Beiträge von Manius Flavius Gracchus Minor

    Nicht wenig Zeit war verronnen, ehe sämtliche der Myrmidonen den Tänzerinnen waren hinterhergeeilt, um selbige ihrer Kleider zu berauben, was zweifelsohne den Maiordomus des Hauses mit einer inprävisiblen Summe zu addierender Kosten für jenes Gastmahl konfrontierte, da doch selbst einem Erben fabulöser Reichtümer, wie Dionysios augenscheinlich einer war, für gewöhnlich pro Abend ein bestimmtes Budget zu Verfügung hatte, welches die Garderobe der Unterhaltungsdamen nicht inkludierte. Nichtsdestotrotz trug selbiger Ausfall zum allgemeinen Vergnügen jenes Abends bei, welchen endlich nahezu sämtliche der Jünglinge in den transparenten Röcken der Berberinnen verließen.


    Dass selbiges Kapitel hingegen am folgenden Mittag eine Kontinuierung würde erfahren, vermutete Manius Minor nicht, als er am selbigem erneut den Oikos Dionysiou aufsuchte und wie gewohnt das Andron betrat, wo man ihm, obschon das abendliche Mahl noch in weiter Ferne lag, einen opiaten Aperitif reichte, mit welchem er seinen gewohnten Platz einnahm. Denn erst als Dionysios die Lustbarkeit des heutigen Tages verkündete, wurde offenbar, dass der vorhergegangene Abend seine Folgen würde zeitigen:
    "Liebe Freunde,
    sicherlich erinnert ihr euch noch sehr gut an den gestrigen Abend, an dem uns nicht nur die schönen Wüstentöchter bezaubert haben, sondern auch ihre luftig-leichten Gewänder!"

    In jener Remineszenz schwelgend, strich der junge Gastgeber sich versonnen über den entblößten Arm.
    "Da habe ich mich heute morgen gefragt: 'Dionysios,', habe ich mich mich gefragt, 'warum sollten wir dieses wunderbare Gefühl nicht jeden Tag haben?'
    Weil es unschicklich ist, einen durchsichtigen Seidenstoff zu tragen? Aber warum? Im Gymnasion laufen alle nackt herum! Selbst die großen Philosophen im Museion tragen gern nichts unter dem Himation! Ist das unschicklich?
    Deswegen habe ich mir gedacht: Warum eigentlich nicht? Was interessiert es uns, was die feinen Herren und Sittenwächter denken, wie wir herumlaufen? Hat Epikur uns nicht gelehrt, dass das, was uns Lust bereitet, das höchste Gut ist? Warum also irgendeiner Schicklichkeit hinterher rennen, die uns in diese unbequemen Fetzen zwängt?"

    Abfällig zupfte er an seinem Chiton, welcher zweifelsohne doch aus exquisitem Material mit exorbitantem Tragekomfort war gewebt. Indessen fühlte sich der junge Flavius doch genötigt, im Grundsatze beizupflichten, denn in der Tat repräsentierten Kleiderordnungen ja nichts anderes denn leere Konventionen. Unterdessen echauffierte der ungestüme Dionysios sich immer fort:
    "Es kann doch nicht sein, dass durchsichtige Gewänder Dirnen und Ägypterinnen vorbehalten bleiben, während wir unsere Prachtkörper unter Stoffbahnen verstecken müssen!
    Ich habe deswegen heute Serapion, einen Schneider eingeladen. Er wird uns zeigen, was mit diesem sagenhaften Stoff so alles zu machen ist und auch einige Schnitte zeigen, damit wir uns selbst direkt einkleiden können!"

    Der Kreis der Myrmidonen schien überrascht, doch nicht wenige präsentierten unverhohlene Begeisterung ob jenes neuen Winkelzugs ihres Meisters, die ordinäre Gesellschaft zu provozieren und sich damit der eigenen Spezialität zu versichern. Auch der junge Flavius fiel daher endlich ein in den Applaus der Jünglinge, mit welchem sie jenen ältlichen Ägypter mit blank polierter Glatze und extravaganter Gewandung begrüßten.

    Das Stadion war zu jener Tageszeit stark frequentiert, doch die imposanten Dimensionen jener Spielstatt gestatteten den Myrmidonen dennoch ein recht unperturbiertes Drehen einer Runde, wobei Manius Minor ob seiner defizitären Konstitution recht baldig des Anschlusses verlustig ging und japsend, seinen vorwitzigen Entschluss diesen Ort zu besuchen verfluchend und im Übermaße transpirierend hinter den anderen hereilte. Hinzu trat eine gewisse Scham, denn obschon er außerstande sich sah, die wohldefinierten Muskelpartien der professionellen Athleten auszumachen, so erwies doch bereits der Blick von Ferne auf die ranken Recken, welcher nicht durch die Hypermetropie wurde gestört, verbunden mit dem Schritt für Schritt allzu deutlich zu verspürenden Auf und Ab seiner beachtlichen Fettreserven die Differenz zwischen jenen und seiner selbst, zumal ihm auch nicht entging, dass mancher der Trainierenden unverhohlen ihm nachblickte gleich einem desaströsen Unfall.
    Insofern war die Motivation des jungen Flavius bereits in den negativen Bereich gesunken, als die Jünglinge endlich ihren Dauerlauf beendeten und, nun sämtlich mit leichtem Glanz der Anstrengung geziert, zum Disput ansetzten, welcher Disziplin man erstlich sich zuzuwenden gedachte.
    "Ich denke, ich überlasse jenes Feld besser euch. Wir sehen uns heute Abend."
    , mühte Manius Minor daher in einem unbeobachteten Momentum sich klammheimlich davonzustehlen, doch sogleich intervenierte Anaximander mit vernehmlichem Protest:
    "Hiergeblieben, Achilleus! Wir haben gerade erst begonnen!"
    "Ich bin bereits gänzlich exhaustiert, mein Freund. Es ist desperat, aus mir noch einen Athleten zu formen."
    , mühte sich der flavische Jüngling, seine Flucht zu begründen, doch augenscheinlich mit der falschen Argumentation, denn Anaximander erwiderte mit verbindlichem Verve:
    "Die Anstrengung ist das Ziel dieses Spieles. Ins Gymnasion zu gehen, um nicht zu schwitzen, ist wie einen Tempel aufzusuchen, ohne Weihrauch zu schmecken! Abgesehen davon ist noch kein Athlet vom Himmel gefallen! Selbst dein Namensvetter brauchte die Übungsstunden bei Cheiron, um eines Tages Hektor zu schlagen! Also versuche es zumindest. Womöglich gefällt es dir besser, als du glaubst."
    Einen Augenschlag sinnierte er, um sodann, die Disputation der Myrmidonen achtlos übergehend, zu entscheiden:
    "Das Pale wird dir gefallen. Komm, ich zeige dir ein paar Griffe!"
    Der junge Flavius erblasste. Der letzte Ringkampf seines Lebens war vor Jahren gewesen, als Diarmuid noch zu seinen Spielgefährten hatte gezählt und sie gemeinsam im Hortus der Villa Flavia Felix hatten getollt und gespielt. Indessen war der sportliche Ringkampf in der Palaestra, respektive dem Gymnasion ein gänzlich differentes Sujet.
    Doch wagte er, den Unwillen seiner Freunde fürchtend, selbstredend nicht, die Offerte auszuschlagen, weshalb er resignierend die Schultern senkte.
    "Nun gut."

    Obschon Anaximander Manius Minor hatte versichert, dass er ihn mit weiterer Kritik hinsichtlich seiner Leibesfülle fortan nicht mehr würde torquieren, so erwies selbige doch bereits sich als suffiziert für den flavischen Jüngling, intensiver hinsichtlich seiner korporalen Verfasstheit zu reflektieren. Letztlich hatte er sich doch dazu herabgelassen, zumindest ad ecperimentum die übrigen Myrmidonen auf deren regulären Exkursionen ins benachbarte Gymnasion zu geleiten, obschon ihn bereits, als er das Portal jenes Tempels der Athletik durchschritt, neuerlich größte Insekurität hinsichtlich seiner Eignung für derartige Kurzweil plagte. Indessen zog Anaximander den stockenden Flavius schlicht vorwärts, führte voll Vergnügen ihn hinüber in die Umkleideräume und half ihm, assistiert von Patrokolos, welcher selbstredend ebenfalls seinem Herrn Gesellschaft leistete, aus seinen Gewändern, sodass schlussendlich er textilfrei wie sämtliche Nutzer jener Sportstätte auf dem Hofe stand, um sich eine Übung zu erwählen.


