Verbrannte Erde. Anders konnte man die direkte Umgebung von Mantua mittlerweile garnicht mehr nennen. Hätte Vala auch etwas für Melodramatik übergehabt, hätte er es wohl Land der Tränen genannt. Oder noch etwas kitschiger: Land der Verlorenen. Oder Land ohne Hoffnung. Land des Vergessens. Land des Blabla.
Für Vala war es hingegen einfach nur verbrannte Erde. Wegen der vielen Feuer, die die Toten ins Elysium befördern sollten. Aber selbst das nahm ab. Nicht lange nach dem Ausbruch ging erst das Feuerholz aus um die vielen Toten zu verbrennen, bis man sie irgendwann zusammen verbrannte, und nicht viel später kaum mehr. Als dann auch noch den Überlebenden die Kraft und der Wille ausging, sich den Traditionen entsprechend um ihre Toten zu kümmern, ging es selbst mit den Toten bergab. Was hatte Vala an diesem Tag nicht alles gesehen? Ungezählte abgebrannte Totenfeuer, bei denen man sich nicht mehr die Mühe gemacht hatte nachher die Überreste der Verstorbenen in Urnen zu füllen. Brandstätten, bei denen man nicht genug Holz gesammelt hatte und die man noch an den verkohlten Resten der Toten erkennen konnte, die jetzt als traurige Mahnmale des Niedergangs der Sitten in dieser Krise unbeachtet auf den Feldern lagen.
Und selbst wenn sich eine Bestattung fand, bei der die Trauergemeinde mit Präsenz glänzte, zeigte sich wie sehr die Gesellschaft der Stadt mit der Situation überfordert war. Die Geschichte, dass sich ein Toter während der Verbrennung schreiend in den Flammen wälzte verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die wenigen Gespräche die noch auf den Straßen stattfanden, und sorgten noch einmal zusätzlich dafür, dass immer mehr Menschen die Stadt verließen um dem Grauen zu entkommen.
Was hatte Vala hierher getrieben? Was bei Loki und all den tyrannischen Mären seiner Heimat hatte ihn an diesen Ort gebracht? Es war eine rhetorische Frage, und die Gewissheit der Antwort in ihm selbst machte die Sache nicht besser für ihn. Er brauchte sich nur umdrehen... nur einen halben Schritt, und er würde den Grund manifest mit den eigenen Augen sehen. Aber er konnte nicht. Nein, er WOLLTE nicht. Bei all den Toten, die er in den letzten Tagen gesehen hatte und sie sofort wieder vergaß, diesen Anblick würde er nicht ertragen können. Und er hasste die Welt dafür, dass er es musste.
Als eine der reicheren Familien der Stadt hatte man es sogar fertig gebracht noch zwei Klageweiber zu organisieren, die mit ihrem jämmerlich-einsamen Gejaule mehr eine Farce denn eine Referenz an die Tradition darstellten. Die Gruppe der Trauernden war dennoch kaum mehr als eine handvoll Menschen groß. Die beiden Brüder, die Mutter, eine Schwester... und Vala. Die zwei Sklaven, die mit ihrem Herrn nicht schon vor einer Woche in das Eiterkochende Elysium gefolgt waren rechnete er schon garnicht mehr dazu. Sie würden eh vergehen, wie alles hier. Wie Valas Selbstbeherrschung, wenn er sich umdrehte. Und warum? Nicht weil sie dort lag, aufgebahrt auf dem Holz, dass man aus einer alten Bruchbude geschlagen hatte um die Tochter des Hauses nicht wie die restlichen verlorenen Seelen dieser Gestade den Krähen preiszugeben. Nicht weil sie es war, die er noch vor so kurzer Zeit quickfidel und besorgt um all die kranken Menschen in der Stadt hatte für eine Besserung schuften sehen, zum Argwohn ihres kranken Vaters und ihrer Brüder. Hatte er die Nachricht von ihrem Tod in der steten Erschöpfung, die ihn seit Tagen im eisernen Griff hatte, noch beinahe teilnahmslos zur Kenntnis genommen, hatte ihn der Anblick der Toten bei der Aufbahrung auf dem Holz mit nicht weniger als kaltem Grauen erfüllt.
Es war seine Mutter, die dort lag. Nicht die Luscia, mit der er immer wieder das Bett geteilt hatte. Es war Alrun, Weib des Leif. Mutter des Alrik. Und sie war tot. Schon wieder. Oder immernoch? Wie bizarr der Gedanke auch war, es war der gleiche Anblick wie vor fast genau einer Dekade. Die Menschen weinten um die vielversprechendste Tochter des Hauses, eine Tochter Mantuas, und eine der vielen die in diesen Wochen ihr Ende fanden. Doch es war Iulia Duccia Germanica die Vala auf dem hölzernen Totenbett liegen sah. War er wieder Kind? Er fühlte sich so... genauso hilflos dem Anblick ausgeliefert wie damals, aber nicht mehr geschützt von kindlichem Unverständnis für das Geschehen. Und sein Vater stand auch nicht mehr neben ihm, mit steinerner Miene, den Übergang seines geliebten Weibs nach Utgard betont regungslos ertragend. Er war allein. Von den Göttern verlassen und alleine dem Grauen ausgesetzt, dass die Nornen schon so früh in sein Leben gebunden hatten und es jetzt wiederkehren ließen. Er war gelähmt vor Angst, und alleine die Erkenntnis dessen zwang ihn dazu, sich umzudrehen. Keine Schwäche. Bei den Göttern, keine verdammte Schwäche!
