Beiträge von Manius Flavius Gracchus Minor

    An der Hand seiner Mutter betrat Manius Minor den Garten des Hauses. Während sich um sie herum die eine wahre Pracht floraler Natur entfaltete, war der Geist des Knaben noch immer mit den Passagen aus der Epistel seines Vaters beschäftigt. Voller Ehrfurcht dachte er an die gewählten Worte, die sein Vater zu formulieren vermochte, die auf brillante Weise in anspruchsvoller Syntax verbunden waren, sodass es dem Knaben große Schwierigkeiten bereitete, deren Bedeutung zu entschlüsseln. Dennoch hatte er sich auf die Frage seine Mutter hin bereit erklärt, sich am Entwurf einer Antwort zu beteiligen.
    Gehorsam nahm er an dem Tisch Platz und blickte über die Oberfläche, auf der eine Tabula lag. Sie schien bereits leicht angewärmt, um die Einritzungen mit Hilfe eines Stylus zu erleichtern. Erwartungsvoll betrachtete er sie.


    Die unvermittelte Frage seiner Mutter rief bei dem jungen Flavier einen überraschten Blick hervor. Er hatte damit gerechnet, seine neuerworbenen Schreibfähigkeiten unter Beweis stellen zu müssen. Inzwischen beherrschte er bereits seinen Namen, obschon es durchaus noch geschehen konnte, dass er das 'F' oder das 'N' im Gegensatz zur üblichen Schreibweise nach links orientierte. Welche Kriteria ein Brief hingegen aufzuweisen hatte, war ihm gänzlich unbekannt. Vor seinem geistigen Auge erschienen solche, die er erblickt hatte: Des öfteren hatte er bereits derartige Schriftstücke gesehen, doch aufgrund seiner fehlenden Vertrautheit mit dem Lesen war es ihm nicht möglich gewesen, Stilmerkmale zu erkennen oder sich einzuprägen. Einzig eine Begebenheit war ihm in Erinnerung geblieben: Der Namenszug, der jeden Brief abschloss.
    "Das am Schluss...der Name?"
    äußerte er daher etwas befangen, wie es seiner vorsichtigen Art entsprach.

    Die Frage des Knaben wurde prompt beantwortet. 'E' schien jenes wunderliche Muster zu bedeuten. Nun beherrschte er einen weiteren Buchstaben und begann rasch darüber zu sinnieren, welcher Buchstabe darüber hinaus für einen raschen Lese-Erfolg applikabel war. Bei jenen Wörtern, die seine Mutter ihm hatte lehren wollen, fiel erneut ein Buchstabe ins Auge. Er glich einem Kreuz, wie es die römischen Legionäre zur Bestrafung von Sklaven und Peregrini errichteten. Selbstverständlich hatte er nicht über seine Eltern von derartigen Bestrafungsmethoden erfahren, doch eine der Ammen hatte ihn damit erschrecken wollen - was ihr selbstredend gelungen war.


    Doch ehe es ihm gelang, danach zu fragen, hatte seine Mutter augenscheinlich die Taktik gewechselt, denn sie begann ein Wort in die Tafel zu ritzen. Voller Interesse verfolgte er die Tätigkeit und zu seiner Erleichterung glaubte er, einige der Lettern identifizieren zu können. Jedoch bestand auch keine Notwendigkeit, nach den übrigen Lautwerten zu fragen, denn schon wurde es enthüllt: Ein 'M', welches ihm bereits familiär war, ein 'I', 'N','O' und ein 'R' - zwar war es ihm nicht sofort und dauerhaft möglich, die einzelnen Buchstaben zu detektieren - indes konnte er deren Lautwerte leicht verbinden und damit seinen Rufnamen bilden:
    "Minor!"
    Voller Elation riefer jenen Namen aus und blickte seine Mutter ob seines Erfolges voller Stolz an.

