht so gut aus, da wäre ich denke ich ein leichtes Opfer.
    Über seinen Vorschlag aber musste Flava erst einen Moment nachdenken. Natürlich wäre es toll, den Tempel zu besuchen, und noch viel großartiger wäre es, wenn er sie auf dem Weg begleiten würde. Wenn er einen Custos Corporis hatte, umso besser. Aber ihm zuzustimmen widersprach eigentlich dem, was sie eben für sich beschlossen hatte. Und ob sie so eine Einladung einfach so annehmen durfte, war sie sich auch nicht so sicher.
    Was dein Angebot angeht, finde ich es eine großartige Idee. Aber ich glaube, ich sollte vorher vielleicht meine Verwandten fragen. Wenn du auf einmal vor meiner Türe stehst und mich abholen willst, und niemand weiß etwas davon, könnte das seltsam aussehen, nicht?
    Flava würde zumindest ihren Bruder darauf vorbereiten müssen. Sie kannte sein Gemüt, und sie wollte nicht, dass er etwas Dummes tat. Sie hatte Verus wirklich gern, vielleicht sogar mehr als das, und sie wollte unbedingt vermeiden, dass ihr Bruder und er aneinandergerieten. Vermutlich würde ihr Bruder auch mit einiger Vorarbeit Verus nicht leiden mögen. Manchmal glaubte Flava, dass Flavus eifersüchtig war auf jeden Mann, der sie auch nur ansah. Aber zumindest schlimmeres konnte sie so verhindern.
    Aber da fiel ihr noch eine zweite Möglichkeit ein! Eigentlich war es ja viel zu verwegen, und Flava sollte es gar nicht erst bedenken, geschweige denn vorschlagen. Aber so würde sie auf jeden Fall gewähren können, dass nichts Unvorhergesehenes geschah.
    Oder wir machen das direkt im Anschluss an den Unterricht hier. Dann sparen wir uns auch ein wenig Weg.
    Nun, dieser Vorschlag war geradezu verwegen. Eigentlich passte das gar nicht zu Flava, die sonst sich stets bemühte, alles akkurat und korrekt zu machen. Aber in diesem Fall würde das bedeuten, ein „nein“ von ihrem Bruder zu riskieren, und sie wollte doch sehr gerne mit Verus den Tempel besuchen. Wirklich, wirklich gerne. Aber bevor sie wieder zu träumen anfing – sie merkte schon wieder dieses Kribbeln im Bauch, dass ihre Tagträume grade begleitete – kam sie lieber noch auf eine andere Bemerkung seinerseits zu sprechen.
    Und du bist gut im Bogenschießen?

    Nein, Flava wusste eigentlich nicht, was er meinte. Oder sie versuchte zumindest, nicht darüber nachzudenken, ob sie wusste, was er meinte. Nur mit ihm unter vier Augen irgendwo zu sein ohne die regelnden Augen einer Aufsichtsperson, nur sie und er, das war nicht einmal vorstellbar. Nicht, dass sich Flava in diesem Moment nicht doch vorstellen würde, wie das wäre, aber jede Regel des Anstandes und der Sitte verbot, auch nur in diese Richtung zu denken. Sie war eine anständige, junge Frau. Vielmehr noch, sie war angehende Priesterin.
    Und dann schaute ihr Verus in die Augen, und ihr Widerstand brach beinahe in sich zusammen. Sie schaute ihm in seine Augen, unfähig, sich zu bewegen oder etwas zu sagen. Ihr war gar nicht aufgefallen, wie blau seine Augen waren. Aber jetzt sah sie hinein, sah jede kleine Farbnuance, jeden kleinen Punkt in der Iris, und war wie gefesselt. Er hatte etwas so bestimmendes in seinem Blick, dass Flava ganz seltsam zumute wurde. Als würde ihr Mund plötzlich trocken und ihre Knie schwach, aber sie stand immer noch ganz ruhig da.
    Doch dann redete Verus weiter, und der Bann war gebrochen. Flava schluckte, um die Trockenheit aus ihrem Mund zu bekommen, und sah schnell zu Boden. Sie fühlte sich irgendwie ein bisschen schwindelig, wollte sich aber nichts anmerken lassen. Das wäre ihr jetzt doch zu peinlich gewesen. War Verus nur von ihr dann denken würde? Hoffentlich dachte er das nicht jetzt schon von ihr. Immerhin hatte nur ihr Vater das recht, sie irgendwie zu vergeben und sie hatte kein Recht, sich zu verlieben. Und daher tat sie das auch gar nicht, beschloss sie nun einfach.
    Nun, bei den vielen Wäldern in Germania gibt es sicher auch viel Wild. Für die Göttin der Jagd wäre das sicher ein guter Platz, wenn ihr da ein Tempel oder ein Schrein errichtet würde.
    Was redete sie da für belangloses Zeug? Fiel ihr denn nichts besseres ein?
    Hier ist ihr Tempel ja auf dem Aventin. Ich wollte ihn auch noch besuchen, aber der Cousin meines Vaters, Decimus Meridius meinte, es sei gefährlich und ich solle für den weiten Weg lieber einen Leibwächter mitnehmen. Deshalb war ich dort noch nicht.