    Erst an jener Stelle erwachten in ihm Remineszenzen an seine letzte Leibesertüchtigung, welche bereits Jahre zurück lag und in unabsehbarer Konnexion zu der Erinnerung muskulärer Schmerzen stand, die Tag für Tag jenen exhaustierenden Stunden auf dem Pferderücken waren gefolgt. Schaudern überfiel ihn, als er bedachte, welche Körperpartien wohl infolge eines Ringkampfes, des Hoplitodromos oder gar eines Pentathlon mochten involviert und infolgedessen später torquiert werden.
    "Komm mit, Achilleus! Wir müssen uns zuerst ein wenig aufwärmen!"
    , rief Anaximander jedoch voller Elation, ergriff seinen feisten Arm und zog ihn in Direktion des Stadions. Widerwillig, doch notgedrungen ergab er sich schließlich jenem Drängen und setzte einen Fuß vor den anderen, stets befürchtend, in jener Velozität einen Stein oder ein anderes Hindernis auf dem monochrom ihm sich darbietenden Boden zu übersehen. Dessenungeachtet erfreute sich jenes Herz des Hellenentums einer jeden Polis exorbitanter Pflege, sodass der sanft gehegte Sand der Arena und der zu ihr führenden Wege makellos sich darboten und nicht ein Straucheln, sondern lediglich eine überaus hurtig sich einstellende Kurzatmigkeit seinen Lauf hemmte.

    Als der Tanz schlussendlich zu einem extatischen Fanal sich steigerte, spendeten die Myrmidonen einhelligen Beifall, ehe jeder von ihnen sich mühte, hurtig eine der Damen zu ergreifen, um sich ihrer Gesellschaft weiters zu erfreuen. Auch Manius Minor griff nach jener, die in Reichweite soeben noch ihre Hüften hatte kreisen lassen, und zog sie mit sanfter Gewalt auf seine Kline.
    "Mein Täubchen, wie schön du bist."
    , präsentierte er ihr ein Kompliment, welches ihr ein mädchenhaftes Kichern entlockte, ehe sie bereitwillig sich an ventralerseits an ihn schmiegte und artig erwiderte:
    "Danke, junger Herr."
    Entflammt vom tranquillierenden, doch erhitzenden Saft des Mohnes gab der Jüngling sich der Libido hin und begann, weiter freundlich plaudernd, die femininen Formen der Tänzerin über und unter ihren Stoffen zu erkunden.
    "Woher stammst du, Täubchen?"
    "Aus Marmarica, junger Herr."
    "Doch nicht vom Ammonium selbst?"
    Die Mär von der Weissagung des Alexander in jenem weithin bekannten Orakel war selbstredend in Alexandreia in aller Munde, sodass Manius Minor jene famose Anekdote sogleich zu ergreifen nutzte, um die Konversation zu prolongieren, obschon ihm die Wüstenregionen Africas sonst gänzliche Terra incognita waren und herzlich geringes Interesse erweckten.
    "Oh nein, nein, junger Herr, ich bin ein Kind der Wüste. Mein Stamm führte aber Karawanen auch dorthin."
    "Und was zog dich hierher ans Meer?"
    , erwiderte der junge Flavius naiv, was der berbischen Schönheit ein sarkastisches Lächeln entlockte.
    "Die Ketten des Sklavenhändlers, der uns fing."
    Selbstredend waren insonderheit die Wüstenregionen jenseits der römisch kontrollierten Städte gesetzlose Räume, in welchen Sklavenjäger und Banditen einträglichen Geschäften nachgingen und jeder, welcher nicht sich mit der Waffe in Händen zu defendieren wusste, leichtlich auf den alexandrinischen oder gar delischen Sklavenmärkten mochte landen. Obschon er zweifelsohne Profiteur jener widerrechtlichen Strukturen war, plagte den flavischen Jüngling sogleich ein gewisses schlechtes Gewissen, welches er durch eine fürsorgliche Frage zu trösten sich mühte:
    "Aber dein Herr behandelt dich gut, wie ich hoffe?"
    "Wie du siehst, junger Herr."
    Anmutig streckte sie sich und präsentierte ihren makellosen Bauch und Rücken, welche ihr Kostüm freiließ, was dem fehlsichtlichen Flavius selbstredend kaum nutzte, da ihm die Striemen von Peitschenhieben oder leichte Blessuren in jener Distanz zu identifizieren impossibel war. So nahm er wie so oft seine Hand zu Hilfe und fuhr über den zarten Rücken und den festen, doch zugleich überaus sanften Bauch des Mädchens.
    "Ich zweifle nicht, dass du ein artiges Mädchen bist."
    , fuhr er endlich in jener jovialen Art fort, derer Herren sich allzu oft gegenüber ihren Dienern zu bedienen pflegten, die Bedenken ob ihrer illegitimen Versklavung schlicht hinfortwischend, da doch keineswegs es mochte sicher sein, dass das Schicksal eines Karawanenführerweibes in der unwirtlichen Wüste der Marmarica einem sicheren Sklavenleben als Tänzerin war präferieren.
    "Oh, ich kann ein sehr böses Mädchen sein."
    , feixte die Tänzerin nunmehr und streckte auf laszive Weise ihr Bein, um es in einem einzigen Schwung über die Kline und den darauf ruhenden Manius Minor zu schwingen, sodass sie endlich sich einer Reiterin gleich auf seiner Hüfte wiederfand. Der junge Flavius ergab sich jener eindeutigen Offerte und wälzte sich auf den Rücken, um der Berberin Zugang zu seinen Intima zu gewähren, welche unter der Tunica bereits dem Fanal jener aufreizenden Darbietung entgegenlechzten.


    Selbiges erfolgte rasch, weitaus rascher als auf anderen Plätzen des Speisesaales, was neben der routinierten Weise der Regungen jener Berberin dem distanzierten Beobachter zweifelsohne hätte eröffnet, dass selbige sich beeilte, ihren Dienst an dem wenig ansehnlichen, dennoch zu bedienenden Knaben zügig zu vollenden. Dennoch genügte es, um Manius Minor den Schweiß auf die Stirne und sämtliche Partien seines Leibes zu treiben, was ein unerquickliches Kleben seiner Synthesis auf dem Leibe evozierte. Das Mädchen, welches zweifelsohne den weitaus größeren Aufwand zur Erzeugung jener Klimax hatte geleistet, schwang ihr Bein unterdessen ohne jedweden Anschein von Ermüdung zurück zur Erde und erhob sich, um sich sogleich der Hinterlassenschaften der virilen Lust zu entledigen.


