Beiträge von Marcus Achilleos

    Ich sah - auch wenn ich nicht damit rechnete, etwas darin vorzufinden - in den Briefkasten. Zu meiner großen Überraschung war doch etwas drin. Ein kurzer Brief. Ich las ihn mir durch und erkundigte mich dann kurz bei meinen Nachbarn nach dem Namen des Absenders. Dann machte ich mich auf ins Delta-Viertel.

    "Ja, noch ist es eine reine Elementarschule. Ich bringe den Kindern aus der Nachbarschaft dort unsere Sprache in Wort und Schrift näher und außerdem lernen sie die Grundrechenarten. Ich hoffe, dass ich später auch einmal Schüler finden kann, die ich in meinem gesamten Wissen unterweisen kann, aber erstmal geht es darum, den Kindern von Rhakotis eine grundlegende Ausbildung zu geben." Man merkte mir an, dass ich diese Aufgabe gerne und aus Überzeugung machte. Die Schule war mir wirklich wichtig.

    Ich blieb einen Moment lang stehen. Sie wagte es, mich zu beschimpfen? Mich? Sie hatte mich in Verlegenheit gebracht, da brauchte sie sich über eine solche Reaktion nicht zu wundern! Es ging mir nur darum, mein Gesicht zu wahren! In Han hätte ich ihr vermutlich einfach die Hand gebrochen. Aber erstens war ich hier nicht in Han und zweitens war es jetzt eine Situation, in der wir beide kurz davor standen, das Gesicht zu verlieren. Ich fluchte kurz auf Chinesisch und ging ihr dann hinterher.


    "Warte!" sagte ich mit ruhiger Stimme, als ich sie eingeholt hatte. "Ich wollte nicht zu grob sein. Ich habe überreagiert. Erlaube mir, dir meine Reaktion zu erklären."


    Es lag jetzt an ihr, mich entweder hier stehen zu lassen oder mir zuzuhören. Ich würde jede dieser Möglichkeiten akzeptieren.

    Die Kleine musste man einfach mögen, auch wenn sie etwas vorlaut war. Ich ging auf ein Knie, um ungefähr auf ihrer Augenhöhe zu sein. "Ich bin Marcus Achilleos und ich bin fast dreimal so alt wie du," sagte ich mit sanfter Stimme und einem gütigen Lächeln. "Ich bin mir ganz sicher, dass du bei den Heraspielen antreten wirst." Dann stand ich wieder auf und sah Geórgios dankbar lächelnd an. "Ich danke dir noch einmal für deine Hilfsbereitschaft. Ich werde mich ganz sicher an dich wenden, wenn ich noch einmal deiner Hilfe bedarf. Sollte ich irgend etwas für dich tun können, kannst du mich in der Nähe des Serapeions finden. Ich baue dort gerade eine Schule auf und wohne auch dort."

    "Hmm... zu schade. Normalerweise kann ich Menschen recht gut einschätzen, ausgenommen mich selbst, deshalb bin ich in dem Fall etwas am rätseln. Andererseits, da ich sie wahrscheinlich eh nicht nochmal treffen werde - außer der Zufall will es - ist es nicht weiter problematisch."


    Ich sah wieder auf den Hafen mit dem Leuchtturm.

    "Zeit ist für mich noch wertvoller als Gold, so wenig habe ich davon. Ich habe recht viele Verpflichtungen." Ich dachte dabei an die Stadtwache, die Übersetzung und schließlich meine Schule. Dann kam das Mädchen hereingelaufen. "Deine Tochter?" fragte ich kurz, bevor ich mich erhob. Ich hatte schon genug der Zeit des Priesters verbraucht. "Ich danke dir für deinen Rat, Geórgios Krateidos."

    Ich betrachtete die Übungen sorgfältig. Dieser Echion gab sich ganz offensichtlich nicht allzu viel Mühe. Außerdem schien wirklich etwas mit seiner Schulter zu sein. Amphion hingegen stellte sich am besten von allen an.


    "Echion, du gehst jetzt zum Museion, genauer zum Iatreion, und lässt deine Schulter untersuchen!"


    Er sah mich entnervt an. "Das ist überhaupt nicht nötig, Kom..."


