Denn Dunkelheit war es, was er sah. Nun, nicht ganz totale Dunkelheit. Wie damals, als man ihn als Kind in den Schuppen gesperrt hatte, damals, in Ravenna... da hatte er Angst gehabt. In der Dunkelheit. Doch nein, dies war eine andere Dunkelheit. Eine kuriose Dunkelheit. Eine durchflutete Dunkelheit. Wer flutete denn darin? Etwas, was Piso sah. Urplötzlich. Eine Gestalt. Wer es war, wusste er nicht zu sagen.
Zumindest nicht, bis die Gestalt näher kam. Er blinzelte. Was sollte dies? Was war dies? Nochmals blinzelte er.
“Salve, Aulus.“
Es war... ein rosarotes Kaninchen. Nun, nicht ganz. Es war der Kopf eines Vogels. Das Profil eines Kaninchens, die Silhouette eines Kaninchens. Abermals blinzelte der Flavier.
“Bin ich tot?“
Das Kaninchen wackelte mit dem Schnäuzchen. Es war niedlich.
“Hmm. Lass mich das so sagen: du hast ein übles Loch da in deiner Brust. Das schaut gar nicht gut aus.“
“Autsch.“
“Durchaus autsch.“
“Was war das?“
“Du hast es selber gesehen. Ein Haus ist über dich zusammengestürzt. Da bleibt kein Auge trocken.“
“Haus stürzt zusammen? Ach wo! Daran sterben Peregrini! Aber doch keine Patrizier! Keine Senatoren!“
“Doch. Du.“
“MIST!“
“Dein Körper ist eine totale Ruine. Elende Art, zu sterben, hmm?“
“Das war ein politischer Mord! Ganz sicher! Sicher hat dieser Vescularius seine Finger im Spiel gehabt! Oder dieser Duccius! Oder wissen die Götter wer!“
Das Kaninchen schwieg eine Sekunde auf die Anschuldigungen hin, dann stellte es, ohne drauf einzugehen, eine direkte Frage.
“Weißt du, wer ich bin?“
Piso hörte endlich mit dem Rumwüten auf, und öffnete seinen Mund. Er ließ ihn offen, ein paar Sekunden lang. Dann antwortete er.
“Du bist... nicht Iuppiter, oder?“
Die Stimme der Gestalt war weich, vibrierend... wenn Piso es nicht besser wüsste, hätte er sie als elastisch beschrieben. Ölig wäre ein besseres Wort, ja, ölig. Und doch freundlich.
“Nein“, antwortete friedlich das Kaninchen; Piso wunderte sich, warum es sprechen konnte. Sollte sowas nicht einfach nur schnüffeln und so?
Piso kratzte sich am Kopf – nein, tat er nicht, er wollte nur, aber mehr als das Gefühl, sich am Kopf zu kratzen, passierte nicht. Wie sollte er es in Worte drücken? Was geschah, war so irreal.
“Ach Herrje. Ich weiß, wer du bist! Du bist Serapis!“ Voller Furcht musste Piso sich es verbeißen, sich zu Boden zu stürzen. “Serapis! Oje! Oje! Es tut mir Leid!“ Das Kaninchen reagierte nicht. “Ich habe dir damals nicht mit Absicht auf deinen Schrein in Ravenna gepieselt! Ich war etwas angeduselt... nun ja, benebelt, und... ähmmm... es kommt nie wieder vor!“
Das Kaninchen entgegnete ruhig, friedlich, mit merkwürdig hoher Stimme: “Nein, Aulus. Ich bin nicht Serapis. Und Aulus, es war natürlich volle Absicht, schließlich war Serapis nie dein Liebling. Aber in einem hast du Recht. Es wird nie wieder vorkommen. Nicht von deiner Seite aus. Denn deine Harnblase ist total im Eimer. Dein Urin vermengt sich mit deinem Blut. Du wirst sicher nie mehr wohin pieseln.“
Piso verzog das Gesicht; hätte es zumindest getan, hätte er können. “Ui. Muss ziemlich schlimm aussehen.“ Kurze Pause. “Antiästhetisch.“ Das Kaninchen reagierte nicht. Piso seufzte.
“Wer bist du dann? Der komische Keltengott? Cernunnos? Der Typ hat ja auch so ein Teil am Kopf oben...““Das ist kein Teil, sondern meine Ohren. Und Cernunnos hat ein Geweih. Schäme dich, oh Hohepriester.“ Piso dachte kurz nach. “Oh. Hmm. Ach du Scheiße. Bist du der Christengott?“
Das Kaninchen schien zu lächeln, und fing dann laut an zu singen. “Phos hilaron hagías doxes, athanátou Patrós, ouraníou, hagíou, mákaros, Iesou Christé...“ Piso sog scharf Luft ein. “Ach du KACKE! NEIIIIIN! Haben die Halunken Recht gehabt. Jetzt werde ich in der, wie hieß das Teil noch mal, Hölle brennen! Mist!“
Das Kaninchen verharrte ruhig, dann lächelte es. “Ich veräppel dich nur.“ Piso blickte verdattert auf, oder wollte zumindest verdattert aufblicken. “Wer bist du dann?“
Das Kaninchen verharrte einen Moment. Dann sprach es.
