Beiträge von Aulus Flavius Piso

    Ich weiß es nicht. Eine kurze, lapidare Information. Ich weiß es nicht. Das half Piso um nichts weiter, um rein gar nichts. Ich weiß es nicht. Sie wusste soviel wie er. Rein gar nichts. Es machte ihn krank. Dumpf erinnerte er sich in diesem Moment an eine Wachstafel, die er bekommen hatte... wo war die hin? Er musste sie daheim gelassen haben, auch wenn er sich sicher war, sie mitgenommen zu haben... doch er war in Gedanken viel zu weit abgedriftet, um noch viel daran zu denken. Er konnte es sich denken. Es war das fette Schwein gewesen, das ihn in den Tod getrieben hatte. Der Vescularier, die Qualle.
    Er ließ Axilla los, kraftlos und spürend, wie seine Finger unkontrolliert zuckten. Eine neuerliche Heulattacke überkam ihn, die ihm umso mehr Tränen in die Augen trieb. Was Centho denken mochte, das interessierte ihn überhaupt nicht mehr, der Iulier stand eh nur apathisch herum. Der Flavier registrierte nicht einmal mehr wirklich, dass Axilla auf den Toten zuschritt, auf das Tuch, das ihn bedeckte. Und es, trotz seiner Warnung, angriff und lupfte.
    Erst, als er einen dumpfen Aufprall hörte, wurde ihm klar, dass was geschehen sein musste. Piso blickte auf, nur um Axilla zu sehen, wie sie, käseweiß aussehend und mit dem Schreck im Hirn, der sich in den Augen widerspiegelte, mit einem ihrer Begleiter zusammengestoßen war. Dem Gesocks, mit dem die Iunia da angetanzt gekommen war, hatte Piso bislang überhaupt nicht interessiert, aber er riskierte trotzdem einmal einen Blick auf den Kerl.
    Er schien kein Unfreier zu sein. Ein Römer, wie es aussah, auch wenn Piso Genauigkeiten nicht richtig feststellen konnte – über seine Augen zogen sich Tränenschleier, die seine Sehkraft enorm einschränkten. Was bewiesen wurde mit Pisos seltsamen Schritt nach hinten, den er setzte, als ob er taumelte, woraufhin er mit einem Prätorianer zusammenstieß. Sich leise murmelnd entschuldigend trat er wieder wankend nach vorne, wo er mit dem Schienbein auf eine Art Hocker stieß. Er setzte sich drauf und fluchte leise und ganz unästhetisch, als er merkte, dass es sich um einen Topf Blumen gehandelt und er diese zu Gatsch verarbeitet hatte. Auch schon wurscht. Er nahm, auf dem Blumentopf, eine abwesende, grübelnde Position ein und vergrub sein Gesicht in seinen Armen.

    Piso machte eine unwirsche Bewegung mit seinen Händen. “Liebe ist nicht lächerlich! Liebe ist... was erkläre ich dir das? Hat eh keinen Sinn!“ Sie veräppelte ihn für seine Ansage, dass sie mit Lupus unter einer Decke steckte und dass er schon von Suizid zu sprechen anfing. Piso entgegnete das nur mit einem mitleidshaschenden: “Ich bin entsetzt, wie wenig Verständnis du mir entgegenbringst!“ Er schüttelte den Kopf. Und er stellte sich vor, wie es gewesen wäre, wäre Vera hier gewesen. Hätte sie ihm auch so dermaßen Zores gegeben? Vielleicht. Aber nicht so böse wie Nigrina, von deren sexuellen Vorlieben er freilich nichts wusste – sonst hätte er ihr das schon längst um die Ohren gehaut.
    Nigrina zeterte etwas von wegen Unterdrückung, was Piso absolut nicht einsah. Zwar unterstand eine Frau, die sine manu heiratete – und was anderes kam ja gar nicht einmal in die Tüte – nicht der Patria Potestas ihres Mannes, aber Eigenständigkeit sah anders aus. Nigrina rannte da sehenden Auges ins Unglück! Piso hatte keine Ahnung, wieso, bis ihm plötzlich etwas aufging.
    “Jetzt weiß ich, warum du so zickig rumtust. Du hast dich in ihn verknallt! Von wegen, du hast da andere Ansprüche! Kann ja nicht anders sein! Oh Mann! In diesen Scheißer! Ich glaube es ja nicht! Warum gerade in ihn!“, krakeelte Piso, der glaubte, des Rätsels Lösung gefunden zu haben. “Und dann schmähst du noch das Konzept der Liebe, nur um zu verheimlichen, dass du dich total verschossen hast, bis über beide Ohren! Wieso gerade der, was hat der bloß? Was hat der bloß außer Gewalttätigkeiten auf Lager?“
    Wäre es Liebe, wäre Piso in einer verzwickten Situation. Zwar hatte der Flavier mit Hypokrisie kein Problem, aber Liebe auf der einen Hand zu verherrlichen und auf der anderen herunterzuziehen wäre sogar für ihn eine Stufe zu groß. Elende Kacke. Es musste so sein, dass Nigrina sich verliebt hatte oder so, egal, was sie über Liebe sagte, um ihre Gefühle zu kaschieren! So und nicht anders!
    Er winkte mit einer übertriebenen Geste ab. Vater und Brief schreiben. Ach, Götter. Frustriert bis zum Geht-nicht-mehr blickte er sie an. Piso war durch den ganzen Zoff ziemlich durchgeknetet. Er als leicht zimperlicher, ästhetischer und im Grunde harmoniebedürftiger Mensch hielt sowas nicht lange durch. Er selber war schon stur wie ein Ochse, aber gegen Nigrina hatte er selten je einen Blumentopf gewonnen. So auch nicht diese Nacht. Immerhin würde er nicht von seiner Meinung ablassen. “Weißt du was, Nigrina? Tu doch, was du nicht lassen kannst. Rutsch mir den Buckel runter. Leck mich am Arsch. Schreib doch deinen Scheißbrief, wenn es dich glücklich macht. Ich bin doch nicht dein Kindermädchen, verflucht noch mal. Du wirst schon sehen, was du davon hast, dass du mich so ignorierst. Ich für meinen Teil wünsche dir eine schlechte Nacht und grauenhafte Albträume, und deinem geliebten Scheißlupus gleich noch dazu!“, giftete er zornig, bevor er sich umdrehte und so schnell wie er konnte von dannen marschierte. Wenn Nigrina ihm noch was nachrief, würde er es ignorieren. Zuhause würde er fluggs ins Bett fallen und sich die Decke über den Kopf ziehen, bevor er genau die Nacht verbringen würde, von der er an diesem Abend gewollt hätte, dass Nigrina sie hatte.