    "Sag mal, sprech ich Indisch, oder was? DAS WAR EIN BEFEHL!!!" So langsam verlor ich die Geduld mit diesem Stadtwächter. Innerlich musste ich schmunzeln, weil ich ja wirklich Indisch sprechen konnte. Nach außen hin blieb ich aber ernst. Der Anschiss hatte wohl gewirkt, weil er nur kurz salutierte und sich dann auf den Weg machte. Genauso schnell, wie ich wütend war, war ich auch wieder ruhig geworden, so als wäre nichts gewesen. Auch das gehörte zu den Fähigkeiten eines Kommandanten - plötzliches disziplinierendes Ausrasten.


    Ich ging zu Amphion. "Weil dein Trainingspartner jetzt weg ist, werde ich mit dir weiter üben. Gib mir ein Ziel, ich greife an."


    Meine Schläge trafen ziemlich mittig seine Handfläche, aber ich war ja auch gut trainiert. Im Gegensatz zu ihm bremste ich meine Schläge aber so ab, dass er keine allzu harten Treffer auf seiner Hand hatte. Nach gut einer Stunde beendete ich die Übung. Die Männer hatten eine Pause verdient.


    "Amphion, du bist ziemlich gut. Mal sehen, ob du nicht deutlich besser ausgebildet werden kannst. Du wirst dich morgen bei mir melden und ich bringe dir noch ein paar Techniken bei. Das wäre dann alles."


    Er lächelte erfreut. "Sehr gerne, Herr Kommandant." Dann salutierte er und ging ins Gebäude.


    "Nicomedes," sprach ich den Offizier an, als die anderen in den Gefängnisturm zurück gegangen waren, "was kannst du mir über Amphion sagen?"


    "Amphion stammt aus einer verarmten makedonischen Familie. Er ist in Rhakotis aufgewachsen. Die Stadtwache war sein Weg, dem Elend zu entkommen."


    Ich nickte nachdenklich. "Er hat Ehrgeiz. Das ist gut. Ich wünsche, dass er gefördert wird. Bring ihm etwas über Menschenführung bei. Und etwas über Organisation. Ich sorge dafür, dass er Kampf und Taktik lernt."


    "Zu Befehl!"


    Ich ging jetzt ebenfalls ins Gebäude und ging die Treppen hoch in mein Arbeitszimmer.

    "Das ist ganz eine Frage des Blickwinkels. Wenn das Ende des Landes als das Ende der Welt bezeichnet wird, dann kann die Erde durchaus rund sein. Zumindest ist sie aber gekrümmt. Die Beweise des Aristoteles für eine Kugelform sind auch schon ziemlich schlagkräftig. Ganz abgesehen davon wird die Mathematik der Sternen-, Sonnen- und Mondbewegungen bei der Annahme einer Kugelform von Himmel und Erde deutlich eleganter." Ich lächelte kurz. "Ich liebe es, wenn Mathemaik elegant ist."


    Die Hinweise zu Qualität und Größe der Votivgabe waren für mich durchaus wertvoll, so dass ich sie mir genau merkte. "Ich werde selbstverständlich für eine Göttin so gut wie nur irgend möglich arbeiten."

    "Ich habe sie auf dem Fremdenmarkt vor einem Diebstahl bewahrt. Und sie sagte mir, dass sie für dich arbeiten würde. Sie hat ganz schön Temperament. Sie hatte wohl auch ein gewisses Interesse an mir, aber ich weiß nicht, welcher Art. Ist aber eigentlich auch nicht wichtig. Ich konnte sie nicht so wirklich einschätzen, und das gibt mir zu denken. Wie schätzt du sie ein?"

    "Nein, das Ende der Welt habe ich nicht gefunden. Bis dahin bin ich nicht gekommen. Aber so etwa 1000 bis 2000 Meilen bin ich ran gekommen. Und den Eingang der Unterwelt habe ich auch nicht gefunden, aber auch nicht gesucht. Was ich aber fand, war Erkenntnis. Ich hatte sie nie gesucht, aber dennoch gefunden." Zugegeben, die Antwort war etwas kryptisch.


    "Zedernholz also... das ist machbar." Das war sogar ziemlich unproblematisch. Ich brauchte ja nicht viel.

    "Ich habe mich vor allem mit der Staatskunst und Philosophie dort beschäftigt, aber auch die eine oder andere Kleinigkeit gesehen. Verstanden habe ich es aber nicht unbedingt," antwortete ich dem Philologos.