    Soeben war der Knabe im Begriff, sich erneut an sein hölzernes Spielzeug zu wenden, als ein horribler Klang die Luft durschnitt. Vor Schreck öffnete er die Hand, als habe ein Blitz das kleine Krokodil und sei in seine Finger gefahren. Es war evident, dass Manius Minor die Quelle des Geräusches auf falsche Weise interpretierte und, vom Spiel bewegt, dem ehemals in seinen Händen befindlichen Wesen zuzuschreiben. Doch hatte dieses wahrhaftig gesprochen? Im seinem kindlichen Geist schien dies durchaus im Bereich des Möglichen zu liegen! Rasch sprang er auf und betrachtete die animalische Figur. Das Maul hatte sich nicht bewegt! Oder doch?
    Mit größter Vorsicht beugte er sich hinab und betrachtete die fein geschnittenen Züge: weder die kleinen Äuglein, noch die lange Schnauze machten Anstalten, in Bewegung zu geraten. Ebenso lag auch der schuppige Leib unbewegt im Grase. Manius Minor war alieniert von jener Situation. Einen logischen Ursprung für jenes Geschehen zu suchen lag ihm weiterhin fern.

    Als eine hünenhafter Sklave den Weg entlanggeeilt kam, auf seinen Lippen einen kuriosen Laut, den der kleine Flavius nicht im Entferntesten als Namen hätte identifizieren können, sprang er vor Schreck beiseite und umklammerte das kleine hölzerne Krokodil, von dem seine Mutter ihm berichtet hatte, dass ein blinder Claudier es ihm zum Geschenk gemacht hatte. Vorsichtig blickte er hinter einem Busch hervor, als Artomaglos ihn passierte, dann setzte er seinen Weg vorsichtig fort. Zu häufig waren ihm bereits furchteinflößende Männer (und Frauen, denn alles Fremde ängstigte ihn) begegnet, als dass er in Tränen ausgebrochen und zu seiner Mutter geeilt wäre.


    Die Ambition, die er verfolgt hatte, als er sich zum Garten aufgemacht hatte, war das Spiel mit eben jenem Holztier, denn obschon er ein Spielzimmer sein Eigen nannte, gefiel ihm auch die Sonne und da sein Vater ihm erzählt hatte, dass Krokodile in einer Form des Grases, das Schilf genannt wurde, lebten, hielt er den Garten auch für seinen Spielgefährten als angemessenen Lebensraum.


    Schließlich glaubte er, einen opportunen Platz für sein Spiel gefunden zu haben, der wohl aufgrund einer Laune der Fortuna just im Schatten jenes Baumes lag, den Flavianus Aquilius wenige Augenblicke zuvor bestiegen hatte. Vorsichtig setzte er das Krokodil auf den Boden und ging neben ihm in die Hocke.
    "Magst du ein bisschen Gras essen?"
    fragte er das Tier, woraufhin er begann, das Krokodil leicht zu bewegen. Bemüht, seine Stimme tief und einem derartigen Reptil angemessen erklingen zu lassen, antwortete er dann stellvertretend für jenes:
    "Nein, ich esse gerne Fleisch! Fang mir etwas!"
    Tatsächlich hatte der kleine Manius Minor auch erfahren, dass Krokodile ausgesprochene Karnivoren waren. Ganz in sein Spiel versenkt nahm er keine Notiz davon, wie sich etwas näherte...

    Das Kompliment seiner Mutter erfüllte auch den Knaben mit Stolz, obschon es ihm nicht bewusst war, welch hochtrabende Gedanken sie mit jener Äußerung verband. Dass es für sie offensichtlich nicht evident war, dass er dieses Wort nicht anhand der Zusammensetzung der Lettern, sondern lediglich aufgrund des Schriftbildes identifiziert hatte, wurde ihm ebensowenig klar. Möglicherweise lag es auch daran, dass die nächsten Exempel bei ihm ein Gefühl von Überforderung hinterließen. Ihm war bereits bekannt, dass Vokabeln sich stets aus singulären Buchstaben verbanden, sodass er den Anfangsbuchstaben des ersten Wortes erkannte, doch die weiteren entzogen sich seiner Kenntnis, sodass er intensiv auf das Papyrus starrte, ohne dass sich die Bedeutung der einzelnen Buchstaben für ihn enthüllte.