    Wegen Balbus wollte ich nur mal weitergeben (und ich hoffe, er ist mir da nicht sauer ;)): er ist seit Ende Juli aufgrund eines Umzugs komplett ohne Internetanschluss und wird voraussichtlich erst wieder einen im Laufe dieses Monats kriegen. Er ist also wohlauf, keine Sorge. :D

    Piso wackelte effeminiert mit dem Kopf. “Persepolis...“, echote er. Dieser Name war natürlich ein Begriff. Auch wenn Persepolis enorm an Macht verloren hatte, als die Parther ihre Hauptstadt nach Ktesiphon verlegten, war Persepolis sicherlich ein Ort, aus dem gerne der eine oder andere Parther stammte. Persepolis... er leckte sich mit seiner Zunge über die Lippen. Die Hauptstadt der alten persischen Könige. Klingend.
    Die Beantwortungen seiner nächsten Fragen kamen auch prompt, untermalt von einem rauen Akzent, aber sein latein war auf jeden Fall besser als Pisos Parthisch (irgendwann einmal hatte er gewusst, wie man sich auf parthisch begrüßt, doch hatte er es wieder vergessen). “Berittener Bogenschütze. Hmm, Soldat also. Du weißt, dass man in Rom keine Waffe tragen kann? Einmal nicht innerhalb des Pomeriums? Sag, womit kannst du eigentlich kämpfen? Auch mit dem Schwert? Mit Knüppeln? Mit einem Stab?“ Beide zuletzt Genannten waren keine Waffen im eigentlichen Sinne, und so in Rom erlaubt.
    Er war ins Heer eingegangen? Sodass es nun passfest saß? Piso schmunzelte kurz, wurde dann aber wieder ernst, als der Sklave Weiteres von sich gab. Seine Ausbildung war also viel. Piso fühlte sich bemüssigt, zu sagen: “Deine Ausbildung war nicht viel, sie war gut. Du kannst sagen, ich habe viel gelernt!“, gab er schulmeisterisch von sich. “Wie heißt deine Familie?“ Unwahrscheinlich, dass es die beiden einzigen waren, die er kannte, die Surenas und die Karenas, die beiden wichtigsten und mächtigsten Hochadelsgeschlechter in Parthien.
    “Gut, dann frage ich dich nach Bestimmten. Kannst du griechisch? Besser als latein?“, wollte er wissen, bevor er kurz überlegte. “Kannst du kochen? Kannst du lesen und schreiben, auf latein, auf griechisch, auf parthisch? Kannst du Instrumente spielen? Kannst du singen? Kannst du Geschichten erzählen? Beherrschst du ein Handwerk – schneidern, schmieden, weben, was auch immer?“ Fragend blickte er ihn an.

    Piso heulte noch immer Rotz und Wasser. Er bemerkte wenig von seiner Umwelt, wollte es irgendwie auch nicht. Es war schrecklich. Der Anblick von Archias‘ Gesicht, es war etwas, was ihm immer im Gedächtnis bleiben würde. Es würde ihn in seinen schlimmsten Träumen heimsuchen und ihm immer vor Augen schweben, wenn er die tarpeischen Felsen sehen würde. Was für eine schreckliche Situation! Und was für ein fürchterliches Geschehnis... das hier war eine Zäsur in Pisos Leben, wie der Tod seiner Schwester vor kurzer Zeit. Wieso, dachte sich der Flavier, hatte Archias so etwas entsetzlich Dummes tun müssen? Procurator Annonae... als solcher war er gestorben, dachte er sich dumpf. Vor ein paar Tagen war er degradiert worden, vom Praefectus Urbi. Karriereknick? Piso hatte nie gedacht, dass so etwas Archias zum Selbstmord verleiten konnte. Möglicherweise hatte es auch private Probleme gegeben... aber warum zum Henker hatte Archias nicht mit ihm drüber geredet? Es war zum aus der Haut fahren! Die Wachstafel kam ihm zur Zeit gar nicht in den Sinn, so verwirrt und aufgelöst war er.
    Und doch war es so, dass er nun tot war. Kalte Wut über das fette Schwein Vescularius stieg in ihm auf. Er war Schuld, an allem, an absolut allem, dieser Barbar! Eine neuerliche Heulwelle durchfuhr den armen Piso, rüttelte ihn durch, trieb ihn dazu, seine Fäuste krampfhaft zusammenzuballen.
    Und in dem Moment kam Axilla rein. Hastig drehte er sich zu ihr hin, zur Frau seines besten Freundes, der nun tot war. Axilla. Er hatte nie befürwortet, dass Archias sie geheiratet hatte. Er wäre für Seiana gewesen, die Holde, Anständige, Gebildete. Doch er hatte Axilla geheiratet, das Flittchen, die Chaotin, das halbe Mädchen seiner Meinung nach. Doch sie war hier... und stellte eine Frage, die Piso gar nicht mitbekam. Die Antwort des Prätorianers hingegen hörte Piso. Der Flavier presste die Lippen zusammen und nickte gequält. “Es stimmt, Axilla. Er hat recht.“ Piso schniefte laut, etwas lauter, als es der Durchschnittsmensch täte. “Er hat sich umgebracht, Axilla... umgebracht...“ Er tappte zu ihr hin, wie von Sinnen, seine Augen weit ausfgerissen, seine Wangen überzogen von Tränen, mit Schlieren in seinem Blickfeld. Er erpackte sie an ihren Schultern, ihm war komplett egal, was ihre Wachen davon denken würde. “Wieso? Wieso nur?“ Er keuchte wie ein Wahnsinniger und schüttelte dann leicht den Kopf. “Nimm... nimm das Tuch nicht ab. Es ist entsetzlich. Entsetzlich.“ Er schluckte und blickte eher zufällig empor, wo er auf einmal Centho sah. Iulius Centho, Factiofreund des Archias, der dritte Trauergast, auch zu ihm musste Katander gelaufen sein. Er hatte seine Hände auf dem Gesicht und schien ziemlich fassungslos zu sein. Piso wäre der Letzte, der es ihm verübeln würde. “Salve, Iulius...“, schluchzte er zu Centho hin.