“Ich bin ein rosarotes Kaninchen.“
Piso stöhnte. “Ach ne. Jetzt sag mal, was bist du echt?”
“Das, was du schon immer haben wolltest. Ein rosarotes Kaninchen.“
Piso ächzte, dann schlug er sich die Hand vor die Stirn, nur, dass er das nicht konnte – irgendwie war er körperlos.
“Ach, natürlich! Das habe ich mir zu meinem 5. Geburtstag gewünscht! Ich habe mir ein rosa Kaninchen gewünscht! Bekommen aber habe ich das nicht.“ “Was hast du dann bekommen?“ Piso wurde agitiert. “Eine Ohrfeige habe ich bekommen! Was glaubst du! Bei meinem Vater...“ Er stöhnte. “Götter, der alte Trottel überlebt mich jetzt. Ach du grüne Neune.“
Er schnaubte. “Also, gut, du hast deinen Auftritt gehabt. Wann sehe ich die Götter?“ “Nie, Aulus.“ “So, jetzt sag ich dir mal eines! Ich beharre auf mein Recht, die Götter...“ Das Kaninchen wirkte mitleidig.
“Priesterchen, Priesterchen. Die Götter sind nicht.“
Piso räusperte sich. “Pah. Du kannst mir nicht einreden, dass ich mein ganzes Leben damit zugebracht habe, Götter zu opfern... und das war vergebens.“
“Doch.“ Piso stöhnte.
“Mensch! Dass gibt es nicht! Das kann nicht sein! Die Opfer waren teuer! Hätte ich den ganzen Wein, den ich geopfert habe, doch selber getrunken! Och neeee!“ Er schmollte. Keine Reaktion auf seine Worte.
Piso fing nun ernsthaft zu jammern an. “Oh Mann! Mein ganzes Leben habe ich mich auf das Elysium vorbereitet! Und jetzt muss ich hören, dass das alles nur Schmarren ist?“ “Jepp.“ “Ach du Käse. Ich meine, was wird jetzt von mir bleiben? Was wird jetzt von mir bleiben?“ “Pfff. Weiß ich doch nicht. Sie werden dir wohl eine Büste im Atrium der Villa Flavia aufstellen.“ “Was soll ich mit einer verdammten Büste? Sag mir mal! Was soll ich mit einer Büste?“ “Die Leute werden sich an dich erinnern.“ Piso grummelte. “Nein. Ich habe es nicht einmal geschafft, ein ordentliches Gedicht zu Pergament zu bringen.“ “Hättest du es nicht so lange vor dir herschieben sollen.“ Piso brüllte vor Zorn. “Verdammt noch mal! Ich kann nicht glauben, dass das passiert!“
Das rosarote Kaninchen dachte kurz nach und zuckte mit dem Näschen. “Um ehrlich zu sein, das tut es auch nicht. Du halluzinierst über eine vage Erinnerung aus deiner Kindheit, einen unerfüllten Wunsch. Kommt häufig vor bei Leuten, die sterben. Stellen sich ein helles Licht vor, wenn ihr Hirn nicht genug Luft kriegt. Und manchmal irgendwas drinnen. In diesem Fall ein rosa Kaninchen.“ Nun war der Flavier baff.
“Nein. NEEEEIIIIINNN...“ Er hielt in seinem Urschrei inne. “Was ist das?“ Das Kaninchen erwiderte fröhlich: “Ah. Deinen Hirnzellen geht der Sauerstoff aus.“ “Höh? Was? W...“ Alles verschwamm.
“Tja. Einen fröhlichen Verblutungstod wünsche ich dir.“ Piso wollte was sagen, aber er konnte nicht mehr. Alles wurde dunkel um ihn.
Und draußen, auf der Straße, auf den holprigen Pflastersteinen, irgendwo in der Subura an der Straße zwischen Quirinal und Curia Iulia, umgeben von Schaulustigen, von nicht sehr ästhetischem Schutt, einer Blutlache (die sich aus seinem eigenen Saft bildete) und anderen Opfern des Zusammenbruch des Hauses, hauchte Piso seine patrizische, senatorische Seele aus.
Rom war um einen Künstler, wie er nur einmal in einer Generation vorkam – ob im Schlechten oder im Guten, lassen wir einmal dahingestellt – ärmer.