    Soeben war er im Begriff, seinen Blick auf fragende Weise zu seiner Mutter zu erheben, als diese bereits mit einem weiteren Begriff aufwartete. Zweifelsohne war dieser ihm vertraut, doch hier konnte er keinen einzigen Buchstaben identifizieren, obschon der Beginn ihn an ein halbes 'M' erinnerte - wurden antithetische Termini wie 'Vater' und 'Mutter' dadurch gebildet, dass die Buchstaben des einen beim Anderen auf den Kopf gestellt wurden? Doch diese These ließ sich bei näherer Betrachtung beider Schriftbilder nicht halten. So war es nun doch an ihm, fragend zu seiner Mutter aufzublicken. In diesem Blick lag jedoch auch ein Schuldbewusstsein, das daher rührte, dass er - eine Überforderung vonseiten seiner Mutter exkludierend - sich als zu stupid für das Erlernen von Wörtern erachtete. Dennoch rang er sich eine Frage ab:
    "Wie heißt der Buchstabe?"
    Mit seinem Finger deutete er auf das 'e', das in beiden Wörtern seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

    Für den Knaben, der keinerlei Vertrautheit mit der Vermittlung neuen Wissens hatte, lag es kaum im Bereich seiner Imaginationskraft, sich Nachsicht für jenen Bereich des Lebens vorzustellen, daher konnte er auch derartige Komik kaum verstehen und blickte seine Mutter fragend an, ehe diese fortfuhr.


    Eilends neigte er seinen Blick zu der Epistel des Vaters hinab. Vor seinem Auge materialisierten sich die fein geschwungenen Majuskeln, deren Bild dem Knaben bereits bekannt war. Erneut enthüllten sich einige Zeichen, zuallererst jene Letter, die aus vier einfachen Strichen bestand, die gemeinsam ein Gebirge einfachster Form bildeten. Der dazu gehörende Lautwert war das"M". Eine der Ammen hatte ihm jenes Zeichen gelehrt, denn es initiierte seinen Rufnamen "Manius", wie auch jenen zweiten Namen "Minimus", den er selbst nicht vollständig einzuordnen vermochte.
    Weiterhin erkannte er eine neue Konstruktion, deren Bild einem Tisch glich, dem jedoch ein Bein zu fehlen schien. In seinem Kopf war sie untrennbar mit seiner Familie verbunden, denn sie tauchte in jedem Namen der Flavier auf, obwohl ihr Klang eher dem einer aufgestochenen Schweineblase glich als der Würde und Gravität einer so alten Gens angemessen war.
    "Das ist ein M wie Mama! Und das ein Ef! So wie Flavius!"
    formulierte er vorsichtig, während sein kleiner, schmaler Finger auf dem Papyrus die ausfindig gemachten Laut-Symbole lokalisierte.
    Obschon er nicht in der Lage war, die genaue Konnektion so vieler Zeichen zu erkennen, fiel ihm jedoch auch ein Wort ins Auge, das er häufig vernommen hatte und diesem Umstand entsprechend auch vielmals auf Häuserwänden, Briefen und weiteren Schriftstücken zu erkennen war. Jene pittureske Verbindung von Strichen und Bögen, die in den Augen des Knaben ein wundersames Muster bildete, konnte nur eines bedeuten:
    "Und das heißt Roma, oder, Mama?"
    Auch hier schnellte sein Finger an die entsprechende Stelle, auf der die Tinte sich zu dem entsprechenden Wort formte.

    Dem Imaginationsvermögen des Knaben fiel es schwer sich vorzustellen, dass seine Mutter, die doch zumeist auf jede Frage ein geeignetes Replik vorzuweisen wusste, ihm jene Frage nicht zu beantworten vermochte. Selbst für sie schien es nicht absehbar, wie lange die Ermittlung eines geeigneten Dozenten dauern mochte. Zwar erfüllte es auch jenen kleinen Flavius mit Stolz, von den honorabelsten Geschlechtern Roms abzustammen, dennoch musste es doch im Bereich des Möglichen liegen, einen suffizienten Ausbilder für ihn zu finden, ohne dabei auf jene horribilen und zutiefst Misstrauen erregenden Wesen zugreifen zu müssen, die sich tagtäglich auf den Straßen Roms (die Manius Minor jedoch höchst selten zu Gesicht bekam) tummelten!
    "Hm, dann kannst du doch schonmal anfangen, oder?"
    In Ermangelung eines professionellen Instrukteurs kam jene Idee gleich einem Himmelslicht des Iuppiter Optimus Maximus in den Sinn des Knaben. Er betrachtete seine Mutter als omniscient, warum sollte sie also nicht persönlich ihr Wissen an ihren Nachkommen weitergeben? Desweiteren ermöglichte es diese Perspektive, einen weiteren potentiellen Angriffspunkt der kindlichen Xenophobie des Manius Minor zu entfernen.