    Herr. Ein Wort, eine Begrüßung. Eine Salve davor hätte sehr gut ausgesehen, dachte sich Piso, aber immerhin wusste, der Sklave, wie er ihn anzureden hatte, also ließ er einen Kommentar nicht über seine Lippen kommen. Zum ersten Mal hatte er die Gelegenheit, sich den Sklaven genauer anzusehen. Athletischer Körper. Ungefähr so groß wie Piso, der aber gegenüber dem Sklaven weniger muskulös wirkte. Graue Augen, wie er selber auch. Alles in allem eine Gestalt, wie man es sich unter einer heißen parthischen Kataphraktenrüstung vorstellte.
    Der Sklave lehnte die Trauben ab. Immerhin dankend. Piso blcikte kurz missbilligend – er hatte sich eine dankbarere Reaktion erhofft –, dann zuckte er die Schultern. “Dann eben nicht.“ Er zog den Teller zurück und pflückte sich eine weitere Traube hervor. Immerhin hatte der Parther Platz genommen, sodass er nun den Sklaven auf Augenhöhe betrachten konnte. Nun denn. Pisos Frage an den Sklaven war lapidar.
    “Nun denn, Shayan.“ Er gab sich Mühe, den Namen korrekt auszusprechen. “Dann erzähle mir von dir. Woher kommst du?“ Sag jetzt bloß nicht Charax-Spasinu, dachte er sich, an den unflätigen Parther, den er und Prisca damals am Markt getroffen hatten, zurückdenkend. “Du warst Soldat – was für einer? Kataphrakte, Bogenschützen, Fußvolk? Hattest du einen anderweitigen Beruf? Aus was für einer Familie stammst du? Was genau kannst du alles? Wie kommt es, dass du so gut latein kannst?“ Er lehnte sich zurück, darauf hoffend, dass der Parther nun gesprächiger werden würde als bisher.

    “Ja, sicher denkst du das! Du steckst doch mit diesem Aurelius unter einer Decke, steckst du!“, keifte er und machte übertriebene Bewegungen mit seinen Armen. “So was von unter einer Decke! Wie kannst du sowas nur denken!“, beschwor er sie laut und mit genervter Stimme.
    Als sie ihn schließlich ihrerseits nachäffte, lief er leicht rot an im Gesicht. “Was weißt du denn schon von wahrer Liebe! Du weißt doch nicht, was das überhaupt ist!“ Tief holte er Luft, um laut loszuschmettern. “Liebe ist... pass auf die Fuhrwerke auf!“, rief er, als knapp an ihnen eines vorbeidonnerte. Es war Nacht, die Zeit der Fuhrmänner, wo auf Roms Straßen die Wägen herumfuhren, etwas, was ihnen am Tage nicht gestattet war. “Liebe ist mehr als Lust. Wenn du mit irgendwelchen Sklaven oder Sklavinnen rumbumst, dann ist das doch keine Liebe! Liebe ist göttlich, und kommt direkt von den Göttern! Schon mal was gehört von Venus und Amor?“, wetterte er, ohne es auf den Punkt zu bringen. “Es kommt doh nicht darauf an, wie lange ich sie schon kenne, sondern, was ich ihr gegenüber empfinde! Jetzt sage ich dir mal was! Meine Liebe zu ihr entstand, nachdem ich Venus geopfert hatte! Ich war vorher wie du, mit verschlossenem Herzen, welches wie aus Stein war! Aber nun verspüre ich das, was du so niederträchtig veräppelst! Ohne sie, das weiß ich, kann ich mir gleich einen Dolch in die Brust jagen!“ Wer Piso kannte, würde wohl wissen, dass er kaum für so was fähig wäre. So weit ging sein Mut – oder aber konvers seine Feigheit – nicht. Viel eher würde er sich eine Zeit lang im Cubiculum einschließen und die Niederträchtigkeit der Welt beklagen. Oder sich in der Arbeit vergraben, hoffend, er würde dort die Erfüllung finden.
    Doch was sie nun sagte, setzte dem ganzen noch ein Sahnehäubchen auf. Er musste sich beherrschen, dass er nicht total explodierte. “Was heißt das, nicht zu einem vernünftigen Ende bringen! Ja, das mache ich schon! Aurelier, in Ordnung, aber der da wird dein Leben zum Tartarus auf Erden machen!“, darauf beharrte er ungeachtet ihrer Einwürfe. “Zum Tartarus! Verstehst du nicht, dass du versuchst, sehenden Auges ins Verderben zu rennen? Ja, den Mut, mir die die Suppe zu spucken – das Chuzpe, Nigrina, das ungeheuere CHUZPE! Potential? Ja, das Potential, rumzuhuren und rumzumorden, bis er irgendwann ins Tullianum geworfen wird! Auf jeden Fall, wenn er immer so drauf ist wie heute! Verstehst du das nicht?“, wiederholte er sich, nciht bemerkend, dass seine Argumente langsam begannen, sich im Kreise zu drehen. “Was der alles wagen würde, das hat man doch gesehen! Dieser miese kleine Verbrecher, du hast doch keine Chance gegen ihn, wenn er dich unterdrückt, wie es sogar sein gutes Recht ist, verdammt noch mal!“ Frustriert kickte er noch einmal einen Stein vom Boden auf. Jener traf irgendwo in der Ferne etwas Metalliges und plumpste dumpf zu Boden. “Ich will nicht, dass du den heiratest! Kapiert?“, blaffte er sie an. “Ich... Scheiße.“ Seine Stimme sackte ab, und hohl blickte er sie auf einmal an. “Götter. Ich klinge wie ein kleiner Corvinus.“ Die Dimension seines Zugeständnisses konnte man leicht an dem Ausmaß erkennen, wie er gegenüber Nigrina über den Senator innerhalb der Gensmauern schon geschimpft hatte.