    Manius Minor blickte ihr nach und dann hinüber zu Anaximander, der es augenscheinlich hatte vorgezogen, anstatt des Coitus besser der Träumerei zu frönen, was ebenfalls eine Folge des Opium-Konsumes schien zu sein.
    "Die Kleider erscheinen mir als von größter Praktikabilität angesichts dieser Temperaturen."
    , nahm der junge Flavius somit den Faden der vorhergehenden Unterredung wieder auf und erweckte seinen Freund damit aus seiner geistigen Absenz. Es bedurfte zwar einiger Augenschläge der Orientierung, doch sodann replizierte selbiger leutselig:
    "Die Ägypter pflegen auch solche dünnen Stoffe zu tragen. Selbst die Priesterinnen."[/quote]
    Durchaus hatte auch der junge Flavius bereits Notiz genommen von jener Tracht semitransparenter Stoffe, welche in Rom bestenfalls einer Lupa hätte wohlangestanden, hier jedoch selbst von ehrbaren Hohepriesterinnen mit einem Leib, welchem derartige Offenheit wenig schmeichelte, wurde voll Selbstbewusstsein getragen.
    "Ich frage mich, welches Gefühl derartige Stoffe wohl auf dem Leibe evozieren mögen."
    Anaximander zuckte unbedarft mit den Schultern.
    "Wir könnten es versuchen. Die Mädchen sind sicherlich noch hier und hätten nichts dagegen, wenn wir ihre Tracht für einen Augenblick ausprobieren."
    Er blickte hinüber zu einem der Myrmidonen, welcher noch mit einer der Berberinnen sich vergnügte, sie dabei jedoch sämtlicher Kleider entledigt und in animalischer Weise begattete. Derartige Formen der Indiskretion waren in diesen Räumlichkeiten bei weitem keine Seltenheit, sodass Manius Minor und Anaximander eine Weile dabei verharrten, jenes Schauspiel zu verfolgen. Sodann wendete der flavische Jüngling den Blick zu den verstreuten Kleidern des Mädchens.
    "Mir scheint, das Mädchen ist ein wenig feingliedriger als ich."
    Wortlos erhob sich Anaximander und trat auf den achtlos hinfortgeworfenen Rock, hob ihn an und begutachtete das Stück.
    "Es ist gewickelt. Also komm herbei, Achilleus! Tu es deinem Namensvetter in Skyros gleich!"
    Die beiden sich Liebenden hielten inne, ebenso zog jener Ruf die Appetenz der übrigen Myrmidonen mit einem Male auf die beiden. Für einen Augenschlag zögerte der Jüngling ob jenes großen Publikums, dem transvestitisch sich darzubieten einem jeden Rhomäer zur tiefsten Scham hätte gereicht, sodass selbst die Mär vom Achill in jenem Kreis stets mit Spott und Hohn war kommentiert worden. Sodann besann er sich jedoch des epikureischen Prinzips, welches der Lust den Vorzug vor der Konvention gab, womit der Vorwitz, ein Gefühl jener Stoffe zu erlangen, die leeren Meinungen von Virilität und Tabu übertraf, zumal zweifelsohne ihm selbiger Akt in diesem Kreise mehr Respekt denn Abscheu würde gewähren.


    So erhob er sich, folgte Anaximander auf dem Fuße und musterte den feinen Stoff in dessen Händen.
    "Herab mit der Kluft!"
    , feuerte sein Freund ihn an, sodass endlich er seine Synthesis ergriff und ansetzte, sich derer zu entledigen. Indessen bedurfte es erst des heraneilenden Patrokolos, der in serviler Treue seinem Herrn zur Hand ging, als dessen Haupt inmitten der Kleidung sich verfing, sodass er, den Unterleib nackt und bloß der Runde präsentierend, gleich einem im Netz gefangenen Fischlein, durch hektische Regungen das Unheil nur amplifizierte, was selbstredend das Publikum zu heiterem Gelächter anspornte. Erst mit einiger Mühe trat so das selbstironisch amüsierte Antlitz des jungen Flavius zutage, welcher nunmehr gänzlich textilfrei den Rock der Tänzerin ergriff, um ihn sich um den Leib zu wickeln. Sanft fuhr er über den feinen, transparenten Stoff, welcher einem Windhauch gleihh aufs Zarteste seine Beine umspielte, ja seidengleich durch seine Finger floss und ihm allzu leicht die Imagination gestattete, er trüge ein Konstrukt aus Luft selbst.
    "Es ist... formidabel!"
    , durchbrach er endlich in seliger Stimme das expektierliche Schweigen der gesamten Runde, welches durch das Innehalten der Musikanten war vervollkommnet worden.
    "Es trägt sich phantastisch leicht und weich, ja so zart wie die Damen, welche es tragen!"
    Neuerlich erhob sich Gelächter angesichts des drolligen Anblicks eines adipösen Jünglings, gehüllt in einen transparenten Rock, welchen mit einer Hand er zu halten genötigt war, während beständig die andere über jenen zarten, doch bisweilen bereits ein wenig knitterigen Stoff strich, als hege sie ein geliebtes Schoßtier. Einzig Dionysios, der vorwitzigste der Runde, sprang enthusiastisch auf und eilte, im Gehen bereits den Chiton abstreifend, auf den jungen Flavius zu.
    "Gib her, das will ich auch!"
    , rief er aus und schon hatte er Manius Minor seines Rockes entledigt, um selbst ihn sich um die Hüften zu schwingen, beständig sich drehend und wendend, als wolle ihm dadurch gelingen, aus sämtlichen Perspektiven sich in dem neuen Kleide zu betrachten.
    "Wirklich, unglaublich angenehm! Solltet ihr wirklich ausprobieren!"
    , konsentierte er dem ersten Probanden.

    ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~


    Er schwebte. Mitnichten gleich jenem Schweben,welches der Corpus im freien Fall zu verspüren glaubte, sondern vielmehr gleich einem Vogel, einem erhabenen Habicht, welcher in unendlicher Höhe seine Bahnen zog auf der Suche nach Beute. Doch obschon er mit größter Klarität zu sehen imstande war, ja weitaus schärfer als in frühesten Kindertagen, da sein Augenlicht ihm noch nicht seine Dienste hatte aufgekündigt, so bedurfte er dessen doch nicht, um sich irgendeiner Nahrung zu bemächtigen, da er im Stande höchster Saturiertheit sich wähnte, in dem weder Hunger noch Durst, weder Furcht noch Reue, weder Trauer noch Desperation ihn torquierten, sodass er gänzlich er selbst konnte sein und schlichtweg sich dem puren Genusse der Faktizität der eigenen Existenz konnte hingeben. Und in der Tat war diese Existenz in höchstem Maße delektabel, denn nicht nur wärmte ihn eine bald purpurne, bald leuchtend orangene Sonne über ihm, auch kühlte ihn der Wind unter seinen Fittichen, respektive Armen. Unter ihm zogen Wolken in den infiniten Nuancen des Regenbogens vorbei, bald scharlachrot, bald himmelblau, grasgrün oder glänzend gülden. Zugleich erfüllte erquickliche Musik den Himmel, durchzog ihn visibel in behäbigen Wellen, welchen schwebend er folgte in ihrem tranquillierenden Auf und Ab.


    Weit unten erblickte er die Urbs, welche aus dieser Perpektive nicht lebhafter als ein winziges Bauerndorf wirkte. Vorwitzig stieß er hinab, hielt auf das Forum zu, wo endlich aus dem statischen Muster der Häuser sich ein wildes, ameisengleiches Gewusel an Menschen löste, deren Identität ihm dank seines famosen Auges trotz der Distanz sich rasch offenbarte: Hier zog der Princeps sorgengram seine Runden durch die imperialen Gärten, dort eilte geschäftig sein Vater, der Consul, gefolgt von einer Entourage serviler Geister, von einem Termin zum nächsten, während der Praetor auf seinem Tribunal sich ob infiniter Nihilitäten, in diesem Falle eines Ehrenhändels zweier arroganter Emporkömmlinge, das Hirn zu zermatern hatte, ein Kandidat hingegen in strahlendweißer Toga von einem Senatoren zum nächsten scharwenzelte, gleich der Katze um den wohltemperierten Brei, und zwei unter ihnen verbissen um einen Immobilienhandel disputierten, welcher ihren ohnehin bereits unermesslichen Reichtum noch mehren sollte. Sie alle waren überaus geschäftig, wuselten hierhin und dorthin und kamen doch nicht vom Fleck, zu schweigen von den Mannen auf dem Capitolium, die ihren letzten Denar in einen imposanten Stier hatten investiert, um die Götter zu versöhnen, während am Auguraculum ein privater Augur seinem Tagewerk nachging, abergläubischen Narren durch Weissagungen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Es war ein gewöhnlicher Tag in Roma, jener vermeintlich bedeutendsten Stadt auf dem Erdenkreis, und doch jagte hier kein einziger dem Glück, sondern jeder lediglich dem schnöden Mammon, dem leeren Ruhm oder der imaginierten Pax Deorum nach.