    Quale pater, tale filius. Jenem Ausspruch, der noch unzählige Saecula in alle Zungen des Erdkreises in Gebrauch sein würde, entsprach Manius Minor erneut, denn seinerseits fehlinterpretierte er jenen Rückzug des mütterlichen Hand als stillen Tadel. Doch ehe er sich erneut durch Sorge und Scham beschweren konnte, wandelte sich der Inhalt der Unterredung, sodass es nun weiter an Claudia war, zu reagieren. Doch auch jene Reaktion versetzte den kleinen Flavius in Erstaunen, denn einige Herzschläge des Ringens um eine adäquate Entgegnung vergingen, ehe sie sich äußerte, als wäre seine Forderung unvorstellbar.
    Auch die Entgegnung jedoch vermochte es nicht, den Knaben zufrieden zu stellen, lag es doch jenseits seiner Vorstellungskraft, welch großen Aufwand seine Mutter zu investieren gedachte, um eine adäquate Lehrkraft aufbieten zu können. Ihm war durchaus bekannt, dass unter den zahlreichen Sklaven und Bediensteten des Hauses eine achtbare Zahl an Schreibkundigen war, denen er bereits diesen oder jenen Buchstaben, gar ganze Wörter abgerungen hatte. Dass jedoch ausgesprochene Experten zur Belehrung heranwachsender Aristokraten existierten, die über eine wesentlich höhere Kompetenz auf diesem Sektor verfügten, war ihm unvorstellbar.
    "Gut. Wie lang dauert das?"
    akzeptierte er die Antwort endlich, hängte jedoch unverzüglich eine weitere Frage an, was auf seine wachsende Sehnsucht nach geistiger Beanspruchung hindeutete.

    Jene Miene, der Manius Minor bereits als Symptom von Bestürzung im Rahmen anderer Sachverhalte begegnet war, stürzte ebenso wie den Vater auch den Filius in tiefe Verunsicherung, wobei die kindliche Unschuld die wahre Lage auf groteske Weise verkehrte, indem nicht etwa der Argwohn des jungen Flavius gegen seine Mutter dadurch geweckt wurde, sondern vielmehr Schuldgefühle in seinem kleinen Leib aufbrandeten in der Annahme, seine unverschämte Frage habe jene Reaktion hervorgerufen. In Anbetracht dieses Faktums senkte er rasch das Haupt und erwiderte in unterwürfigem Ton
    "Ja, Mutter."
    Für mehrere Augenschläge blickte er gen dem reich mosaikverzierten Boden, versunken in einen Strudel aus Gefühlen und Gedanken, ehe er das Haupt erneut hob.
    "Wann lerne ich Lesen?"
    fragte er dann aprupt, denn seine Gedankengänge hatten eine neue Abzweigung im unendlichen Labyrinth seines Geistes genommen und waren so von der Reise des Vaters zu dem väterlichen Brief, zum Willen, dieses Schreiben zu entschlüsseln und schließlich zur Litterarität im Allgemeinen gekommen, derer er nicht mächtig war. Zwar bereitete es ihm große Freude, jene Zeichen der Erwachsenenwelt zu entziffern, die ihm ständig begegneten, doch bisher hatte wohl niemand eine Notwendigkeit erkannt, den jungen Flavius die Buchstaben auf systematische Weise zu lehren.