    Und der diesjährige Preis für belanglose Gesprächsthemen geht an…

    Es gab Dinge, die Flava wusste, Dinge, die sie sich vorstellen konnte und dann gab es Dinge, die sie sich nicht vorstellen konnte. Dass es in Mogontiacum keine vernünftige Priesterschaft geben sollte gehörte eindeutig zu letzteren Dingen. Ein klein wenig war sie da geschockt. Selbst im fernen Britannia hatte es Priester gegeben. Nungut, Flava hätte sich auch dort etwas mehr Präsenz des Cultus Deorum gewünscht, aber sie würde nie soweit gehen, zu sagen, dass es dort keine festen Priester gab. Das war für sie nun ein kleiner Schock.
    Ich muss zugeben, dass mich das nun doch ein wenig überrascht. Ich habe schon gehört, dass viele Germanen noch ihren alten Göttern eher opfern als den römischen. Aber dass es so schlimm ist, wie du sagst, erstaunt mich jetzt doch.
    Oh, das soll jetzt kein Vorwurf sein, versteh mich nicht falsch. Ich dachte nur… nun, ich weiß auch nicht, was ich dachte.

    Das war noch ein Grund mehr, warum sie für Verus hoffen sollte, dass er bald seine Ausbildung abschließen könne. Ihn erwartete nicht nur seine Familie und seine Zwillingsschwester, sondern auch eine wirklich große Aufgabe. Man könnte fast sagen, die Götter selbst erwarteten wohl ungeduldig seine Rückkehr, damit sie angemessen verehrt werden konnten. Und doch konnte sie keine rechte Begeisterung dafür aufbringen. Sie fühlte sich deswegen auch schuldig, aber nichts desto trotz wäre es ihr lieber, er würde noch eine ganze Weile in Rom bleiben.
    Bis ihr Vater gefunden war und heimgekehrt, würde sie wie versprochen in Rom warten. Und dann würde sie auch viel Zeit mit ihm verbringen, um ihn kennen zu lernen und zu erfahren, wie seine Vergangenheit war. Und schließlich oblag ja auch ihm die Entscheidung über ihr weiteres Leben. Sie würde also wohl noch eine ganze Weile hier in Rom bleiben müssen. Wobei sie selbst auch nicht wusste, ob sie denn woanders überhaupt hingehe wollte.
    Ich nehme wohl richtig an, dass in Mogontiacum Diana wohl kaum verehrt wird?
    Ganz leicht musste Flava bei ihren Worten schmunzeln. Wenn es wirklich so schlimm stand, wie Verus gesagt hatte, würde es dort wohl kaum einen Tempel für die Mondgöttin geben. Und selbst wenn, Flava sollte in diese Richtung gar nicht erst zu denken anfangen.