    Unbeschwert gewann er so neuerlich an Höhe, durchstieß die wollig-weiche Wolkendecke und reihte sich ein in jenen Fluss aus Musik und Glückseligkeit, der über Berg und Tal und die unendliche Weite des Mare Nostrum hinweg ihn stetig vorwärts, ja aufwärts führte bis hinauf in die obersten Sphären, wo die Sterne gleich bescheidenen Öllampen am Dach der Welt hingen, obschon auch dies lediglich eine Illusion musste sein, da das All doch unendlich, die humane Imaginationskraft hingegen begrenzt war. Da doch jene schwindelnden Höhen ihm nach einiger Zeit ebenso nicht mochten behagen, wendete er seine Direktion aufs Neue und tauchte wieder hinab in die Tiefen der Menschen. Seine Destination war nunmehr indessen der südliche Kontinent, wo unermessliche Wüsten den Horizont bedeckten, durchbrochen von kleinen Karawanen und Lagern, in welchen im Wechsel gierige Händler, nicht minder gierige Banditen und tollkühne Soldaten in lebensfeindlicher Atmosphäre ihr Dasein fristeten.


    Mit einem Schlag seiner Flügel beschleunigte er daher seinen Flug und eilte vorwärts, hin zu dem grünen, palmengesäumten Streifen auf der schwarzen Erde des Nilus, wo der Sage zufolge Überfluss und Wohlstand regierten. Doch was musste er erblicken? Emsige Bauern, die unermüdlich die Räder antrieben, welche mehr und mehr Wasser und fruchtbaren Schlamm auf ihre Felder pumpten. Orientalische Despoten, die ängstlich hinter bewaffneten Knechten sich verschanzten, während ihre Häscher zugleich mehr und mehr aus den wehrlosen Bauern herauspressten. Fischer und Fährleute in winzigen Booten, die ohne Rast ihren Fang, respektive obsolete Luxusprodukte aus dem Orient von hierhin nach dorthin führten. Alle exhaustierten sich ohne jede Lust, jeder mühte sich, seinen Schlund noch üppiger zu füllen, seinen Nachbarn an Wohlstand zu übertreffen, immer mehr und mehr zu erwirtschaften.


    Wieder stieß er sich also ab, gewann an Höhe und Distanz, bis endlich er des Meeres wurde ansichtig und davor jener Stadt, die der große Alexander selbst hatte begründet. Hier in den hellenischen Städten, die seit Jahrhunderten im Wohlstand schwelgten, doch seit jeher politischer Macht entbehrten, musste die Glückseligkeit doch zu finden sein! So hob er aufs Neue an und überflog die ärmlichen Viertel von Rhakotis, um zum Zentrum und der Agora vorzudringen, an welcher sich die Heiligtümer griechischer Lebenskunst reihten. Doch was musste er entdecken? Im Gymnasion wohlgestalte Epheben, die doch sich im Ringkampf die Gelenke destruierten und beim Boxen ihre lieblichen Antlitze zermalmten, um damit die Gunst eines anderen Jünglings zu erringen. Im Theatron hingegen buhlten die Artisten um die Gunst des Publikums, fristeten Stunden und Tage mit dem Präparieren von Texten und dem Exerzieren dramatischer Gesten, anstatt sich ihres Lebens zu erfreuen.
    Desillusioniert wandte er sich auch von jenem tragödienhaften Possenspiel ab, welches das Leben schrieb.
    Zuletzt überflog er das Museion, den Hort der Musen, welcher die klügsten Häupter des Erdkreises versammelte. Hier zumindest musste doch die Glückseligkeit zu finden sein! Doch was erblickte er? Eitle Gelehrte, deren Gedanken nicht um die Lust des Wissens, sondern den Schmerz der Unwissenheit kreisten, welche die Gelehrsamkeit als ein Schlachtfeld behandelten, auf es lediglich den studierenden Kollegen zu schlagen galt. Und selbst die Akroatoi, die sich auf den Wiesen dort lagerten, visitierten die Lektionen und Disputationen nicht etwa aus eigenem Antrieb, sondern auf den Ratschluss ihrer Väter hin, um sich des Titels jener reputierlichen Institution schmücken zu können.


    Der Anblick so großer Narrheit inmitten des Zentrums der Weisheit ließ ihm das Herz schier springen. Wo nur sollte er den Trost eines edlen Vorbildes finden?
    Vom Dach des Paneion stieß er endlich sich kraftvoll in die Höhe, breitete seine Flügel aus und stieg und stieg und stieg. Er passierte die possierlichen, vielfarbigen Wolken, die lieblichen Ströme der Musik, selbst das himmlische Blau bis hinauf zur Nacht der äußersten Sphären, wo einsam die Sterne ihr Licht versprühten. Hier, in den höchsten Höhen mussten die Unsterblichen zu finden sein, die die Weisheit vollendet hatten, ja womöglich Epikur selbst zu einem der ihren hatten erkoren.
    In der Tat erblickte er, nachdem er die Sonne hatte passiert, ein fernes Leuchten, der Morgenröte gleich. Freudig hielt er darauf zu, beschleunigte seinen Flug, eilte und eilte und...


    ~ ~ ~


    ...erwachte. Keineswegs das Licht einer polychromen Sonne, sondern lediglich sanfte Strahlen, welche die Fensterläden seines Schlafgemaches durchbrachen, beschienen sein Antlitz und hatten ihm augenscheinlich den Schlaf geraubt. Mit einigem Bedauern gedachte er der soeben noch durchlebten phantastischen Realität seiner Träume, der Schwerelosigkeit und Klarität des Geistes, jenes Über-den-Dingen stehens, welches er dank der Lehren Epikurs hatte gewonnen. Obschon er zu der Einsicht war gelangt, dass er mit der Intervention der Unsterblichen nicht mehr hatte zu rechnen, so verspürte er doch den Wunsch, ihrer zumindest im Traume ansichtig zu werden, um Trost zu finden vor so viel Tollheit der Welt, sei es in Rom, sei es in Alexandreia oder anderswo. Der Reichtum unserer Natur ist begrenzt und leicht zu erwerben; aber der Reichtum an wertlosen Meinungen weitet sich aus ins Unendliche. Wie wahr doch jene Einsicht war!


    Und doch war er genötigt, vorerst mit jener einzigen Welt sich zu arrangieren und die Narren Narren sein zu lassen. Er schluckte einen säuerlichen Gustus in seinem Munde, zweifellos ein Relikt des gestrigen Opiumkonsums, hinab und griff gedankenverloren nach dem Becher, welcher Morgen für Morgen ihm unermessliche Labsal erschaffte und nahm einen Schluck kühlen, klaren Wassers.

    Aristobulos konfirmierte prompt jene Ahnung, welche den jungen Flavius bezüglich der Tugenden hatte befallen, was nicht ohne weiteres war zu verdauen, nachdem nun bald zwei Dekaden ihm dieses stets war vermittelt worden. Dennoch verspürte er recht deutlich, dass eben jene Einsicht nahtlos sich in das Weltbild Epikurs einfügte und somit einige Evidenz zu postulieren imstande war. Zuletzt blieb es augenscheinlich Sache des Individuums, die Prinzipien seines Handelns im Angesicht der langfristigen Lust-Schmerz-Relation weise zu ponderieren und zu einem individuellen Ergebnis zu gelangen, dessen Konsequenzen wiederum selbst zu tragen waren. War dies eine furiose Antithese zur starren rhomäischen Aristokratie, welche im Prinzip jedem Partizipanten ex ante bereits den eigenen Platz beschied, doch ebenso jedwede Relation und gar jede Regung prädisponierte, indem sie definierte, welche Ämter im Cursus Honorum waren zu durchlaufen, wie man sich um selbige bewarb, welchen Umgang man pflegte und wovon man sich tunlichst distanzierte, selbst welche Kurzweil einem Jüngling der jeweiligen Rangstufe zwischen Nobilitas und Quaestorii wohl anstand und welche nicht.
    Konträr zu diesem Fangnetz jenes man wie jener Tunlichkeiten offerierte Epikur ein weites Feld der Freiheit, in dem zu bewegen jedem Menschen gänzlich frei stand, wobei es zugleich einen Weg vorzeichnete, um dem Irrtum hinsichtlich ethischer Fehltritte auszuweichen und ein glückliches Leben bar jedweder fruchtlosen Zwänge und Necessitäten zu offerieren.


    Saturiert blickte Manius Minor hinüber zu seinem Freund Anaximander, welcher jenen Blick auffing und mit einem Lächeln kommentierte. Bereits jetzt lebten sie jene Liberalität, die Epikur so weise anriet, sodass ihnen die Vorzüge jenes Lebenswegs bereits aufs Beste bekannt waren und bis auf weiteres keiner weiteren Ratschläge und Repliken bedurften.