    Ehrlichkeit war nicht sehr opportun für einen Politiker, einen Quaestor, und wohl auch nicht für einen Collegiumspriester. Aber in diesen Funktionen stand Piso nicht hier. Er war hier als trauernder Bruder, und wem konnte er ehrlich sein, wenn nicht seiner Schwester gegenüber? Eine Antwort a la „gut, geht schon“ hätte seinem Aussehen Lügen gestraft. Wenn Augen die Spiegel der Seele waren, dann war Pisos Seele zur Zeit gerötet, entzunden und aufgeschwollen. Nigrina selber sah tadellos aus, wie immer. Von ihnen beiden war, unbeachtet aller Klischees, die man über Geschlechter haben konnte, Piso schon immer der emotionalere und wohl auch zimperlichere gewesen. Zwischen Piso und Vera war halt altersmäßig nur ein geringer Unterschied bestanden, wobei Nigrina um Einiges jünger war, schließlich entstammte sie auch aus dem Schoße einer anderen Frau als Pisos und Veras Mutter.
    Mutter. Sein Blick lastete auf der wunderschön hergerichteten Leiche. Nun würden Vera und ihre Mutter sich wieder im Elysium sehen. So war es von den Parzen vorgesehen, so musste es sein. Und trotzdem machte sich Piso Vorwürfe, die von der Bestätigung seiner Schwester, was seine Worte anging, nicht unbedingt gedämpft wurden. Immerhin spürte er, wie seine Schwester auch seine Hand umschloss. Der Flavier blickte zu Nigrina hin und versuchte sich an einem Lächeln, doch nicht mehr entstand als eine etwas erbärmliche Grimasse, die auch sofort wieder verschwand. “Vielleicht hätte es etwas gebracht, wenn ich sie zu Marcus Aristides geschickt hätte. Nach Baiae.“ Doch tief in seinem Inneren wusste er, es wäre unabwendbar gewesen, und das Problem hätte er nur Marcus zugeschoben, statt es sich selber zu überlassen.
    Und so stand er nur einmal da, und er konnte sich nicht verwehren, dass er das Gefühl, das Nigrinas Handdruck in ihm auslöste, genoss. So unterschiedlich die beiden Geschwister manchmal sein mochten, Blut war dicker als Wasser. Und er war Nigrina dankbar, dass sie ihm beistand.
    In diesem Gedankengang aufgeschreckt von Celerinas Präsenz, sah er auf. Wie seine Schwester sah auch Celerina trotz ihrer schlichten Kleidung wundervoll aus. Welch Kontrast zu einem verheulten Piso. Er atmete tief ein, bevor er sie begrüßte. “Salve, Celerina. Danke, dass du gekommen bist.“ Er machte eine kurze Pause. “Und danke, dass du mit uns trauerst.“

    [Blockierte Grafik: http://img195.imageshack.us/img195/743/cubiculariaphrima.jpgPhrima


    Ein Lächeln, so breit wie das Rheintal! Phrima war entzückt. Wie die Leute daheim bei ihr im Bergdorf staunen würden über diesen schönen schwarzen Mann im besten Alter, der sie anstrahlte wie ein Honigkuchenpferd. Die Freude war ganz seinerseits, über sie? Welch Charmeur, dachte sich Phrima, die ganz fein zurückschmunzelte, fast aristokratisch, als wäre sie mehr als die Tochter eines unfreien Kuhfladensammlers, den der Dorfhäuptling samt Familie für buchstäblich ein Apfel und ein Ei an einen fahrenden römischen Händler verschachert hätte.


    Sie betrachtete den Ianitor und seine muskulösen Arme interessiert, als dieser etwas aufkritzelte und es ihr entgegen hielt. Mit dem konzentrierten Blick einer Frau, die nur spät und schlecht zu lesen gelernt hatte, entzifferte sie Buchstabe für Buchstabe das Aufgeschriebene. Hach, wie sie gebildete Männer, die so gut schreiben konnten, liebte!


    Als sie dem Ianitor die Wachstafel zurückgab, und langsam nickte, streichten ihre Hände wie ganz zufällig über die seinen. “Oh, danke, Leone! Und mach’s gut... hoffentlich sehen wir uns bald wieder“, machte Phrima, wider besseren Wissens – denn was sollte ein Zimmermädchen beim Ianitor einer anderen Familie? Doch vielleicht würde Piso sie ja nun öfter zu den Aureliern schicken... auf einmal tat ihr die verlorene Zeit überhaupt nicht mehr Leid. “Vale!“, rief sie noch nach hinten, als sie wegging, mit einem gewissen bedauernden Blick in ihren Augen.

    [Blockierte Grafik: http://img195.imageshack.us/img195/743/cubiculariaphrima.jpgPhrima


    Phrima legte den Kopf leicht schief, noch immer lächelnd. “Leone also. Freut mich sehr“, flötete die Sklavin, die der Anblick dieser mackellosen Zähne – sie erschienen ihr wie Bergkristalle aus ihrer gebirgigen Heimat in den Alpen – sichtlich erfreute. Erschien es nur ihr so, oder schien der aurelische Ianitor etwas für sie übrig zu haben? Sympathischer als Acanthus war er auf jeden Fall, obwohl der flavische Ianitor gegenüber seinen Mitsklaven um einiges freundlicher zu sein pflegte als etwaigen ungeladenen Besuchern.
    “Danke!“, strahlte sie ihn an. Na hallo, das ging aber fix. “Sag...sag, es geht um eine nette Cena unter zwei befreundeten Gentes zum Ausbau der Beziehungen. Und sag, insbesondere Flavius Gracchus würde sich über seine Zusage sehr freuen.“ Sie dachte kurz nach. Hatte sie etwas vergessen? Ach ja. Das Datum. “Das Datum wäre NON SEP DCCCLX A.U.C. (5.9.2010/107 n.Chr.). Kannst du das so weitersagen?“, fragte sie.