    Ob er nach seiner Prüfung wieder nach Mogontiacum gehen würde, hatte er ihr nicht beantwortet. Flava war das sofort aufgefallen, denn das war eigentlich die Frage, die sie fast am meisten interessierte. Eigentlich sollte es ihr ja egal sein, oder vielmehr noch sollte sie sich für ihn freuen, dass er bald zu seiner Schwester dann gehen könnte. Sie fühlte sich da auch ein wenig schuldig, dass sie offenbar so egoistisch war. Aber ihr wäre es doch sehr lieb, würde er noch eine Weile bleiben.
    Und dann berührte er sie! Es war nur eine ganz sanfte Berührung, als er sich drehte und sie in die richtige Richtung führen wollte. Aber trotzdem kribbelte ihre Haut an der Stelle, als die Berührung geendet hatte. Auch wenn die Berührung an sich sehr unschuldig war, war sie doch aufregend für Flava. Bisher hatten sie fast ausschließlich Verwandte oder Sklaven mal berührt, vielleicht hier und dort mal eine Umarmung zur Begrüßung bei Menschen außerhalb der Familie. Aber das hier, obwohl es nur ganz kurz war, war anders.
    Verlegen schaute Flava ein wenig zu Boden beim gehen, aus Angst, ihre Wangen wären rot geworden und er könnte das sehen. Das wäre wirklich überaus peinlich und unschicklich. Nachdem vorhin offenbar ihre Ohren schon leicht geglüht hatten, wäre das noch die Steigerung davon gewesen, und Flava wollte eigentlich nicht so einen Eindruck bei Verus hinterlassen. Immerhin war sie angehende Priesterin und nahm das auch dementsprechend ernst! Und sie wollte ja wirklich die Tempel sehen und es war nicht nur eine billige Ausrede gewesen, mit ihm Zeit zu verbringen.
    So liefen sie eine Weile schweigend nebeneinander her, bis sie beim Tempel des Mercurius angelangt waren. Da hatte Flava sich auch wieder soweit im Griff, um das Gespräch mit Verus wieder normal aufzunehmen.
    Oh, da fällt mir ein, ich muss Mercurius noch ein Opfer darbringen für die gute Reise von Britannia hierher. Bevor wir aufgebrochen sind, haben wir schon geopfert, aber ein kleines Dankesopfer ist ja nie verkehrt. Aber jetzt weiß ich ja, wo sein Tempel ist.
    Flava hatte nicht vor, jetzt sofort zu opfern. Sie hatte auch gar nichts Passendes gekauft, was sie dem Gott darbringen konnte, und ihre Gedanken kreisten auch vielmehr um andere Dinge. Sie wollte Mercurius schon die nötige Aufmerksamkeit dann auch widmen, so dass er ihr Opfer auch annehmen würde. Bevor also Verus noch auf die Idee kam, dass sie das jetzt machen wollte, stellte sie ihm also lieber noch einmal eine Frage.
    Gibt es in Mogontiacum auch so herrliche Tempel?

    Flava wollte sich gar nicht vorstellen, wie es wäre, sollte sie dauerhaft von Flavus getrennt sein. Und dann auch noch auf diese große Distanz! Sie freute sich ja schon jeden Tag aufs Abendessen, weil er da dann wieder in ihrer Nähe war, wo er den ganzen tag am anderen ende der Stadt war. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie es wäre, er wäre am anderen Ende der Welt, und sie müsste lange warten, ihn umarmen zu können.
    Da konnte sie Verus sehr gut verstehen, wenn er bald zu ihr wollte, und doch fand sie es eigentlich schade. Sie kannte Verus ja erst seit ein paar Stunden, also wollte sie nicht an irgendwelche Gefühle oder ähnliches auch nur denken. Abgesehen davon lag das ja auch gar nicht an ihr, sowas zu entscheiden, und sie war da viel zu vernünftig. Aber dennoch fand sie seine Gegenwart sehr angenehm und unterhielt sich gerne mit ihm. Und er war auch Zwilling! Wie oft würde sie wohl jemanden treffen, mit dem sie sich darüber wirklich unterhalten konnte, und vor allem, der das verstehen würde?
    Oh, ja, das kenne ich. Mein Bruder und ich müssen nicht einmal miteinander sprechen, und trotzdem merkt jeder, wenn der andere etwas hat. Es ist so… ich weiß nicht, ist das bei euch beiden auch so? Also, als ich klein war, und er ist hingefallen, dann hat mir alles weh getan, obwohl ich gar nicht hingefallen bin. Ich weiß, das klingt verrückt.
    Nun, das klang wirklich sehr abstrus vielleicht, aber es entsprach ja der Wahrheit! Flava war sich auch jetzt ganz sicher, dass sie es sofort merken würde, wenn ihr Bruder in Gefahr wäre. Da war sie sich ganz sicher. Aber vielleicht war das ja nicht bei allen Zwillingen so? Ein klein wenig kam sie sich dumm vor, dass sie so vorschnell geredet hatte, und versuchte, dem allen durch eine erwachsene Körperhaltung wieder etwas Würde zu verleihen. Sie wollte sich ja nicht benehmen wie ein kleines Kind, immerhin war sie eine angehende Priesterin. Und er war schon beinahe ein Priester.
    Musst du denn noch viele Prüfungen machen, bis du Priester bist? So, wie ich das vorhin verstanden habe, bist du doch schon beinahe fertig? Und gehst du dann gleich zurück nach Mogontiacum?
    Nun, das waren eine ganze Menge Fragen auf einmal. Eigentlich übte sich Flava ja eher in Zurückhaltung und hörte eher zu, als selbst zu reden, oder machte eher kleine Kommentare. Aber in diesem Fall war sie einfach neugierig. Vielleicht lag es daran, dass sie das Gefühl hatte, nur wenig Zeit mit Verus zu haben, bevor er wieder ging. Also musste sie ja in der wenigen Zeit ihn all das fragen, was sie von ihm wissen wollte, sonst wäre es zu spät.