    Wie man aus letzterer Frage des Knaben schließen konnte, hatte er letztendlich im Vertrauen in seine Mutter, das weder Grenzen noch Zweifel kannte, deren Darlegung akzeptiert. So lauschte er andächtig den Worten seines Vaters, die wie stets von exquisiter Geschliffenheit waren und in gewohnter Manier mit Hilfe praktischer Erläuterungen zu tugendhaftem Leben anleiteten. Und dennoch konnte Manius Minor aus ihnen Indizien filtrieren, die darauf hindeuteten, dass die Absenz seines Vaters zu unbestimmter Dauer tendierte, was das Pläsier ob der erwarteten Präsente wieder in hohem Maße mäßigte. Vorsichtshalber versuchte er jedoch, seine Hypothese beim Quell seines Wissens über die Dinge der Welt zu überprüfen:
    "Wann kommt Papa wieder?"
    Der junge Flavier wandelte bereits viele Jahre auf der Erde - wenn auch wenige, verglich man sie mit jenen, die ihm noch vorherbestimmt waren - dennoch hatte er nie für längere Zeit der Präsenz seines Vaters entsagen müssen. Vornehmlich in den letzten Tagen war sie ihm bereits verwehrt worden, wobei man ihm den Beweggrund - jenen abscheulichen Anfall, der nur eine Strafe der Unsterblichen sein konnte - vorenthalten hatte, sodass der Knabe in einem umso höheren Maße des Entzückens einer neuen Visite seines Erzeugers entgegenblickte.

    Manius Minor verzog leicht sein Gesicht, als seine Mutter ihm vertraut über den Schopf strich, denn aus einem unerfindlichen Grund bereitete es ihm Unbehagen. Darüber hinaus konnte auch ihr Lächeln nicht über die dunkle Ahnung des Knaben hinwegtäuschen, dass irgendetwas nicht stimmte.


    Und dann kam jene Neuigkeit, deren scheibchenweise Wiedergabe eine geradezu gewaltige Spannung im Geiste des Kleinen aufbaute. Erwartungsvoll harrte er der Auflösung, doch als sie endlich kam, konnte sie ihn doch in keinster Weise zufriedenstellen: Eine Mission des Kaisers? Sein geliebter Vater? Doch warum schien es gerade so, als sei es schwierig, jene Worte hervorzubringen? Und was hatte dieser höchst augenfällige Begriff zu bedeuten? Friedens-Beauftragter. Sein kindlicher Verstand konnte dem jungen Flavier keinerlei Verbindung mit Bekanntem herstellen: Weder mit der Praetur, im Rahmen derer sein Vater wohl böse Menschen bestrafte, so wie es auch als Hausvater gegenüber der Familie seine Aufgabe war, noch dem Vigintivirat, das Onkel Marcus bekleidete - wobei es ihm ohnehin nicht möglich war, dieses Amt in irgendeine Kategorie einzuordnen, die ihm bekannt war. Zumindest jedoch war ihm der Frieden ein Begriff, denn auch wenn er im Streit mit einem anderen Mitglied des Hauses war, stiftete sein Vater des Öfteren Frieden. Vielleicht tat er genau dies: Vielleicht ging er zu Streithähnen und sorgte dafür, dass sie sich wieder vertrugen! Ja, diese Aufgabe konnte er sich für seinen Vater sehr gut vorstellen!


    Auch sein Mienenspiel verriet jene langen Gedankengänge, die sein Verstand zu durchschreiten hatte: Anfangs verängstigt und kritisch, hellte es sich letztendlich auf, obschon ihm die Neuigkeit, dass sein Vater einfach aufgebrochen war, ohne sich zu verabschieden, einen gewissen Dämpfer versetzte. Doch angesichts der Tatsache, dass er mit seinem Vater ohnehin einen eher sporadischen, wenn auch hochgeschätzten Umgang pflegte und er nicht jenem Casus eingedenk war, dass dieser Abschied möglicherweise von längerer Dauer sein würde, als er es sich überhaupt vorstellen konnte, befand er jenen Umstand nur für einen geringen Makel und nahm den Brief entgegen, dessen erbrochenem Siegel er keinerlei Beachtung schenkte.


    Kaum hatte er jedoch jenes Schreiben entrollt, stellte sich ihm eine schier unüberwindliche Barriere in den Weg: Zwar erkannte er diese oder jene Majuskel, etwa das große "M" zu Beginn und konnte sogar das so häufig zu lesende Wort "Rom", doch fehlte ihm die notwendige Kenntnis sämtlicher Buchstaben, um dem Brief seinen vollständigen Inhalt entreißen zu können.
    "Lies vor!"
    befahl er daher seiner Mutter. Nicht, weil er sie durch derartiges Gebaren respektlos behandeln wollte, sondern vielmehr, da er in jenem Haushalt aus unzähligen Sklaven schlicht einer Gewohnheit folgte, die sich bereits in diesen jungen Jahren bei ihm verfestigt hatte.
    Zugleich kam ihm jedoch eine weitere Idee, die ihn eventuell über den Verzicht auf seinen Vater hinwegzutrösten vermochte. Diese Idee verbalisierend schickte er gleich eine Frage hinterher.
    "Bringt Papa mir ein Geschenk mit?"