    Es war nach der Katastrophe im Theater, dass ein Bote einen Brief einwarf, exklusiv und ganz alleine für Aurelia Prisca.


    An
    Aurelia Prisca
    Villa Aurelia
    Roma


    Liebste Prisca,


    es tut mir Leid, was gestern Abend passiert ist. Es tut mir so furchtbar Leid, dass der Abend so unschön unterbrochen wurde. Dein Vetter hat meine Frage an dich fürchterlich missverstanden. Aber mir war einfach deine Meinung zu der Sache wichtig, und wie sollte ich es herausfinden, außer, wenn ich dich frage? Und ich bin so unendlich froh, dass du mich heiraten willst. Dies ist etwas, was mich alleine glücklich machen kann in diesen Zeiten.


    Doch hat sich mein Plan geändert. Ich werde nicht zu euch Aureliern gehen, wie ich es gesagt habe. Nein, mir ist etwas Besseres eingefallen, denn das Neueste weißt du noch gar nicht. Gracchus ist bereit, uns zu helfen. Mein Vetter, Manius Flavius Gracchus! Ich habe ihm alles erzählt, und meine Geschichte hat ihn so bewegt, dass er sich der Sache annehmen will. Und aus diesem Grund fand ich es besser, wenn ich Celerina und ihren Gatten zu einer Cena in der Villa Flavia einladen würden. Geben die Götter, dass sie, wenn ich die Nachricht durch einen Sklaven vermitteln lasse, annehmen! Und auch, dass Corvinus von uns drei Flaviern überzeugt werden kann. Es wäre doch gelacht, liebste Prisca, wenn wir, die füreinander bestimmt sind, nicht unser gemeinsames Glück finden!


    Was mir aber noch Sorgen macht, ist dein Vetter, Lupus. Ich weiß nicht, ob er etwas davon, was passierte, weitersagen wird oder nicht. Du musst ihn daran hindern, dass er etwas an Corvinus verpetzt, Prisca! Und wenn du etwas davon hörst, dass er die Geschichte an ihn verraten hat, bitte schick mir einen Brief, was das angeht!


    Ich hoffe, dass ich dich bald wiedersehe, meine geliebte Blume. Möge Venus über uns beide wachen.


    In Liebe, Treue und größter Verehrung,


    dein


    [Blockierte Grafik: http://img299.imageshack.us/img299/5250/unterschriftafp1.png]

    [Blockierte Grafik: http://img195.imageshack.us/img195/743/cubiculariaphrima.jpgPhrima


    Die zwangsrekrutierte und darob noch immer etwas verstimmte Räterin, die ihre eigentlich freie Stunde dahinschmelzen sah, war schon im Begriff, ungeduldig die Arme zu verschränken, da wurde doch noch die Türe geöffnet. Heraus trat ein massiver, großer schwarzer Kerl mit einem ganz und gar faszinierend strahlendem Gebiss. Den Anblick desselben entgegnete Phrima mit einem süßen Lächeln, dass sie, nicht nur angesichts dieser Zahnpracht, sondern auch an das versprochene Brot morgen denkend, durchaus überzeugend hinbekam.
    “Salve. Ich heiße Phrima und bin Sklavin bei den Flaviern. Meine Herren aus der Gens haben mich hierher geschickt, um dem ehrenwerten Senator Aurelius Corvinus und seiner Gattin Flavia Celerina eine Einladung zu einer Cena in der Villa Flavia auszusprechen.“ Hoffentlich müsste sie jetzt nicht rein, um es dem Aurelier selber zu sagen! “Du kannst es ihm doch sicher ausrichten, oder?“, fragte sie nach einer ganz kurzen Pause des Zögerns nach.

    [Blockierte Grafik: http://img195.imageshack.us/img195/743/cubiculariaphrima.jpgPhrima


    Phrima ärgerte sich enorm.
    Von allen Sklaven, die in der Villa Flavia herumliefen, von all jenen hatte Piso sich sie aussuchen müssen, um mit jenem aurelischen Senator zu sprechen. Nun gut, Phrima war nicht dumm. Sie würde sogar ihren rätischen Akzent verschleiern können bei dieser einen Gelegenheit. Und sie war sicherlich imstande, die Nachricht zu überbringen. Sie hätte es sogar begrüßt, hätte sie diese Arbeit zu tun gehabt statt schwerem Schuften. Aber dies war nicht der Fall. Phrima, Cubicularia der Villa Flavia, hatte gerade alle Betten in der Villa bezogen und hatte sich schon auf einen gemütlichen Restvormittag gefasst gemacht, da hatte Piso ihr plötzlich noch einen Auftrag gegeben.
    Und so blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre freie Stunde zu opfern – immerhin mit der Aussicht, dafür am nächsten Morgen ein wenig echtes und wahres Brot zu der Frühstückspampe dazuzubekommen – um zu den Aureliern hinüberzugehen. Seufzend blieb sie vor der Porta, vor der sie noch nie gewesen war, stehen und klopfte zögerlich an.