    Das hörte sich nach Abschied an, also stand Flava auch auf und wandte sich ihrem Bruder zu. Er hätte auch gerne noch länger bleiben können, aber wenn er noch vor dem Abendessen zur Schola wollte, musste er sich wohl ohnehin beeilen. So lange war es ja nicht mehr hin bis zum Essen. Also bekam Flavus noch zum Abschied einen geschwisterlichen Kuss auf die Wange, ehe er das Zimmer verließ, und Flava widmete sich ihrem Brief.


    Das Problem mit dem passenden Anfang hatte sie immer noch nicht gelöst, aber dennoch nahm sie die Feder in die Hand. Vielleicht war es das beste, einfach mal zu schreiben, was ihr in den Sinn kam, und später darüber nachdenken, ob sie es so lassen konnte? Den Brief neu schreiben und diesen hier wegwerfen konnte sie immer noch. Es war ja nicht so, als würde sie das in Marmor einmeißeln lassen.



    Lieber Vater,


    es ist seltsam für mich, diese Zeilen zu schreiben, wusste ich doch bis vor wenigen Monaten noch nichts von dir. Ich nehme an, du wirst ebenso überrascht sein, wenn Meridius oder Mattiacus dir von mir und meinem Bruder erzählen. Auch wenn du in dem Moment, in dem du diesen Brief erhalten wirst, viele Meilen von uns entfernt sein wirst, hoffe ich, dass diese Zeilen uns ein wenig näher bringen, bis ich dir gegenüberstehe.


    Ich weiß gar nicht so recht, wo ich beginnen soll. Vielleicht schreibe ich zunächst, was geschehen ist, denn ich weiß, dass meine Großeltern zu dir keinen Kontakt gehalten haben. Ich hoffe, du kannst ihnen vergeben. Sie sind gute Menschen und haben sich fürsorglich um meinen Bruder und mich gekümmert. Aber der Schmerz über den Verlust der geliebten Tochter ließ sie schweigen.
    Aemilia war schwanger, als sie nach Britannia aufbrach, nicht krank, wie vermutet wurde. Aber die Schwangerschaft verlief schwierig, und bei der Geburt gab es Komplikationen, weshalb sie letztendlich verstarb. Unsere Großeltern haben uns aufgezogen, ohne dir von unserer Geburt zu berichten. Ich bete zu den Göttern, sie mögen diese Tat vergeben, ebenso wie ich hoffe, dass du es ihnen vergeben kannst.
    Unsere Kindheit war schön, und es fehlte uns an nichts. Wir wussten zwar, wer unsere Mutter war, aber den Vater verrieten uns unsere Großeltern nicht. Verzeih mir, dass ich nicht früher danach gefragt habe. Dein Sohn, Marcus, genannt Flavus, aber war forscher als ich und hat oft gefragt. Schließlich vor einem halben Jahr in etwa haben unsere Großeltern seinem Fragen nachgegeben und uns deinen Namen genannt.
    Ich wollte dich gerne kennen lernen, und hoffe, du nimmst uns beide als deine Kinder auch an. Als wir hier in Rom ankamen, erfuhren wir, dass du vermisst bist. Ich werde jeden Tag zu Merkur beten, er möge dir einen Weg zurück zu uns zeigen. Dein Vetter Meridius nahm uns sofort herzlich auf, so dass wir hier auf deine Rückkehr warten werden. Ich danke ihm sehr dafür, dass er uns dies ermöglicht.