    Von all jenen schrecklichen Klarheiten, die seine Mutter trafen wie der Fauststoß eines Athleten bei den Nemeischen Spielen, verspürte der kleine Minor nichts. Tief und friedlich wandelte er durch Morpheus' Reich, ehe seine Mutter ihn mit sanfter Stimme weckte.


    ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~


    Vor ihm kroch er im Sande der Arena. Sein Schwert hatte das Tier schwer getroffen und Blut floss aus seiner Flanke, als er triumphierend über ihm stand. Langsam senkte sich jener Staub, der durch den wilden Kampf aufgewirbelt worden war. Nun jedoch war jener an sein Ende gekommen und er war bereit, das hölzerne Schwert aus der Hand des Imperator Caesar Augustus zu empfangen. Lediglich ein einziger Stoß trennte ihn noch von seinem Triumph.
    "Minor."
    Aus dem Rund der Arena erscholl bereits der Jubel der Menge, stets aufs Neue skandierte der Pöbel seinen Namen. Das Meer aus Stimmen hallte in seinen Ohren wider und erhitzte sein Gemüt zu wahrem Übermut. Schon wollte er den Wunsch des Publikums nach der Auslöschung des schwachen Lebens vor ihm erfüllen, da stutzte er.
    "Wach auf."

    ~ ~ ~


    Vorsichtig schlug Minor seine Augen auf und erblickte seine geliebte Mutter. Dennoch verstrichen mehrere Augenschläge, ehe er sich zu orientierten wusste. Soeben noch im Amphitheatrum Flavium, jenem Monument, von dem sein Vater berichtet hatte, dass seine Ahnen es errichtet hatten, fand er sich nun in einem weiteren ihrer Monumente wieder, jedoch war sein Leib von der Rüstung befreit, er blickte nicht weiter durch das Gitter eines Helmes, stattdessen barg eine wärmende Decke seinen kleinen Körper.


    Ein wenig Schwermut durchfuhr ihn, war ihm doch der Triumph in der Arena verwehrt zugunsten eines neuen Tages als kleiner Flavius, dem so vieles verwehrt war aus der Welt der Erwachsenen.
    "Mama?"
    erwiderte er endlich. Claudias Gesicht zeigte Freude, dennoch verunsicherte die Art, auf die die ihr Blick auf ihm ruhte, den kleinen Minor.

    Erneut entfloh ein Seufzen seinen Lippen, doch diesmal in weitaus beruhigter und beinahe bereits zufrieden als zuvor. Immer schwächer schien das Bild des Monstrums vor dem geistigen Auge des Knaben zu verblassen, verdrängt von der Sonne mütterlicher Liebe. Selbst jene Bitte, die wohl von wenigen ehrbaren Matronae, die ihre Kinder zu gern an Ammen abgaben und kaum mehr auf die Erziehung einwirkten, so freiheraus angenommen worden wäre, schlug sie nicht ab und durchschnitt damit die Bande der Angst, die das kleine Herz in seinem Leib fest umschnürten, als sei es ein Latro, der dem Praetor vorgeführt werden sollte.


    So löste Minor langsam die Umarmung vollends, stützte sich mit den Händen auf seinem Kissen ab und ließ sich dann langsam wieder unter die wärmende Decke gleiten, stets die Augen auf der Silhouette der Mutter gerichtet, welche sich vor dem schwachen Licht des Raumes abzeichnete und sich bereits so fest in den Geist des Knaben eingebrannt hatte, dass er sie aller Wahrscheinlichkeit nach auch aus einem Stadion Entfernung erkannt hätte. Auch als seine Lider die Augen bedeckten, schwebte sie noch vor ihm und stärkte jenes Vertrauen, das nur ein Kind zu seiner Mutter haben kann und eine derartige Kraft besitzt, dass es auch über lemurische Albträume hinwegtröstete.