    Piso starrte noch immer einsam, hilflos, verloren auf die Leiche seiner Schwester, als er plötzlich eine Hand auf seinem Arm verspürte. Krampfhaft wandte er seinen Kopf zu der Richtung hin, wo er die dazugehörige Person erkennen konnte. Sie fragte ihn, wie es gehe. Nigrina hatte eine alte Trauerrobe angezogen; etwas zu tragen, was nicht der elegantesten Mode entsprach, sah ihr eigentlich gar nicht ähnlich. Jedoch war es angemessen, so etwas zu tragen in diesen traurigen Tagen. Und seine Schwester wusste, was sich schickte, kein Zweifel hatte Piso daran.
    Er blickte sie nun also nur traurig an. “Scheiße“, antwortete er ihr ganz ehrlich. “Richtig scheiße. Aber danke der Nachfrage.“ Er senkte seinen Blick zu Boden und umfasste ihre rechte Hand mit seiner linken. Gut möglich, dass sie das nicht mochte, aber Piso mochte es, und er war der ältere Bruder, also basta. Händchen halten, wie süß.
    Er schwieg eine kurze Zeit. Dann blickte er wieder Nigrina an, nachdem er seinen Blick vorher wieder weggedreht hatte, um auf Veras totes Antlitz zu starren. “Sie hätte nie nach Rom kommen dürfen. Die schmutzige Luft hier... der Lärm in der Nacht... die Stadt an sich... es hat sie umgebracht. Das alles miteinander.“ Nass wurden seine Augenwinkeln wieder.

    Hahaha? Was war denn jetzt wieder so komisch? Das Lachen missfiel Piso sehr, er zuckte kurz zusammen, als er es hörte. Dennoch zwang er sich dazu, weiter zuzuhören. Immerhin hatte der Mann noch, zumindest gab er dies vor, einen Draht zum Realismus. Wiewohl Piso so etwas sehr hanebüchen vorkam. Er sollte, mithilfe der Leute der Kanzlei und der Provinz, alle auflisten, die als Römer existierten? Insbesondere die Ritter und die Senatoren. Was auch immer das heißen mochte, vielleicht gab ihm das Spielraum, um bei den normalen Bürgern zu schlampen.


    “Nun gut, ich werde dann zur Kanzlei gehen und die Provinzverwaltungen anschreiben.“ Er dachte kurz nach, bevor er hinzufügte, fragend: “Und dies wäre dann etwas, was ich in meiner Funktion als Quaestor Principis tun würde? Also nicht außertürlich?“ Denn zu einem Quaestor Salinatoris wollte er sich nicht herabdegradieren lassen, und das sollte Salinator auch klar sein.