    Damit verharrten die Jünglinge in Schweigen, welches sich schier ins Infinite erstreckte, während sie dem Portal entgegenstrebten und schlussendlich in die stickige Gruft gelangten, in deren Mitte, erhellt vom Schein zahlloser Lampen, der gläserne Sarkophag des größten Heroen, welcher jemals das Licht der Welt hatte erblickt, massig dem Raum dominierte. Gierig drängten sich die Massen um die erhöht postierte Vitrine, sodass lediglich die Autorität mehrerer Tempeldiener garantierte, dass jeder einen Blick auf die Mumie konnte erhaschen, während selbige zugleich in singsanghafter Weise, doch angesichts des beständigen Schwatzens und erfurchtvoller Laute vergebens, zur Ruhe gemahnten. Überaus unerquicklich erwies sich jene Situation für den jungen Flavius, welchem es aus der Distanz ob der vor ihm sich tummelndenTouristen, die dank seiner bescheidenen Körpergröße zu überblicken er außerstande war, aus der Nähe hingegen ob seiner Fehlsicht verwehrt blieb, ein scharfes Bild von jenem Vorbild aller Caesaren zu erhaschen. Im bescheidenen Licht der Lappen vermochte er so lediglich einen bräunlichen Schemen auszumachen, welcher augenscheinlich mit einem güldenen Kopfputz war geschmückt und in edle Gewänder gehüllt.
    "Ich dachte, er sei noch so jung gewesen zu seinem Tod."
    , kommentierte indessen Anaximander von hinten, woraufhin sogleich die belehrende Stimme Epimenides' zu vernehmen war:
    "Er würde natürlich mumifiziert, sonst hätten wir heute zweifellos nur Knochen zu sehen."
    "Das scheint ihm ja nicht bekommen zu sein. Ganz verschrumpelt ist er."
    Vorwitz ergriff Manius Minor, der zu gerne selbst erfasst hätte, wovon die anderen lediglich sprachen. Zumindest fuhr Epimenides jedoch mit weiteren Details fort, welche ihm eine Imagination gestatteten, wie sich der Stadtheros erhalten hatte:
    "Und die Nase ist ebenfalls abgebrochen. Das Werk deines großen Divus Augustus, Achilleus!"
    Dies nun zu erdenken lag außerhalb der Kapazitäten des rhomäischen Jünglings, denn obschon er unter den Bettlern Roms auch solche hatte erblickt, denen diverse Gliedmaßen, darunter auch Nasen, abgingen, so ergab die Kombination einer fehlenden Nase mit einem verschrumpelten und vertrockneten Antlitz lediglich das obskure Bild eines Totenschädels, was indessen augenscheinlich mit der Narration kollidierte, welche ja eben eine Differenz zwischen Mumie und Schädel hatte postuliert.
    "Nun, wie Demokrit schon sagte: Alles zerfällt, selbst eine Mumie."
    "Der Tod hat keine Bedeutung für uns; denn was sich aufgelöst hat, empfindet nichts."
    , rezitierte Epimenides wie gewohnt eine Sentenz Epikurs zu jenem Sujet, als der Tempelwächter die drei Jünglinge auch bereits beiseite schob, um weiteren Pilgern einen Blick auf den Leichnam zu ermöglichen.


    "Wie schade. Zu gern hätte ich noch ein bisschen länger die Präsenz dieses Heroen genossen."
    , klagte Anaximander, was der junge Flavius im Geiste zu konfirmieren nicht umgehen konnte, denn obschon der visuelle Eindruck Klarität hatte missen lassen, so hatte der Blick selbst doch eine mystische Komponente, ja einen Spiritus Loci aufgewiesen, welchen kaum er zu deskribieren imstande war. Dieser Gedanke indessen erweckte in ihm ein Anliegen, das wiederum er sofortig verbalisierte:
    "Deplorablerweise vermochte ich nicht, ihn scharf zu erkennen. Wäre es possibel, ihn mir beschreiben?"
    "Selbstverständlich, Achilleus! Wir hatten ganz vergessen..."
    Selbstredend war es den Myrmidonen nicht entgangen, dass einer der ihren ein gewisses Defizit in der Sehkraft aufwies, was der Jüngling ihnen dessenungeachtet sofortig hatte offenbart, nachdem man die Mängel und Laster der einzelnen in jenem Kreise ohnehin mit heiterer Nachsicht betrachtete und dies somit keine allzu schmachvolle Konfession hatte repräsentiert.
    "Nun, er ist nicht größer als ich, würde ich sagen. Braune Haut, alles recht trocken. Verschlossene Augen. Auf dem Kopf ist ein Diadem. Sein Körper ist in ein purpurnes Gewand gehüllt mit einem goldenen Gürtel. Die Arme sind gekreuzt auf der Brust, am Finger trägt er einen goldene Ring. Sonst sieht er aus wie... nun, wie ein Toter eben."
    "Und die Nase ist abgebrochen, sodass er ein hässliches Loch in der Mitte des Gesichtes hat."
    , addierte Epimenides und hob altklug den Finger.
    "Und dies ist das Werk von Divus Augustus?"
    , fragte Manius Minor ungläubig nach, dem jene Episode mitnichten bekannt war.
    "Ja, als er hier war, wollte er natürlich Alexander sehen und hat den Sarkophag öffnen lassen. Dabei ist er ihm offenbar ein wenig zu nahe gekommen. Wie übrigens die meisten rhomäischen Basileu, die sich auch diverse Andenken aus Alexanders Grabkammer mit nach Rom genommen haben. Nero beispielsweise die Rüstung."
    Er ließ ein amüsiertes Kichern vernehmen.
    "Und wiederum zeigt sich, dass Prominenz selbst nach dem Tod noch zu Schmerz und Gefahr führen kann. Wenn auch die Sicherheit vor den Menschen bis zu einem gewissen Grad auf der Grundlage einer festgefügten Macht und auf der Grundlage guter wirtschaftlicher Verhältnisse gewährleistet ist, so erwächst doch die deutlichste Sicherheit aus der Ruhe und dem Rückzug vor den Leuten.
    Obwohl es Alexander natürlich herzlich egal sein kann, was mit seinem Leichnam passiert, da sein Geist ja ohnehin vor mehreren Jahrhunderten in seine Atome zerfallen ist."

    Jene überaus scharfsinnige Beobachtung stimmte Manius Minor besinnungsvoll, denn es war absolut wahr, dass der große Alexander ebenso war zu Tode gekommen wie die betrauernswerten Kreaturen der Subura. Obschon er Heldentaten hatte vollbracht, so war er doch weder mit hohem Alter, noch mit einem erquicklichen Sterben gesegnet worden, sondern womöglich ob jener Taten, welche zweifelsohne den Neid seiner Mitstreiter und Feinde hatte evoziert, vergiftet worden. Obschon er von besten Anlagen war gewesen und Aristoteles selbst als Lehrer hatte genossen, so war sein Leben voll Unrast und horribler Gefahren gewesen, anstatt sich der Jagd nach der Eudaimonie zu widmen. Obschon seine Leidenschaft die Kriegskunst war gewesen, so war er doch gleich einem Weibe im Bett verstorben. Obschon er mit herkulischer Mühe ein Imperium hatte errichtet, das in der Historie ohne Beispiel war, so war all das doch nach seinem Tode sogleich zu Asche zerfallen, wofür jener Leichnam, der eifersüchtig gehütet und doch entführt worden war, beredtes Zeugnis gab.
    Letztlich war zu konzedieren, dass Epikurs Worte selbst im Angesicht Alexanders, welchen jeder stets voll Ehrfurcht als "den Großen" titulierte, die Wahrheit mochten sein. Was nützten Ruhm, Macht und Einfluss, wenn man mehr Leid als Freud von ihnen derivierte?
    Mit größter Bestimmtheit deklarierte er jene Visite somit für beendet:
    "Am Ende doch ein Mensch wie wir. Lasst uns gehen."

