War der Regen etwa eine Stunde nach dem Verlassen der Landstraße beachtlich angeschwollen, sodass rasch nicht lediglich die Wollmäntel der Mannschaften, sondern ebenso der erlesene, scharlachrote Mantel des jungen Flavius gänzlich durchtränkt war, weshalb auch die wohlgefettete Kapuze baldig nicht mehr das kühle Nass von seinem Haar ferne hielt. Für einen Augenblick erwog der Jüngling, seinen Helm zu tragen, um sich mit dem impermeablen Metall vor den Himmelswassern zu schützen, doch ehe er diesbezüglich einen Entschluss hatte fassen können, war sein Haupt bereits derart durchnässt, dass es unerheblich erschien. Fortunablerweise unterblieb indessen ein Wind, welcher die Feuchtigkeit in wahrhaftige Kälte gewandelt hatte, was die Sorge des Jünglings, durch die ungesunde Wetterlage sich final noch zu erkälten, als unbegründet erscheinen ließ.
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Am späten Nachmittag schließlich wandelte der vehemente Platzregen sich in ein feines Nieseln, welches nach und nach verschwand, sodass Manius Minor endlich imstande war, seinen inzwischen schwer gewordenen Mantel abzulegen. Bereits als er die Kapuze vom Haupte nahm, erblickte er auf einem Hügel die Destination ihres Marsches: über den Baumwipfeln in der Ferne erhoben sich sanft die Ausläufer des Taunus Mons und auf einem von ihnen ein noch recht klein sich ausnehmender Turm, aus dessen schmalen Fenstern in der oberen Etage bereits matt das Licht von Öllampen glänzte.
"Ich sehe bereits den Turm!"
, rief der Tribun daher erfreut aus und blickte vergnügt hinab zu seinem Beneficarius, der zu Fuß an der Seite seines Vorgesetzten den Strator-Dienst versah und nunmehr ebenso seiner Erleichterung Ausdruck verschaffte:
"Iuppiter sei Dank!"
Gebannt heftete der junge Flavius seinen Blick weiter auf jene noch recht fern sich ausnehmende Szenerie, welche nicht lediglich das Ende ihres Marsches, sondern ebenso das Ende des Imperiums repräsentierte. In den Berichten, welche Roma erreichten, war dies jene Linie, die die Zivilisation von der Barbarei dividierte, hinter der undurchdringliche Wälder, öde Sümpfe und widerspenstiges Land zu einem Leben in der Primitivität verdammten, während diesseits römischer Fleiß die Natur bezwang, um aus ungebändigter Wildnis fruchtbare Felder und saftige Weiden zu formen, die jenen Glücklichen, welche unter dem segensreichen Szepter Roms lebten, Nahrung generierten.
Doch aus der Nähe, in welche sie nun behäbig sich begaben, vermochte man kaum zu differenzieren, welcher Anteil des Waldes unter der Herrschaft Roms stand und welcher nicht. Imperium und Peripherie verschwammen zu einem einzigen Meer nasser Baumkronen, bisweilen felsiger Abhänge und sanfter Hügel. Einzig die Wachtürme ragten daraus hervor gleich seltsamen Fremdkörpern inmitten der gleichförmigen Vegetation. Auch als sie sich weiter approximierten und der Jüngling baldig jene Schneise identifizierte, die seit der Befestigung des Limes die Wachtürme miteinander verband, glichen sie den sich schlängelnden Einbrüchen des allseitigen Blätterdaches, welche größere Bäche und Flüsse sich bahnten.
Jenes Bild stimmte den Tribun nachdenklich: Keineswegs spiegelte jene Realität die Propaganda wider, die in Rom allerorten zu vernehmen war, welche die großen Klassiker der Historiographie und Belletristik über die Grenzen verbreiteten. Bisweilen schien es ihm, als gleiche Roms Präsenz in der Provinz dem Wachturm vor ihm, welcher einsam und allein inmitten ungezähmter Natur sich wiederfand, sie zwar in einem gewissen Raume überblickend und bisweilen gar formend, faktisch jedoch verloren in jener infiniten Wildnis, die ihn umgab.
Mochte Mogontiacums Castrum, das mächtige Theater und die zahlreichen Bauten nach italischem Vorbild jene Zivilisation verbreiten, der der junge Flavius entstammte, so wog dies doch keineswegs die Weiten des Landes auf, durch die Duccius Vala und seine Entourage tagein tagaus ihren Weg bahnten, um in Weilern fern der römischen Städte, in welchen zweifelsohne oftmals nie ein Römer seinen Fuß gesetzt hatte, die Herrschaft auszubreiten, die vorgeblich so segensreich wirkte. Bedachte er die Dörfer am Ufer des Rhenus, welche er auf der Reise hierher passiert hatte, so deutete oftmals nichts darauf hin, dass der Grund, auf welchem sie standen, im Besitz Roms war. Fern schienen prächtige Tempel, distinguierte Kultur und quiritische Ordnung, nicht näher als hier am Ende des Reiches.
Der Jüngling blickte zur Seite, wo die Pioniere jene Bäume und Sträucher, die sie zur Bahnung des Weges entwurzelt hatten, achtlos liegen gelassen hatten. Erdige Wurzeln ragten hier neben noch grünen Zweigen und morschem Geäst hervor, alles mit allem perturbiert, sodass man kaum zu erkennen vermochte, was Baum, Strauch oder Unterholz war gewesen.
Wirkte die Präsenz Roms in diesen unwirtlichen Landen nicht similär? Glichen die Gerichtsreisen des Statthalters mit seiner Entourage in die kleinen Städtlein nicht den Äxten der Pioniere, die angestammte Pflanzen ausrissen und achtlos beiseite warfen, um den dröhnenden Stiefeln der Soldaten, welche jener ungezähmten Natur so fremd waren wie eine italische Kolonie selbst, einen Weg zu bahnen? Verwirrte das römische Recht nicht angestammte Sitten und Normen, wie sie jenseits des Limes tadellos funktionierten? Profitierten die Provinzialen, gedrückt durch Steuern und Frondienste, von der ach so segensreichen Dominanz der Gens togata oder wurden sie nicht lediglich entwurzelt und reifen Ähren gleich aufgetürmt, aufdass sie sich in die Visionen ihrer fremden Herren fügten?
Zweifelsohne war es seine Pflicht, an diesem Orte seinen Dienst zu verrichten, war es notwendig, jene wilden Barbarenhorden zu kontrollieren, um nicht die Tage des Marius zu reanimieren, in welchen Kimbern und Teutonen die Alpen überquert und Italia mit Schrecken überzogen hatten. Doch war es nicht eine Lüge, jene Mission durch den Anspruch zu verbrämen, Rom brächte den Barbaren Kultur und Zivilisation?
Mit jenen Zweifeln im Geiste, stumm über sie nachsinnend, ritt der Tribun dahin und überwand die letzten Meilen bis zu ihrer Destination, wo die Vorhut zweifelsohne bereits begonnen hatte, das Feld zu präparieren.
Bild: DSC03196 by Groundhopping Merseburg, auf Flickr