    Der Flavier tastete sorgsam die Kline, auf der er lag, nach einer bequemeren Sitzgelegenheit ab, fand aber keine, sodass er seine Konzentration wieder auf Gracchus richtete. Oh, diese Griechen! Piso verzog das Gesicht. “Was für ein Idiot. Hier in Rom erwarten ihn unglaubliche Entlohnungen und Bezahlungen für solche Dienste. In Athen erwarten ihn Tod und Vergessen. Cosmas zu ihm schicken, meinst du?“ Er grübelte kurz nach. “Warum kaufen wir uns nicht einfach einen anderen Arzt? Einen Besseren? Es könnte gut sein, dass wir einen billiger hier in Rom bekommen, als dass wir einen unserer Sklaven nach Griechenland schicken, wo er so weit von uns weg ist, dass er auf die Idee kommen könnte, wegzulaufen!“ Nein, Piso gefiel die Idee ganz und gar nicht. “Also, ich würde einen Neuen kaufen.“ Piso missfiel die blöde Hackfresse des Griechen sowieso. Der sollte doch dorthin gehen, wo der Pfeffer wächst.
    Er registrierte das betretene Lächeln des Gracchus und nickte ihm zu. Er hätte breit zurückgegrinst, aber hier ging es nicht um Kinkerlitzchen! Hier ging es um seine Zukunft, um sein zukünftiges Wohlbefinden, um seine Lebensgestaltung! Nichtsdestotrotz rang er sich ein Lächeln ab, als Gracchus ihm die Ingredienzen zum Gott werden sagte. Nein, so dringend musste Piso auch nicht Gott werden. Auch wenn es nicht schlecht wäre. Nein, wenn er es sich so richtig überlegte... „hier kommt der Gott Flavius Piso!“ klang doch besser noch als Quaestor Flavius Piso, oder? Vielleicht würde er den göttlichen Rang irgendwann einmal erreichen, auch wenn man in diesem Rang noch nicht unbedingt Gott sein musste (war, so dachte sich Piso, ähnlich wie bei Senatoren und Leuten im Ordo Senatorius). “Wenn er die Absicht hätte, wäre das eine gelungene Überraschung. Aber ich glaube, er hat da eher diesen komischen Vescularius da in Aussicht...“, nörgelte er, aber auf eine belustigte Art und Weise. Obwohl... Gottkaiser. Das wäre wirklich was. Dann würde es auch kein Aurelierfatzke mehr wagen, ihm dumm zu kommen. In diesem Falle müsste er sich einfach nur Prisca schnappen und fertig, ohne groß Herumzudebattieren mit diesem Corvinus da, der sich aufplusterte wie ein Pfau.
    Und dann – tadaaa – gab ihm Gracchus Recht. Piso horchte auf. Sein Vetter, ihm zustimmen in dieser Sache? Nein, damit hatte Piso nicht gerechnet. Viel eher hätte er damit gerechnet, dass Gracchus nun das Tympanon in die Hand nehmen und es ihm frustriert über den Kopf ziehen würde. Doch zu solchen ablehnenswerten Gewaltdemonstrationen gegenüber dem im Grunde friedfertigen Piso kam es nicht. Doch stattdessen kam ein wenig Philosophie, und Piso musste scharf mithorchen, um bei dem durchzusteigen, was Gracchus sagte, und halbwegs mithalten zu können. Und bei Apoll, das war schwerer Tobak. “Ich glaube, der Mensch ist von Natur aus unperfekt“, machte Piso. “Wären wir perfekt, wären wir keine Menschen mehr. Und siehe, selbst die Götter sind nicht perfekt – Iuppiter präsentiert sich in so vielen Sagen als Schürzenheld, Iuno als eifersüchtige Matrone, um nur Beispiele zu nennen – wie sollen wir Menschen da überhaupt an Perfektion nur denken? Wir sollten uns selbst gegenüber etwas weniger streng sein. Denn sind es nicht unsere Schwächen, unsere Fehler, die uns zu dem machen, was wir sind?“ Womöglich hatte er jetzt nur gesagt, was Gracchus schon angedeutet hatte, aber das waren seine Gedanken. Piso lächelte über Gracchus‘ Paradoxon, welches er ihm da präsentierte, dass er es nicht gänzlich verstand, tat nichts zur Sache, aber es tat gut, solch nette Worte zu hören.
    Und dann kam er, der Augenblick, da er Gracchus anvertraute, wer seine Erkorene war.
    Langsam wiederholte Gracchus diesen wunderschönen Namen, dessen Aussprache von Gracchus alleine Piso schon dazu fast getrieben hätte, seine Augen gen Himmel zu wenden, seine Hände zusammenzuklatschen und laut „hach“ zu machen. Doch er war viel zu konzentriert auf Gracchus‘ Reaktion.
    Was nun war das? Ein Zucken der Mundwinkel? Ujegerl. Jetzt würde Gracchus seinen Mund verziehen, angeekelt, und ihn dann anbrüllen ob seiner Dummheit und der ewig währenden Schande, die er über die Flavier nun gebracht hatte. Au weia, Piso konnte so dermaßen einpacken. Vielleicht sollte er zu Aristides nach Baiae runter, um dort sein Leben als einsamer Lokalpolitiker zu beschließen? Um dort im Exil vor sich hinzufristen, manchmal wehmütig an Rom denkend, an die versäumten Möglichkeiten, an sie.
    Und was war das für ein Geräusch? Sicher der schweinisch grunzende Auftakt zu einem Donnerwetter! Doch halt. Wer stinksauer war und sein Gegenüber in der Luft zerfetzen wollte, der würde sicher nicht... lachen. Gracchus lachte. Er lachte über das, was Piso ihm gesagt hatte. Kurz dachte sich Piso, Gracchus lachte ihn nun aus, und verharrte erst einmal nur im stummen und versteinerten Entsetzen, doch die Worte des Gracchus verschafften Gewissheit. Piso nickte nur krampfhaft, als Gracchus ihm seine Frage stellte, und endlich glitt langsam, langsam ein hoffnungsfrohes Lächeln über sein Gesicht.
    In der Anwesenheit des Aurelius Corvinus die Contenance verlieren? Oh ja, gut möglich, dass das möglich war! Bei ihm auf jeden Fall! Nun ganz strikt gesagt war Aurelius Corvinus nicht in seinem Blickfeld gewesen, als er sich an Prisca rangemacht hatte – aber er war sicher da gewesen, wie hätte er sie sonst sehen können? Oh ja, alles war nur die Schuld seiner Anwesenheit! Super, ein Sündebock war gefunden! Aurelius Corvinus, und das bekam er auch von Gracchus bestätigt! Piso hätte Gracchus umarmen können vor Freude. Jetzt zierte wieder ein Grinsen sein Gesicht. Piso merkte, die Dinge kamen wieder ins Lot, ganz langsam aber sicher. Gracchus sah nun ganz so aus, als würde er Piso helfen! Weiterhorchen, befahl er sich selber, wiewohl er grinste beim Gedanken, dass Celerina ihren Mann ordentlich auf Trab hielt. Dass dem der Fall tatsächlich war, konnte Piso sich denken.
    Er beugte sich ganz leicht vor, als Gracchus ihm, nach kurzer Überlegungszeit wohl, seine Gedanken anvertrate. Ja, was würde Piso machen, wenn Nigrina – nein, schlechtes Beispiel, da schon im Gespräch, was Heirat anging – wenn er Vera im Garten mit einem anderen Mann sich küssen sah? Nun ja. Vielleicht würde Vera wieder gesund werden. Vielleicht würde dies wieder der Fall werden... nun ja, Piso vertraute Vera so sehr, dass er erst einmal nicht das Schlimmste annehmen würde. Eine Erklärung würde er schon verlangen. Aber das erste, was er tun würde, wäre nicht eine Palette an Schimpfwörtern.
    Aber nun gut, Gracchus hatte da auch wieder Recht. Es war eine törichte Aktion gewesen (kam nicht töricht so als Wort von Tor?, dachte sich Piso, sprachwissenschaftlich durchaus geschult). Aber ja, subaltern beschreiben, was ihm dieser ganze Käse von wegen Ehre und Anstand gewesen war, als er ihre weichen Lippen auf den seinen verspürt hatte, dieses sublime Gefühl, welches sein Herz geöffnet und seine Tunika unten ausgebeult hatte.
    Piso blinzelte, als er den Vorschlag hörte. Hatte er sich da verhört? Oder war dies wahr gewesen? Gracchus würde mit Corvinus reden? Der Flavier spitzte seine Lippen und riss seine Augen auf. Was sagte Gracchus da? Er hatte Zweifel daran, dass die Liebe ewig halten würde? Gracchus wusste ja nicht, dass Venus sie ihm höchstselbst verliehen hatte!
    “Ich bin überzeugt, Gracchus“, machte er also, “dass ihr Gefühl ihr gegenüber nie erlöschen wird, bis ich alt und zahnlos bin. Ohne sie werde ich mein Leben lang der unglückseligste, mit ihr so lange ich lebe der beglückteste Mann der Welt sein.“ Er schluckte, als er seine Worte hervorbrachte. Dann holte er tief Atem. “Danke, Gracchus. Danke, danke, danke, danke, danke. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.“ Irgendetwas in seinem Inneren hielt ihn davon ab, aufzustehen, Gracchus zu umarmen und ihm einen dicken, schlabbrigen Schmatzer auf die Wange zu setzen. Es war vielleicht jene Distanz, die Gracchus immer pflegte, und zwar jedem gegenüber. Wohl auch sich selbst.
    “Ich habe eine Idee!“, kam es Piso. “Wir, also ich und du, laden Corvinus und Celerina zu einem Mahl ein. Hier, in der Villa Flavia. Viel besser, als zu den Aureliern zu gehen! Es geht um nichts Politisches in dem Sinne, in welchem es bei unseren Gesprächen mit den Aeliern ging, also kann eine Frau dabei sein. Bedrängt von drei Flaviern, auf flavischem Grund und Boden, wird Corvinus kaum anders können, als beizugeben!“, jubilierte er, entbrannt von der Idee. Er würde beizeiten noch irgendein Würstchen aus der flavischen Sklavenschaft schicken, um eine Einladung abzugeben.
    Noch immer komplett gerührt von der Großmütigkeit seines Vetters horchte er sich an, was dieser über außereheliche Beziehungen zu sagen hatte. Nun, da die Möglichkeit einer Heirat in eine Nähe gerückt war, die geradezu extasisch war, war Piso aus seiner Melancholie aufgerüttelt worden, und schenkte dem, was Gracchus sagte über Ehebruch, nicht mehr viel Gedanken. Er und Prisca würden nun vielleicht doch heiraten, es sah viel wahrscheinlicher nun aus! Und sie würden bis zum Ende ihres Lebens glücklich sein, sich von ihren Sklaven Eierkuchen servieren lassen, aus dem Hortus einen Ponyhof machen und durch ein schönes Leben ohne Widerstände durchflutschen. Er lachte sogar, als Gracchus ein bisschen pessimistisch schloss. “Ach, Gracchus, ennervierend und diffizil, ich glaube, ich kann dir nur zustimmen! Das Blöde ist eben, dass man sie einfach lieben muss!“ Von den Neigungen seines Vetters hatte er ja keine Ahnung. “Denn ist es nicht das schönste Gefühl von allen, einer Frau den Hof zu machen? Ich sage dir, neben dem Essen sind sie das Wundervollste auf der Welt!“