    Die Worte Aristobulos' hinsichtlich menschlicher Begierden verschafften dem jungen Flavius eine Klarität, welcher er lange Jahre hätte bedurft, um jene Gefühle der Insekurität, ja Überforderung zu annihilieren, die Zeit seines Lebens ihn angesichts der insatisfakablen familiaren Erwartungen hinsichtlich formvollendeten Betragens in den höchsten Kreisen der Urbs, insuperabler Meisterschaft in jedweder Disziplin zur Wahrung des Nimbus flavischer Superiorität und insonderheit des allzeitigen Ringens um Konservierung, so nicht Mehrung politischer Influenz der Gens Flavia. Im Spiegel epikureischer Weisheit verpuffte all dies zu widernatürlichen Ansinnen fern jedweder Necessität und basierend auf leeren Meinungen. Denn in der Tat hatte er allzu oft sich die Frage gestellt, ob jenes eitle Beharren auf Titulaturen und Positionen, jenes servile Koalieren zur Wahrung des Status quo wie jene masochistische Aurotortur bei der kompromisslosen Verfolgung patrizisch-traditionalistischer Normen von Gravitas und Dignitas, welche letztlich dessen Verfolger zu Spott und Nachteil gereichten.
    Obschon auch die Maximen, welchen der Kreis der Myrmidonen nachjagte, ebenso zweifelsohne zu den nicht notwendigen Begierden war zu zählen, so ließ sich doch konstatieren, dass selbige zu verfolgen in ihrer privilegierten Position, wo monetäre Sorgen so ferne lagen wie der Tiber hier am Nil, durchaus vertretbar mussten erscheinen, zumal trotz der faktischen Oberflächlichkeit der Konversation jene Gemeinschaft dem Ideal intimer Freundschaft weitaus näher kam als sämtliche Familienbande, welche doch aus nichts anderem bestanden als der Begierde, sich dem anderen durch das Erfüllen von dessen niederen Begierden gefällig zu machen. All dies war abzuwerfen wie der Gram über das paternale Versagen, welches doch nur eine historisch projizierte Begierde blieb, deren Befriedigung weder als possibel, noch dauerhaft Lust generierend war zu ästimieren.
    Attraktiv erschien überhaupt die Weisung, das nicht zu ändernde nicht zu bekämpfen, sondern sich mit diesem anzufreunden, respektive zumindest zu akzeptieren. Was wollte er unternehmen im Antlitz gräulicher Vermutungen hinsichtlich seiner Schwester? Wozu sollte er sich mühen, seine korporalen Defizite zu cachieren, wo dies ohnehin lediglich in insuffizienter Weise war zu bewerkstelligen?


    In diesen Tenor fügte sich der Rat zu politischer Abstinenz somit recht adäquat, denn es leuchtete dem jungen Flavius sogleich ein, dass mit dem Cursus Honorum mehr Mühen denn Freuden waren konnektiert. Wenn er allein seines Vaters gedachte, der sich durch derartige Aktivitäten beinahe um sein und seiner Familie Leben gebracht hätte, um sodann seine eigenen Prinzipien Lügen zu strafen, lag die Einsicht nicht ferne, dass das gesamte System einen singulären Produzenten nicht endender Unlust repräsentierte, in welchen die übrigen Leiden an den familiaren Erwartungen integriert und verwoben waren.


    Bedenklicher war indessen die Entsagung jedweder Werte, namentlich der Gerechtigkeit, die doch im 5. Lehrsatz soeben noch war zitiert worden. Während er darüber noch sinnierte, replizierte sein Freund Anaximander bereits die Frage des Dozenten:
    "37. Alles, was als gerecht gilt, darf nur dann den Rang des Gerechten beanspruchen, wenn es nachweislich den Anforderungen des geregelten Umgangs miteinander entspricht, ob es nun für alle Menschen gleich oder nicht gleich ist. Wenn aber jemand ein Gesetz erlässt und es nicht der Regelung des Umgangs miteinander dienlich ist, dann hat es nicht mehr die natürliche Legitimation des Rechts. Und wenn sich der Nutzen, der vom Recht ausgeht, verändert, aber noch eine Zeit lang der ursprünglichen Vorstellung entspricht, dann war es nichtsdestoweniger zu jener Zeit gerecht für alle, die sich nicht durch leere Wort selbst verwirren, sondern einfach die Tatsachen im Auge behalten."
    Als jene Worte an das Ohr Manius Minors drangen, glaubte er schlussendlich doch eine akzeptable Position gewonnen zu haben:
    "Gerechtigkeit ist somit eine Norm, deren Utilität ihre Akzeptanz zu generieren hat? Verhält es sich dergestalt mit sämtlichen Tugenden und Gesetzen?"
    Tugenden waren es gewesen, die seine gesamte Edukation hatten bestimmt. Stets waren sie als ewige Prinzipien ihm präsentiert worden, ja den Göttern gleichgestellt, was sich in der kultischen Verehrung der Virtus, der Iustitia und vieler mehr im römischen Cultus Deorum widerspiegelte. Niemals hatte er jene infrage gestellt, niemals selbst die Possibilität erwogen, sie seien relativierbar oder gar simple, dem Fluss der Historie unterworfene Konventionen.