Er zog sich die Kapuze seiner Toga so tief ins Gesicht wie der Anstand zuließ um sich wenigstens den Ausdruck der Schwäche vor den anderen zu ersparen. Aber es ersparte ihm nicht den Anblick der toten Alrun. Den Anblick des Gesichts, das er seit so langer Zeit nicht gesehen hatte, und eigentlich auch nie wieder sehen wollte. Er hatte nicht darum gebeten, und fragte sich ernsthaft, warum man ihn damit strafte? Seine Bauchgegend verkrampfte sich derart, dass er das Gefühl hatte er würde zu Stein. Und irgendwo wünschte er sich das auch. Stein zu werden. Kalter, emotionsloser Stein, wie die Statuen in den teuren Gräbern der Stadtoberen.
Ihr Gesicht war eine Verzerrung dessen, was Vala so lange hatte mütterliche Liebe geschenkt, in Zeiten in denen sie Baumrinde und tote Ratten aßen um nicht zu verhungern. In denen sie in Erdlöchern gehaust hatte um den Schergen Modoroks nach einer verlorenen Schlacht zu entgehen. In denen sie wieder eins von Valas Geschwisterchen verloren hatte.
Und auch jetzt würde sie das. Der leicht gewölbte Bauch der Toten ließ keinen anderen Schluss zu. Und selbst wenn sich die Realität zurück in Valas Geist kämpfte, machte es das nicht besser. War er nicht der Bruder des toten Kindes im Leib der ebenso toten Alrun, so war er der Vater des toten Kindes im Leib der toten Matiena.
Die Zeremonie fand ihr Ende, und das Feuer seinen Weg zum Leib der Toten. Als die Flammen ihr Werk begannen, biss Vala die Zähne so sehr zusammen, dass es weh tat. Jeder Muskel in seinem Körper, der sich seit einiger Zeit nurnoch taub anfühlte weil er kaum schlief noch sich überhaupt irgendwelche Ruhe gönnte, er war jetzt zum Zerreissen gespannt. Selbst als knirschend ein Stück eines Eckzahns splitterte bekam Vala es nicht mit. Zu sehr war er damit beschäftigt sich mit dem Rest seiner Selbstbeherrschung gegen die Panik zu stemmen, gegen das Grauen das ihn wie ein Mahlstrom in den Abgrund zu reißen drohte. Das einzige, was sich Vala vergegenwärtige waren die Tränen. Die er ebenfalls genau seit dem Tod seiner Mutter nicht vergossen hatte, und um die zu bekämpfen er jetzt einfach zu schwach war. Wie damals. Er hasste es dafür. Und er hasste sich dafür.
Und dann war es vorbei... wie in Trance begriff Vala, dass das Feuer seine Aufgabe vollbracht hatte. Die Geschwister der Toten begannen damit, ihre äschernen Überreste in eine Urne zu füllen, und schließlich löste sich die Gruppe auf, ohne dass jemand ein Wort miteinander wechselte. War es die Furcht oder die Trauer, es machte keinen Unterschied, denn Vala war wieder alleine. Und er blieb es noch eine geraume Weile, bis sich die Realität zurück in seinen Geist gekämpft hatte, und mit stoischer aber verzweifelter Bestimmtheit den Beinen befahl sich zurück zu seinem Gaul zu begeben. In der Stadt die Toga gegen die Rüstung zu tauschen. Und zurück zum Castellum zu reiten.
Was seine Zeit brauchte, denn das Pferd bestimmte das Tempo. Er selbst dämmerte nur über die Straßen, bis der Anblick des Castellums und der am Tor angebrachten Trennungszelte, eine Idee des Primus Pilus, ihn etwas näher in Richtung Wachheit rückte.
Den Gruß erwiderten die Soldaten erst mit nur halbherzig vorgebrachter Aufmerksamkeit, doch als sich der Blick eines Legionärs an Valas Gesicht heftete und kreidebleich wurde, wandten sich mehr Soldaten dem Tribunen zu.
'...eh... Tribunus Duccius? Alles in Ordnung?', war die leicht zögernde aber deutlich hörbar angsterfüllte Stimme eines der Wachhabenden, und Vala quittierte die Frage mit erschöpfter Ahnungslosigkeit. Natürlich. Was sollte denn auch sein? Er war einer Wiedergängerin begegnet und hatte dabei den Verstand verloren. Das war geschehen. Aber nicht weiter der Rede wert... vor allem nicht vor den Soldaten.
'...dein Gesicht, Tribunus... du blutest.'
Mit träger Regung führte Vala die Hand an seine Wange, und führte sie langsam über sein Gesicht, bis er unter seiner Nase etwas klebriges spürte. Als er ungläubig seine Finger betrachtete, waren sie im Licht der Dämmerung dunkelrot verfärbt.
Die Soldaten schafften es nicht einmal seinen Fall zu stoppen, so schnell fiel Vala vom Rücken seines Pferds. Den Aufschlag bekam er nicht einmal mit, denn es war Nacht um ihn geworden.