    So musste Antonia nicht lange warten, ehe der kleine Minor erneut in Morpheus' Reich hinabglitt, wo ihn weitaus glücklichere Szenerien erwarteten als sabbernde Molosserhunde bei bizarren Klängen.

    Eifrig erwiderte der kleine Minor erwiderte die Umarmung seiner Mutter, versuchte seinerseits, seinen Leib an den ihren zu pressen, als wolle er wieder in jenes Stadium vor sechs Lenzen zurückkehren, in dem er mit ihr eine Einheit gebildet hatte. Sein Antlitz vergrub sich in ihrem Nachtgewand, während er der Stimme lauschte, die ihn in einem weitaus höheren Maße beruhigte als die seines Kindermädchens. Doch noch immer tanzten die Bilder jenes Traums durch seinen Geist, selbst wenn das Licht der Geborgenheit immer heller wurde. So verharrte er eine ganze Weile wortlos, nur bisweilen seufzend und schniefend, bis er wieder in der Lage war, sein dünnes Stimmchen zu erheben.


    Langsam blickte er hinauf zum sorgenvollen, doch zugleich tröstenden Gesicht seiner Mutter.
    "Bleibst du hier?"
    Obschon die Bilder des Schreckens seinen Kopf weitestgehend verlassen hatten, fürchtete der kleine Flavius weiterhin deren Rückkehr, was er in seinen Augen nur dadurch verhindern konnte, dass seine mächtige Beschützerin, die ihn nährte und wärmte und ihn tröstete im Schmerz, jenen albtraumhaften Hund durch ihre bloße Anwesenheit abschreckte. In ihrer Anwesenheit würde er es wagen, seine Augen erneut zu schließen ohne fürchten zu müssen, sie nie wieder zu öffnen.

    Noch ehe Aikaterina herbeieilte, hatte sich bereits die Augen des kleinen Flavius befeuchtet und in jenem Augenblick, als das Kindermädchen an seiner Seite Platz nahm, um ihn zu trösten, lösten sich einzelne Tropfen und begannen, seine Wangen hinabzurinnen. Noch immer war ihm das Bild jenes gewaltigen Hundes vor Augen und obschon er sich gewahr war, dass er sich nicht im Atrium des Hauses, sondern in seinem Zimmer befand, fürchtete er, in jene grauenerregende Welt zurückgeworfen zu werden, aus der er soeben erwacht war. So vernahm er kaum, mit welchen Floskeln das Mädchen versuchte, seine Angst zu bezähmen. Aufgrund der Tatsache, dass seine Mutter es stets vermieden hatte, ihn in die Hand von Ammen zu geben und er letzendlich doch die meiste Zeit seines Lebens in Anwesenheit der Claudia verbracht hatte, hatten seine zahlreichen Kindermädchen allen Bemühungen zu Trotz niemals einen ähnlichen Stellenwert innerhalb der kindlichen Gefühlswelt erringen können.


    Als der junge Flavius so nun seine Mutter erblickte, ohne deren derangierten Äußerem auch nur den Funken einer Beachtung zu schenken, breitete er hilfesuchend die Arme nach ihr aus, um ihren mütterlichen Schutz zu erbitten, jenes Gefühl der Geborgenheit, die ihm seit seiner Geburt stets zuteil geworden war. Und in der Tat gelang es Antonia, ihren Sohn allein durch den vertrauten Klang ihrer Stimme, die Berührung seines Hauptes zu beruhigen, sodass Minor mit zittriger Stimme vom Ursprung seiner Phobia zu verkünden konnte
    "Der Hund...er...wollte mich...fressen!"
    Immer wieder wurden seine Worte unterbrochen von Schlucken und Schniefen, während er sich bemühte, ein gewisses Maß an Ruhe zu finden: Seine Mutter war hier - wer sollte ihm etwas zufügen?

    Manius Flavius Manii Filius Gracchus, Sohn eines Senators und Pontifex, ausgestattet mit dem deplorablerweise stark verdünnten Blut von Kaisern und Feldherren, dessen Ahnen bereits in der Republik zum Consulat aufgestiegen waren und dem ein großes Schicksal beschieden war, lag friedlich in seinem Bettchen und schlief tief und fest. Sein Vater sah keine Regung in seinem Gesicht und er reagierte auch nicht, als Sciurius die Tür schloss. Stattdessen spazierte er, wie es auch sein Vater so oft tat, durch das Reich des Morpheus.


    ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich* ~~~


    Endlos hoch erschienen die Wände der Villa Flavia Felix, die sich rund um ihn herum auftürmten. All jenes geschäftige Treiben jedoch fehlte, stattdessen herrschte eine geradezu geisterhafte Stille. Er stand im Halbdunkel des Atriums und blickte auf das Impluvium, dessen Inhalt stillstand, als sei es jäh erstarrt. Er ging darauf zu, doch auch seinen Schritten gelang es nicht, jene Mauer der Stille zu durchbrechen. Vorsichtig bückte er sich und streckte den Finger aus. Nahezu unerreichbar schien das Wasser. Doch endlich durchstieß die Fingerkuppe die Oberfläche, worauf sich die Wellen ringförmig verbreiteten und, als hätte diese Störung jedwede Ruhe zerstört, mit einem Male ein leiser Klang wie von jenen Tibiae, die seinen Vater beim Dienst der Götter begleiteten, ertönte, gleich den Wellen im Kreise um seinen Finger anschwellend und versinkend. Doch während die Wellen im schwächer wurden, schwoll die Musik weiter an, mehr und mehr Instrumente setzten ein und ein wahres Konzert erhob sich. Sanft erklang die Kithara, mächtig die Tuba, die Syrinx, quäkend die Hydraulis, von Tympanon und Kymbala begleitet.


    War sie anfangs heiter und fröhlich, sodass er gewillt war, von wir bewegt den Raum tanzend zu durchqueren, verstummte sie ein weiteres Mal, als ein kaltes Gefühl sein Haupt erfasste. Er griff danach, doch auch seine Hand wurde von diesem Gefühl erfasst, als sie in eine zähe Masse eindrang, die sein Haupt umgab und einem unaufhaltsamen Heere gleich seinen Hals hinabrann. Zögernd folgte sein Blick dem angenommenen Quell jenes Tropfens, als die Instrumente erneut erklangen, diesmal jedoch horrend, ein namenloses Grauen prophezeiend.


    Trübe Augen blickten in seine Augen, als er das Haupt in den Nacken legte. Über ihm schwebte jener furchterregende Molosserhund, den er so fürchtete. Sein Leib war tiefschwarz, dunkler als die dunkelste Nacht, die er je verlebt hatte. Doch von größerer Bedrohung war sein Rachen, in den er blickte, aufgerissen wie das Tor des Orcus, umgeben von blankglänzenden, spitzen Zinnen. Unbarmherzig kam jener Schlund näher, er versuchte zu zu entweichen, doch seine Füße waren gelähmt wie die rechte Gesichtshälfte seines Vaters. Er schrie, obschon die immer stärker anschwellende Musik jedes Geräusch, jeden Laut schluckte, als sei er niemals dagewesen.


    Dann, als ein finaler Abschluss, umgab ihn Schwärze, die Musik endete und...

    ~ ~ ~


    ...Manius Minor erwachte schweißgebadet. Angstvoll riss er die Augen auf, glaubte noch den schleimigen Sabber von Serenus' Molosserhund auf seinem Körper zu spüren, erwartete jederzeit den Schmerz, den die Zähne des Tieres in seinen Leib bohren würden. Doch stattdessen umgab ihn nur jene weiche, aufgewühlte Decke, mit der seine Mutter ihn am Abend bedeckt hatte. Nun erst wurde er der Geräusche des Hauses gewahr, realisierte, dass jene grausame Musik verschwunden war im Reich der Träume und die Welt ihn wieder hatte. Vorsichtig blickte er sich um, betrachtete die vertraute Umgebung. Durch die Ritzen der Fensterläden spähte bereits der warme Morgen herein.
    "Mama?"
    artikulierte sein dünnes Stimmchen in die Leere des Zimmers.
    "Maaaaaaaaaamaaaaaaaa!"
    Auf dem kleinen Beistelltisch seines Zimmers lag ein Brief, dem Manius Minor in Anbetracht seiner deplorablen Lage jedoch keine Beachtung schenkte.


    Sim-Off:

    * tributum pro patre