    War Alexandreia eine Stadt, welche Besucher ohne Zahl schlichtweg absorbierte, so repräsentierte die Sema gleichsam einen Abfluss jener unbändigen Strudels: Beständig wartete eine lange Schlange von Touristen vor dem Portal in Form eines Tempelfries, um den findigen Kontrolleuren einige Drachmen zu reichen und endlich ins innere jenes gewaltigen Tumulus und zur Grabstätte des Heros des Polis zu gelangen. Selbst die jungen Myrmidonen, namentlich Manius Flavius, Anaximander, Patrokolos und Epimenides, vermochten weder durch Sporteln für die Kontrolleure, noch durch ennuyiertes Protestieren einen privilegierten Platz zu ergattern, sondern waren gezwungen, wie jeder andere geduldig das Voranschreiten jener Schlange zu erwarten.
    "Mir scheint er nicht größer denn das Mausoleum des Augustus."
    , kommentierte der junge Flavius den Blick auf das imposante Grabmal, welches in der Tat ihn an die römisch-etruskischen Totenstätten gewahrte. Erstmalig wurde er heute des Alexandergrabes ansichtig, obschon er bereits so lange in der Stadt jenes Feldherrn weilte und dieser Ort zweifelsohne zu den populärsten Monumenten zählte, denen selbst die Cäsaren, angefangen bei Divus Iulius bis hin zu Divus Traianus, stets ihre Aufwartung gemacht hatten. Doch wie gewöhnlich war jenes, was stets vor Augen stand, auch stets als prokrastinabel ästimiert worden, bis endlich im Hause des Dionysios bei Opium und Wein die Rede darauf war gekommen und man den Plan hatte gefasst, gemeinsam diese heilige Stätte zu visitieren. Indessen hatten Dionysios und manch andere, welche kurzweilige Geschichten der großen Historie vorzogen, zuletzt doch gekniffen und letztlich war jene überaus übersichtliche Gemeinschaft aufgebrochen, welche nunmehr in der sengenden ägyptischen Sonne zwischen parfümierten Hellenen und extravagant duftenden Babyloniern brieten und sich den Schweiß von der Stirne tupften.
    "Du wirst doch nicht Sebastos mit dem großen Alexander vergleichen wollen, Achilleus!"
    , erwiderte endlich Anaximander mit einem spöttischen Lächeln.
    "Dies ist der größte Feldherr aller Zeiten!"
    "Nun, genau genommen mag Sebastos der einzige sein, welcher Alexander in irgendeiner Weise gleichkam, würde ich sagen."
    , warf Epimenides ein und setzte eine gravitätische Miene auf, woraufhin Anaximander einen despektierlichen Gestus präsentierte und konfirmierte:
    "Wie auch immer, Alexander ist auf jeden Fall unvergleichlich."
    Um einem Zwist ob der Relation zwischen Divus Augustus und dem göttlichen Alexander hinsichtlich ihrer Heroizität zu umschiffen, beschied Manius Minor endlich, das Sujet zu ändern und fragte ob dessen:
    "Besuchtet ihr bereits häufiger dies Grabmahl?"
    "Ich war schon zweimal hier. Nach meiner Ankunft und mit meinem Onkel im letzten Jahr."
    , erwiderte Anaximander, während Epimenides hochmütig den Kopf in den Nacken warf und verkündete:
    "Ich bin ein Schüler des Epikur! Ich hatte bisher keinen Anlass, diesen Hort des Aberglaubens zu besuchen."
    "Und warum bist du dann jetzt hier?"
    , gab Anaximander zurück, was indessen lediglich ein Schulterzucken evozierte.
    "Neugier."
    Hierauf entstand neuerlich eine Pause, welche der junge Flavius nutzte, auf der altehrwürdigen Sema um sich zu blicken. Obschon er außerstande sich sah, die Ornamente am Gewande seines Vordermannes zu identifizieren, so erwiesen sich die Dimensionen jener Grabstatt doch als suffizient, um ihm von seiner Position die bescheideneren, doch nicht minder imposanten Ruhestätten der ptolemaiischen Pharaonen in formidabler Qualität zu inspizieren. Auch hier erkannte er rasch Similitäten zur Praxis der Cäsaren seiner Heimat, die Anschluss erstrebten an die Heroen ihrer Geschlechter, seien es Divus Augustus, Divus Traianus oder Iulianus, dessen Monument erst kürzlich war vollendet worden. Ehe er indessen zu einem Kommentar jener Beobachtungen gelangte, war er aufs Neue genötigt, sich den Schweiß, welcher nicht nur sein Antlitz überschwemmte, sondern ebenso die originell leichten Stoffbahnen, die seinen adipösen Leib umschmeichelten, nass und klebrig machte, von der Stirne zu wischen und sodann seine Tunica ein wenig aufzuschütteln.
    "Warm, was?"
    , konstatierte Anaximander das Augenscheinliche, um sodann in unverbindlichem Tonfall zu ergänzen:
    "Ein wenig mehr Gymnasion würde dir nicht zum Schaden gereichen, mein lieber Achilleus!"
    Mit diesem Kommentar hatte der junge Hellene zweifellos die Achillesferse des jungen Flavius punktiert, jedoch anstatt seinem populären Namensgeber gleich getroffen zu Boden zu sinken, errötete er, was den beiden Myrmidonen ob seiner ohnehin von der Sonne temperierten und in hitziges Rot gefärbten Antlitzes mochte entgehen, während indessen das beschämte Schweigen, verbunden mit einer Mimik zwischen von Degout und Desillusion keineswegs war zu übersehen. Manius Minor kniff die Augen zusammen und fixierte trutzig das Gesicht seines Mentoren, so als wolle er seine Fehlsicht überlisten, um zu belegen, dass die beiden signifikant wohlgestalteren Jünglinge in ebensolchem Maße unter Helios' Feuer laborierten wie er selbst, was ihm selbstredend misslang, zumal ihm ohnehin seine Divergenz zum strahlenden Achilleus, dessen Wohlgestalt ihn beinahe dem Adonis gleichkommen ließ, wohlbewusst war und er ohne den Gleichmut evozierenden Genuss von Opium oder Wein ein jedes Mal, wenn er sich seiner Hüllen entledigte, selbst in der Einsamkeit jene Befangenheit verspürte, welche das Bewusstsein der eigenen Missgestalt evozierte. Doch was mochte er auch tun, da doch jedwede sportliche Betätigung ihm inimaginables Mühsal bereitete, während der Genuss fetter Speisen über Jahre seine einzige Freude war gewesen? War dies nicht den misslichen Umstände anzulasten, in welche die grausamen Parzen ihn mit dem Bürgerkrieg, der paternalen Entfremdung, sodann dem Verlust der Mutter und endlich seiner Schwester hatten gestoßen? Wer vermochte in derart miserabler Lage ihm die Freiheit, sich angesichts jener familialen Defekte der Lust jener kulinarischen Pretiosen missgönnen?
    "Kein Grund zur Trauer, Achilleus. Sieh, dort drüben liegen die Überreste von Ptolemaios VIII., dem wohl fettesten König aller Zeiten! Die rhomäischen Gesandten waren dem Volksmund nach regelrecht verstört, als sie zur Audienz vor ihm standen! Gegen ihn bist du geradezu mager!"
    Das Lächeln Anaximanders entging dem flavischen Jüngling, doch selbst dies hätte ihn wohl kaum bewogen, die Konfrontation seiner mit jenem 'wohl fettesten König aller Zeiten' als kalmierend zu ästimieren. Mit einem Male erschien ihm jene vermeintliche Gleichmut gegen alles und jeden, welche im Hause des Dionysios ward gepflegt, als eine schändliche Fassade, hinter welcher nun Anaximanders wahre Fratze, die den gemeinen Spöttern, deren hinter seinem Rücken verbalisierte Verhöhnung seiner barocken Figur ihm dank seines geschärften Gehörs mitnichten entgingen, in nichts nachstand.
    "Nun, das Gymnasion bereitet mir keinerlei Lust, konträr zu exquisiten Speisen."
    , parierte er final mit einem Rekurs auf die Weisheit ihres vielgeschätzten Lehrmeisters.
    "Dies ist aber eine überaus kurzsichtige Interpretation, Achilleus: Es ist nicht möglich, lustvoll zu leben, ohne vernünftig, anständig und gerecht zu leben, und auch nicht vernünftig, anständig und gerecht, ohne lustvoll zu leben. Wem dies aber nicht möglich ist, der kann auch nicht lustvoll leben. Mir scheint es wenig vernünftig, den Sport zu meiden und übermäßig zu essen. Denk an das Leid, das dir dein Übergewicht auf lange Sicht bereiten wird!"
    , intervenierte nun auch Epimenides, deplorablerweise aufseiten des Kritikers. Doch Anaximander schien zur Einsicht der Müßigkeit jener Ratschläge gelangt zu sein, denn kapitulierend hob er die Hände und erklärte:
    "Es ist deine Entscheidung. Vergiss mein Geschwätz. Ich wollte dir nicht zu nahe treten."

    Obschon der Morgen nach dem ersten Opium-Genuss keineswegs als erfreulich sich hatte erwiesen, war der junge Flavius rasch dazu übergegangen, jener neuen Droge zu fröhnen und nur noch mäßiges Interesse an dem exzessiven Zuspruch des Weines zu verspüren, da selbiger nicht nur eine sedierende Wirkung entfaltete, sondern ex post sich als widriger Gast in seinem Leibe erwies, welcher jeden Morgen aufs Neue ihn mit Hauptschmerzen, einer brennenden Kehle und einem generellen Missbehagen torquierte, das lediglich frischer Zufluss an spirituösen Getränken zu vertreiben imstande war, während die Übelkeit nach dem Thanatos-Trunk von selbst mit der Zeit sich minderte. Selbstredend annihilierte er dennoch bisweilen seinen Verstand und gab sich dem alkoholischen Rausche hin, um mit den übrigen Myrmidonen orgiastisch zelebrieren zu können, doch generell präferierte er einen Schluck Opium, welcher seine Stimmung ebenso zu heben imstande war, ihm aber weniger Leid bereitete.
    In eben jenem Nebel war er auch an diesem Tage gefangen, als er im Kreise seiner Freunde am späten Nachmittag einer künstlerischen Darbietung, nämlich dem Reigen berbischer Sklavinnen, folgte, welche mit aufreizendem Kreisen ihre von güldenen Plättchen und feinen Stoffen geschmückten Hüften vor den Augen der Jünglinge präsentierten, was zweifelsohne zur Folge würde haben, dass nicht wenige von ihnen das Ende des Tanzes auf den Klinen oder in den Gemächern des Hauses fanden. Auch Manius Minor, der im Laufe der Zeit bei den Myrmidonen eine gewisse Unbefangenheit hinsichtlich der geschlechtlichen Vereinigung hatte entwickelt, da doch im Hause des Dionysios, dem Lustprinzip in jedweder Form sich gänzlich unterwerfend, stets auch überaus ansehnliche Dirnen und Pueri Capriciosi waren zu finden, die sich neben dem Hausherrn auch dessen Freunden stets zum Gebrauch andienten. Und obschon der junge Flavius noch immer eine gewisse Befangenheit ob der eigenen korporalen Defizität (insonderheit hinsichtlich seiner Leibesfülle, welche dem hellenischen Körperkult grundlegend widersprach) verspürte, vermochten Wein oder Opium gleichermaßen seine Hemmungen zu dämpfen, seine Libido anzufachen und ihn gar zu sexuellen Experimenten hinsichtlich des Gebrauches von Damen und androgynen Knaben zu verführen.
    Da indessen selbst ein libidöses Versagen im Rausch der Dionysionischen Orgien keineswegs mit Spott, sondern vielmehr mit heiterer Gelassenheit oder Gleichmut wurden aufgegriffen, verflog auch jene Insekurität, die den flavischen Knaben in so vielen Hinsichten hatte beklommen und kleinmütig gemacht, sodass eine Saturiertheit sich in ihm einstellte, welche sein gesamtes Leben ihm stets war unbekannt geblieben. Inmitten jener Parallelgesellschaft junger Aristokraten, deren paternale Intraden es ihnen gestatteten, sorgenfrei nahezu jeder Lust zu fröhnen, welche mit Geld war zu erkaufen, verspürte er eine Geborgenheit, die ihn von sämtlichen Lasten und Leiden befreite, unter denen er sein junges Leben hatte laboriert: Die Pflichten eines Cursus Honorum und der aristokratischen Familienehre, ja selbst die Wahrung des persönlichen Ansehens waren ebenso ferne wie die Furcht vor jenen Larven und Lemuren, die ihn so oft des Nachts hatten heimgesucht und nunmehr verschonten. Selbst über die Pein des Verlustes seiner Mutter und jüngst seiner Schwester wie die Sorge um seine Familiaren ob der aurelischen Invasion in der Familia Flavia Romae legte sich sanft der Vorhang des Opiums und hüllte all das in einen Schleier der Behaglichkeit und Lustbarkeiten.