    Piso schnaubte wie ein Pferd. “Ja, das habe ich auch schon gesehen“, kommentierte er ihren Kommentar. Immerhin hatte sie eine frohe Botschaft am Ende ihrer Satzkette, aber ob er das wirklich noch glauben konnte? Piso schaukelte sich hinein in eine fatalistische Gedankenwelt, die sich kurz darauf auch mit dem Tod zweier nahe stehenden Menschen materialisieren würde. Er lächelte sie an, eher müde als aufgeweckt. Wieso musste er soviel kämpfen um wirklich alles? Alles auf einem Silbertablett serviert bekommen wäre schön. Für nichts arbeiten müssen, für nichts auch nur einen Gedanken verschwenden. Ja, das wäre nett. Träum weiter, Aulus, dachte er sich, entnervt schon alleine über seine eigenen Vorstellungen.
    Schön? Nun ja, gut. Dass sich Piso selber nicht an diesen Plan halten würde – sondern einen viel besseren aushecken würde – das wusste er ja noch nicht. Aus diesem Grund tauchte er auch nicht aus seinen schweren Gedanken hervor, sondern überlegte sich tatsächlich vielmehr, was er in der Zeit tun könnte bis dahin, um nicht komplett wahnsinnig zu werden. Sich vermutlich in Arbeit reinstürzen. Oder vielleicht irgendwas Künstlerisches machen? Ach, Bockmist.
    Es schien ihr aber total neu zu sein, dass Nigrina einen Aurelier heiraten sollte. So, Corvinus hatte ihr ncihts davon erzählt? Entweder hatte ihm dieser eine Aurelier nichts davon erzählt, oder Corvinus hatte dem keine Bedeutung zugemessen – was auch keine Überraschung wäre, wenn man sich anschaute, was für ein fürchterlicher Typ dieser Mann im Allgemeinen war! Keinerlei Gedanken verschwenden über die Flavier, runterschauen auf sie! Das ging doch nicht an! Er zuckte aber nur die Achseln. “Aber es ist so“, machte er ganz neutral.
    Nigrina mitnehmen? Nun, das wäre was! Aber ja, Nigrina könnte hilfreich sein... tief im Inneren brauchte Piso doch eine resolute Frau, die ihm seinen Rücken aufrecht hielt. Und seine Schwester könnte gut dafür sein. Er wollte gerade eine Nettigkeit erwidern, da kam Celerina mit einer Doppelhochzeit. Da musste Piso ein wenig lachen. “Eine Doppelhochzeit, na fein, dann haben wir die Wahl, ob wir die aurelischen oder die flavischen Laren verärgern – vermutlich verärgern wir beide bei so etwas!“ Aber wie sollte sich Celerina dabei auskennen? Zwar war ihr Mann Pontifex, aber sie selber war keine Priesterin. Und er wusste nicht, ob sie und ihr Mann sich groß über Religion unterhielten – ein anregendes Konversationsthema war es wohl nicht.
    Er nickte, als sie sich verabschiedete. “Gut. Gut. Gut. Hat mich sehr, sehr, sehr gefreut! Und vielen Dank noch einmal für alles! Ich bin mir sicher, alles kommt in Ordnung!“, hoffte er, redete er sich ein, delusionierte er. “Ja, wir sehen uns dann. Vale, Celerina. Und dir auch.“ Er lächelte seiner Nichte/Base/Tante (so genau nahm man es mit Verwandschaftsbezeichnungen bei den Flaviern nicht) zu, sie würde sicher den Weg alleine rausfinden.

    [Blockierte Grafik: http://img232.imageshack.us/img232/9697/acanthusmj4.jpg] Acanthus


    Oh, wie versucht Acanthus war, diesem Mann mit der lapidaren Mitteilung, der Herr wäre nicht zuhause, die Türe vor der Nase zuzuknallen! So ein grauenhafter Ungustl! Aber das könnte nach hinten losgehen. Und nichts würde Acanthus weniger mögen, als dass seine Zuverlässigkeit in Frage gestellt werden würde. Das hier war wohl Furianus‘ Klient. Acanthus dachte ganz kurz nach, aber wohl nicht kurz genug, was den Kerl vor der Porta anging, bevor er inmitten der grantigen Giftzwergereien des Mannes nickte. “Komm rein. Rechter Fuß zuerst“, wies er an, denn als Ianitor war es ja auch seine Aufgabe, sicher zu stellen, dass Besucher mit dem glücksspendenden Fuß zuerst eintraten, alles andere war ein schlechtes Omen! Phoebus, wie immer im Vestibulum rumlungernd, verschwendete auch keine Zeit und führte den Besucher ins Atrium.