    In der Zwischenzeit werde ich mich zum Cultus Deorum begeben. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als Priesterin der Diana zu werden, ebenso wie Mutter eine war. Ich hoffe, dies ist auch in deinem Sinne. Neben meinem Wunsch, dich kennen zu lernen, ist dies das einzige, was in meinem Herzen ist. Ich hoffe, ich kann diese Aufgabe so ehrenvoll wie meine Mutter bewältigen.


    Doch sicher möchtest du auch mehr von deinem Sohn erfahren. Flavus ist ein trefflicher junger Mann. Er ist stark, stolz, klug, ein wundervoller Bruder. Manchmal führt ihn sein Ehrgeiz etwas weiter, als es sein Ziel sein sollte, das möchte ich dir nicht verschweigen. Aber er ist der beste Bruder, den man sich nur wünschen kann. In seiner Nähe fühle ich mich mutiger und stärker, weil er verlässlich auf mich aufpasst. Meridius meinte in einem Gespräch vorhin, er hätte deinen Blick und dein Kinn geerbt.
    Verzeih, wenn er selbst hier keine Zeilen schreibt. Manchmal ist er dickköpfig und stur, aber ich weiß, dass er dich auch kennenlernen will. Ich nehme an, er fühlt Loyalität zu unseren Großeltern und sähe es als Verrat an ihnen, dich so ungeduldig zu begrüßen, wie ich es gerade tue. Ich hoffe, du kannst ihm das nachsehen. Wenn du ihn kennenlernst, wirst du sehen, was für ein wunderbarer Mann er geworden ist. Ohne ihn würde ich nun nicht hier auf dich warten und hoffen, dass du bald zurückkehrst.


    Es gibt so vieles, was ich dir gerne noch sagen würde, so vieles, was ich dich gerne Fragen möchte. Dieser Brief ist vermutlich nicht lang genug, und es gibt wohl auch nicht die richtigen Worte dafür. Ich bete, dass du bald heimkehren mögest, damit ich dir all das sagen kann, was in meinem Herzen ist.


    In Liebe
    Flava


    Ihre Ohren waren rot? Flava musste sich schwer beherrschen, nicht nachzufühlen, während Verus zu ihr herschaute. Aber zum Glück drehte er sich gleich, um weiterzugehen, so dass sie eine kleine Sekunde hatte. Natürlich konnte sie mit den Händen ihre Ohren nicht sehen, aber trotzdem fasste sie einmal kurz danach, als er grade nicht herschaute. So heiß fühlten sie sich eigentlich gar nicht an. Trotzdem versuchte Flava, sich ein bisschen mehr zusammenzureißen.
    Was natürlich dank ihres Starrens auf seine Haare reichlich misslang und woraufhin sie sich sicher war, wenn sie vorher nicht rote Ohren gehabt haben sollte, so waren ihr diese jetzt aber bestimmt gewiss. Aber Verus beruhigte sie gleich, und seine Worte ließen sie die Peinlichkeit des Moments kurz vergessen. Er war auch ein Zwilling? Und nicht nur, dass er ein Zwilling war, er hatte eine Schwester! Das war ja wie bei ihr und ihrem Bruder!
    Nun, hoffentlich nicht genauso wie bei ihr und ihrem Bruder. Sie hoffte, dass Verus Mutter sich bester Gesundheit erfreute und das Gemüt seiner Schwester etwas ruhiger war als das ihres Bruders. Ansonsten hatte sie für ein Mädchen sicher einen schweren Stand.