    Dann wendete ich mich an den Philosophos, der wohl den Epistates vertrat. "Ich bin Bürger Athens - jedenfalls war ich es vor 17 Jahren, bevor ich meine Reisen antrat. Mein Eintrag ins Bürgerregister wird momentan noch gesucht, also werde ich das im Moment nicht beweisen können. Mein Leumund ist einwandfrei, ich war Beamter in Ch'in, was ich beweisen kann, wenn hier jemand die Sprache lesen kann."


    Ich holte aus einem seidenen Einband die Schriftrolle mit meiner Ernennungsurkunde heraus. Sie bestand aus Papier und war natürlich in chinesisch beschrieben.


    "Ansonsten mögen die Schriften, die ich aus Ch'in und aus Indien mitgebracht habe und die ich momentan in der Bibliothek ins attische übersetze als Beweis meiner Reisen dienen."

    Es sah fast so aus, als ob Echion ein Problem mit seiner Schulter hatte. Er überspielte es ganz gut, aber beim Salutieren zeigte sich kurz das typische kurze Zucken im Gesicht, wenn etwas ziept.


    "Ist deine Schulter verletzt?"


    Echion sah mich kurz ertsaunt an.


    "Nein, geht schon, Kommandant!"


    Ich sah ihn einen Moment lang skeptisch an. Aber gut, das musste er selber wissen.


    "Wenn du es sagst. Du wirst mit Amphion üben. Er kennt die Übungen so weit und wird dich einweisen. Ausführung!"

    Ich lachte.


    "Wobei Axilla schon ein ziemlich flatterhaftes Wesen hat. Da kann man auch froh sein, wenn man nicht für ihre Erziehung verantwortlich ist. Nicht, dass sie unsympathisch wäre, aber auf Dauer hätte ich ein ernsthaftes Problem damit, sie zu... unterrichten... oha, da fällt mir was ein. Ich hatte ihr gesagt, dass ich in Erwägung ziehen würde, sie in der Philosophie aus Han zu unterrichten, wenn ein männlicher Verwandter von ihr zustimmt. Wenn ich genauer darüber nachdenke, ist das keine allzu gute Idee. Erstens weil es Jahre dauert, die Philosophie halbwegs zu verstehen, zweitens, weil ich nicht weiß, ob meine Geduld dazu reicht. Vielleicht habe ich ja Glück und sie hat es bereits vergessen?"

    Was hatte mich zu der Reise bewogen? Ja, das war eine gute Frage. Da ich als Jìnshì dazu verpflichtet war, die Wahrheit zu sagen, hatte ich nur die Wahl, entweder genau das zu tun, oder eine Antwort zu verweigern. Letzteres führte zu meinem üblichen "Ich hatte meine Gründe", was aber ziemlich arrogant wirken musste. Also entschied ich mich für eine knappe Antwort. "Ich war neugierig. Ich wollte wissen, wo die Welt im Osten aufhört. Ich wollte wissen, woher die Seide kommt. Und vor allem hielt ich es in Athen nicht länger aus."


    Mit dem Opfer brachte er mich auf eine Idee. "Eine Votivgabe, sagst du? Angenommen, ich schnitze höchstpersönlich eine Eule, die auch noch sehr gut aussieht, dann müsste es die Göttin doch akzeptieren?"

    Komisch, die Frage nach den Ländern jenseits von Indien kam in letzter Zeit immer. Mir war es ein wenig unverständlich, weil ich jedes fremde Land für gleich interessant hielt. Vielleicht lag es auch daran, dass ich so lange in diesen Ländern gelebt hatte, dass ich eher den Alltag kannte und gelernt hatte, dass eigentlich alle Menschen sehr sehr ähnlich waren. "Das Land heißt Ch'in. Die Einheimischen bevorzugen aber den Namen Han. Unter anderem kommt dort die Seide her."