    Ja, mein Bruder wohnt auch hier. Flavus würde mich nie allein lassen, schon gar nicht auf so einer Reise wie von Britannia nach hierhin. Er versucht immer mich vor allem zu beschützen.
    Flava war von der Erkenntnis noch immer ganz aus dem Häuschen und merkte so gar nicht, wie sehr sie Verus anstrahlte. Erst nach einigen Momenten bemerkte sie hier und da den Blick eines Passanten, und sofort nahm sie eine angemessenere Position ihrem Gesprächspartner gegenüber ein. Sie wollte ja nicht Thema des neuesten Tratsches werden, und Verus sicher genauso wenig. Zwar glaubte sie kaum, dass sie schon irgendjemand auf der Straße kannte, aber man musste ja deshalb nicht leichtsinnig sein.
    Aber eine kleine Hemmschwelle war nun wie weggezaubert, so dass Flava ein wenig mehr lächelte und auch ein wenig mehr zu Verus schaute, wenn sie mit ihm sprach und ihre Haltung nicht mehr ganz so formell war. Sie hatte noch nie einen anderen Zwilling getroffen, und da war nun die Neugierde natürlich groß, ob es ihm mit seiner Schwester ebenso ging wie ihr und Flavus.
    Und deine Schwester, ist sie auch mit dir hier in Rom?

    Ein wenig schade war die Vorstellung, dass sie wohl nicht immer gemeinsam ihre Unterrichtsstunden haben würden. Immerhin kannte Flava bislang in Rom niemanden, und sie fand ihren Mitschüler sehr angenehm. Sie fand es richtig nett, wie er sich hier für sie Zeit nahm und ihr die Tempel zeigte und sich mit ihr unterhielt. Flava unterhielt sich doch sehr gerne, hatte nur leider viel zu selten Gelegenheit dazu. Nungut, im Unterricht sollte sie sich ohnehin aufs Lernen konzentrieren und nicht auf den jungen Mann neben sich oder irgendwelche Gespräche mit ihm. Aber so wie heute nach dem Unterricht einfach noch ein wenig miteinander spazieren und reden, das war doch auch etwas.
    Aber andererseits war so natürlich auch gewahrt, dass kein falscher Eindruck entstand. Flava konnte sich schon vorstellen, was ihr Bruder sagen würde, wenn sie ihm erzählte, dass sie desöfteren mit ihrem Mitschüler spazieren ging. Nein, vielleicht war es da besser, wenn sie sich nicht immer sahen, dann konnte Flava auch bestimmt viel konzentrierter lernen. Und dafür war sie ja auch schließlich da.
    Und so, wie es sich anhörte, würde sie noch eine ganze Menge lernen müssen. Sie hatte ja geglaubt, eigentlich schon sehr gutes Wissen zu besitzen, sie hatte ja schon immer fleißig und gehorsam alles gelernt, was mit den Göttern zu tun hatte. Es war ja nicht so, als hätte sie sich erst in den letzten Monaten dazu entschieden, Priesterin zu werden. Für sie war das schon sehr lange klar, schon seit sie noch ganz klein war. Daher hatte sie wohl einfach gehofft, dass sie das ganze etwas schneller konnte. Aber Verus schien etwas anderes zu glauben, und er hatte da Erfahrung. Das machte Flava schon ein wenig traurig, aber sie wollte sich nichts anmerken lassen. Außerdem hatte er recht, sie sollte lieber konzentriert lernen und nichts überstürzen.
    Er zeigte ihr den Tempel der Iuno und der Venus, und bei beidem achtete sie fast mehr auf ihn als auf die Tempel. Als er Venus erwähnte, schaute er auch gerade zu ihr herüber, und Flava fühlte sich ertappt und schaute daher höchst interessiert wirkend zu dem Tempel hinüber. Nun, sie ehrte Venus, wie es der Göttin wie jeder anderen Gottheit auch gebührte, aber dieses intensive Interesse an ihrem Tempel nun kam nicht wirklich von Herzen. Sie wollte eher die peinliche Situation überspielen. Seine Frage allerdings ließ es nicht ganz so zu, wie Flava es gehofft hatte.


    Oh, nein, es geht schon. In Britannia ist es im Herbst viel kühler als hier, und viel regnerischer. Hier ist es fast schon angenehm warm im Vergleich dazu. Ein bisschen frisch vielleicht.
    Verlegen lächelte Flava kurz zu Verus hoch. Ihr Blick blieb dabei wieder an seinen lustigen Haaren hängen, und ihr Lächeln wurde kurz breiter. Als sie es merkte, drehte sie sich leicht, begleitet von einem tiefen Einatmen, weil sie sich jetzt wirklich ertappt fühlte.
    Verzeih, ich habe dich angestarrt. Es ist nur… ich kenne sonst niemanden mit blonden Haaren. Als mein Bruder und ich klein waren, hatten wir auch blonde Haare, daher auch mein Name.“ Immerhin bedeutete Flava soviel wie „die Blonde“. „Aber das ist bald dunkler geworden. Und auch sonst gab es bei meinen Großeltern niemand mit blonden Haaren. Ich wollte dich wirklich nicht deshalb anstarren.
    Hoffentlich nahm er ihre Erklärung und die damit verbundene Entschuldigung an. Da hatte sie sich so sehr um einen guten Eindruck bemüht, und dann unterlief ihr so ein Flüchtigkeitsfehler. Hoffentlich dachte er sich jetzt nichts weiter dabei. Ihr Bruder würde sie jetzt wohl dafür tadeln.

    Flava nahm die Liste entgegen und überflog die Namen. Die meisten kannte sie, aber sie hätte gedacht, dass sie besser gelernt hätte. Natürlich hatte sie schon häufiger gelernt, welche Gottheit für was zuständig war und stellenweise auch, welche Opfergaben sie bevorzugten. Aber hier waren auch einige dabei, mit denen sie sich nicht so genau beschäftigt hatte, um der Wahrheit die Ehre zu geben. Robigo sagte ihr im ersten Moment einmal nichts, die würde sie nachschlagen. Aber zuerst widmete sie sich den Gottheiten, die sie kannte. Also ging sie nicht ganz der Reihe nach. Natürlich kannte sie Iuno, da hatte sie keine Probleme. Fortuna als Schicksalsgöttin war ebenfalls schnell beantwortet. Bona Dea und Ianus waren auch schnell beantwortet. Bei Venus konnte sie sich einen kleinen, ganz kurzen Seitenblick zu Verus nicht verkneifen, aber sie widmete sich sofort wieder ihrer Schrifttafel. Bei Ops musste sie kurz überlegen. Und bei Dea Dia schließlich kam sie gänzlich ins Stocken. Sie blickte auf und schaute eine weile ins Leere, um ihre Erinnerung nach der Antwort zu durchforsten. Sie wollte wenn möglich keinen Gebrauch von der Schriftrolle machen, sondern es so wissen. Aber schließlich musste sie doch die Rolle durchforsten und nachlesen. Ebenso bei Robigo, die ihr bis dahin auch unbekannt war.
    Flava schämte sich ein wenig, dass sie die Antwort nicht gewusst hatte. Gerne hätte sie ihrem Lehrer gezeigt, wie viel sie schon wusste und kannte und wie gut sie bisher schon gelernt hatte. Hoffentlich war er von ihrem Wissen jetzt nicht enttäuscht. Sie selbst war von sich enttäuscht. Aber sie versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen sondern so ruhig und konzentriert wie immer zu sein.


    Als sie fertig war, ließ sie ihren Blick noch einmal über die Tafel gleiten und hoffte, sie war ausführlich genug.


    Iuno – Göttin der Ehe und der Mutterschaft, Schutzgöttin der Frauen. Ihre weißen Gänse retteten Rom vor den Galliern. Mag weiße Opfertiere und hilft beim Wunsch nach Schwangerschaft


    Ops – Göttin der Erde und des Wohlstandes, der Fruchtbarkeit und der Geburt


    Bona Dea – Göttin der Fruchtbarkeit, mit Faunus verbunden


    Dea Dia – Göttin des Wachstums. Ihr Fest ist gegen Ende des Frühlings


    Robigo – Göttin des Getreidebrandes


    Iupiter – Höchster Gott, Gott des Lichts, der Gesetze, Schützer des Staates. Schwurgott, bevorzugt weiße Opfertiere.


    Bellona – Göttin des Krieges


    Venus – Göttin der Liebe, der Schönheit und der Freude. Beschützerin des Aeneas. Liebt Blumen.


    Fortuna – Göttin des Schicksals und des Glücks. Fest der Fors Fortuna am ANTE DIEM VIII KAL IUL (24.6.)


    Ianus – Gott der Türen, von Beginn und Ende. Hat zwei Gesichter



    Flava hoffte, dass ihr Kurzstil nicht zu abgehackt war. Sie hätte auch ausschweifender schreiben können, aber das hätte wohl kaum auf die Tafel gepasst.