    Dass Athene hier nicht allzu stark verehrt wurde, hatte ich mir schon fast gedacht. Zumindest war mein kein großer Athene-Tempel aufgefallen, auch wenn ich natürlich nicht mit einem zweiten Parthenon gerechnet hatte. Dem Sklaven nickte ich, kaum merklich, zu, als er mir den Granatapfelsaft hinstellte. "Kosten sind ein Problem. Wie du dir denken kannst, war so eine lange Reise recht teuer. Genauer gesagt extrem teuer. Für ein größeres Opfer werde ich also erst genügend Geld verdienen müssen. Ich bin aber etwas beunruhigt, dass die Göttin vielleicht etwas ungeduldig ist und es mir übel nimmt, wenn ich ihr nicht wenigstens eine Kleinigkeit opfere. Oder genügt es, ein größeres Opfer zu versprechen, das ich dann später, wenn ich es mir leisten kann, durchführe? Ich kenne mich da leider wenig aus, aber ich möchte Athene auf gar keinen Fall verärgern. Als ich noch in Ch'in war, hatte ich ihr ein Schwert komplett aus Jade schnitzen lassen und geopfert. Ob das vorhält?"

    Ich nickte nachdenklich.


    "Das ist sehr bedauerlich. Aber du hast ja zum Glück noch Verwandte, die sind ja auch Familie," versuchte ich, die Stimmung aufzuheitern. Das Thema traf mich auch selbst, da ich ja auch unverheiratet war und ohne Kinder war. Nur, dass ich eben schon einmal verheiratet war.

    Ich folgte dem Sklaven in den Innenhof. So etwas hatte ich in Rhakotis nicht erwartet. Ägyptische Fresken und Mosaike, sehr gut gearbeitet. Und schön anzusehen. Ich betrachtete die Mosaiken, als der Priester den Innenhof betrat. Der Mann sah sehr wohlhabend aus.


    "Chaire, ich bin Marcus Achilleos," erwiderte ich die Begrüßung mit einer leichten Verbeugung und ging zu der Sitzgruppe, auf die er gewiesen hatte.


    "Für mich bitte keinen Wein," sagte ich noch schnell, bevor der Sklave ging. Nachdem der Priester sich gesetzt hatte, setzte ich mich ebenfalls. Ich sammelte kurz meine Gedanken, um dann möglichst kompakt mein Anliegen vorzutragen. Der gute Mann hatte sicher genügend zu tun, so dass ich nicht allzu viel seiner Zeit rauben wollte. "Ich stamme ursprünglich aus Athen, aber vor 17 Jahren wollte ich den Osten erkunden. Seitdem bin ich bis Indien gekommen und darüber hinaus. Ich habe viel Freude und viel Leid erlebt, aber ich bin fest davon überzeugt, dass Athene mich immer beschützt hat. Ich denke das deswegen, weil ich nicht nur viele Länder gesehen habe, sondern auch viele fremde Philosophien kennengelernt habe und auch lernte, die Strategie in der Kriegskunst zu nutzen. In der Tat wurde ich von einem Quell des Wissens zum nächsten geführt. Das erscheint mir das Werk der Athene zu sein. Und jetzt frage ich mich, wie ich ihr angemessen danken kann. Ich habe ihr bereits als Dank versprochen, die Schriften, die ich aus der Ferne mitbrachte, ins Attische zu übersetzen und den Menschen verfügbar zu machen. Daran arbeite ich auch, aber es braucht seine Zeit. Ich würde ihr aber schon jetzt gerne eine Kleinigkeit schenken. Ich würde gerne deine Meinung zu der ganzen Angelegenheit hören. Mein Wissen um unsere Götter, vor allem um Opfer und Riten, ist in der langen Zeit der Abwesenheit leider etwas eingerostet." Ich zuckte entschuldigend mit den Schultern.

    "Chaire," erwiderte ich. "Mein Name ist Marcus Achilleos und ich würde gerne den Priester Geórgios Krateidos sprechen. Ich bin mir unschlüssig, wie ich den Göttern angemessen dafür danken kann, dass sie mich auf einem langen Weg stets beschützt haben. Bevor ich nun unnütz von Tempel zu Tempel gehe, würde ich gerne erst mit einem Priester sprechen. Ist der ehrwürdige Geórgios Krateidos anwesend und zu sprechen?"


    Ich war mir relativ sicher, dass ich es nicht mit dem Priester zu tun hatte. Dafür erschien mir der Mann erstens zu jung und zweitens war es unwahrscheinlich, dass ein Priester keinen Sklaven hatte, der zumindest dafür sorgte, dass niemand ungelegen kam.