    Selbst der deplorable Umstand, dass die Tänzerinnen, welche aufreizend sich seiner Kline näherten, dadurch immer unschärfer und schemenhafter sich dem Jüngling darboten, vermochte jenem keine Frustration zu bereiten, zumal es ihm immer wieder möglich war, den fehlenden visuellen Eindruck durch eine haptische Erkundung der Mädchen zu ersetzen, sobald sich eine von ihnen auf Armlänge seinem Lager näherte.
    "Welch schöne Kleider!"
    , sinnierte er gedankenverloren, was Anaximander prompt konfirmierte:
    "Sehr hübsch, wirklich."

    Am Morgen nach jener ersten Probe vom Saft des Schlafmohnes erwachte der junge Flavius mit einem überaus blümeranten Gefühl innerhalb seiner Vitalia. Obschon keineswegs ihn die vertrauten Leiden des erloschenen Weinrausches plagten, da doch er am Vorabend keinen Anlass mehr hatte erkannt, sich hemmungslos dem Weine zu ergeben, so hatten jene Wirkungen sich keineswegs durch ein Wohlsein vertauscht, denn statt seinem Haupte schmerzte nun primär sein Unterleib.
    "Patrokolos... mir ist unwohl!"
    , murmelte er dem Diener zu, welcher wie gewohnt zu seinen Füßen auf seinem Lager sich hatte ausgestreckt, nachdem er seinen Herrn nach einem Abend voll wohliger Saturiertheit und erquicklicher Gespräche nach Hause hatte geleitet. Wie Manius Minor nunmehr gewahr wurde, vermochte er jenes Geschehen, konträr zum Ende der üblichen Gelage im Hause des Dionysios recht deutlich zu memorieren, was indessen ihn nicht mit ungetrübter Freude erfüllte, denn es erschienen ebenso Remineszenzen an einen Tanz, welchem er sich gemeinsam mit Anaximander und Dionysios zu späterer Stunde hatte hingegeben und der bestenfalls einem Schauspieler zur Ehre hätte gereicht.
    "Erwache, Patrokolos!"
    , fügte er, nachdem der Sklave sich nicht rührte, mit größerem Nachdruck an. Die Übelkeit in seinem Inneren trieb ihm bereits den Schweiß auf die Stirne und schon fürchtete er, in seine Liegestatt zu vomitieren, würde man ihm nicht rasch seine Waschschale oder ein alternatives Behältnis reichen. Doch Patrokolos schlief augenscheinlich den Schlaf der Gerechten, denn anstatt wie gewöhnlich eiligst sich zu erheben, wand er sich nur ein wenig auf seinem Lager und ließ ein zufriedenes Schmatzen vernehmen.


    Mit einem tiefen Seufzen fasste der junge Flavius endlich den Beschluss, selbst tätig zu werden und schob zaghaft ein Bein von der Kline. Die Bewegung seiner Glieder indessen entlockte seinem Magen ein grimmiges Knurren, welches, wie der assistierende stechende Schmerz offenbarte, keineswegs dem Hunger, sondern vielmehr der Überfülle war geschuldet. Neuerlich seufzte der Jüngling, doch glitt er endlich von seinem Bett und machte einige Schritte hinüber zu dem Tisch, auf welchem eine Schüssel sowie eine Karaffe mit klarem Wasser ihn erwartete. Jeder Schritt schien einen neuen Schwall eisigen Schweißes aus seinen Poren zu treiben, verbunden mit einem gräulichen Rebellieren sämtlicher Vitalia. Gerade zur rechten Zeit gelangte er noch ans Ziel und erbrach sich, ohne die Spiegelung seines Schemen im blankgeputzten Metall zu achten, herzhaft in die Schüssel. Derartiges war ihm mit Wein niemals geschehen (obschon er sich am Abend des Gelages selbst nicht selten bewusst zum Vomitieren hatte gereizt, um einem Unwohlsein zuvorzukommen).
    Nachdem sein Magen augenscheinlich sich hatte entleert, wurde der junge Flavius noch sehr viel deutlicher jener abscheulichen Kälte gewahr, welche der Schweiß seines Leibes selbst zu produzieren schien, sodass ihn trotz des sonnigen Morgens geradezu ein Schüttelfrost befiel. Noch immer drückte ihn sein Unterleib und so brach er, nicht im geringsten geneigt, sich länger auf den Beinen zu halten, kraftlos an Ort und Stelle zusammen. Gelehnt an die filigranen Beine des Tischchens, welches durch die Last seines Gewichtes gänzlich an die Wand wurde gerückt, blickte er zu jenem schemenhaften Bündel, welches sein Diener musste sein und rief mit jämmerlicher, klagender Stimme:
    "Patrokolos!"
    Dann schloss er die Augen. Opium hatte ihm einen fabulösen Abend bereitet. Der Morgen war eine abscheuliche Mär.

    Nun endlich waren sie bei jenem Aspekt in Epikurs Weisheiten angelangt, welcher die Intention des jungen Flavius war gewesen, als er vor geraumer Zeit sich für jene Lektion hatte inskribiert, obschon selbstredend seither zur Gänze sein Leben war davon hinweg und in neue, epikureische Fahrwasser war gerissen worden. Mit einem sublimen Lächeln blickte er hinüber zu Anaximander, mit welchem er bereits seit vielen Tagen im Hause des Dionysios einer, wenn auch simplifizierten Spielart des Epikureismus frönte, und der zweifelsohne ebenso wie er selbst erst gestrig den erforderten Lehrsatz aus dem Munde des altklugen Epimenides hatte vernommen. Dennoch war es Manius Minor, welcher endlich sich meldete und verkündete:
    Die Begierden sind teils natürlich und notwendig, teils natürlich und nicht notwendig, teils weder natürlich noch notwendig, sondern durch leere Meinung begründet.

    In Expektanz psychodelischer Reisen oder anderweitiger exorbitanter Erfahrungen blickte der junge Flavius, noch immer erregt ob des Nervenkitzels jenes zumindest im flavischen Haushalte illegal anmutenden Konsums, ehe er endlich ein wenig enerviert seinen Freund adressierte:
    "Was geschieht nun?"
    Jener indessen wandte sich von der Decke ab, blickte hinüber zu dem Adepten in der Welt der Opiate, lächelte und erwiderte:
    "Warte ab, Achilleus, warte ab!"
    So blieb dem Jüngling nichts, denn zu warten, weshalb auch er eine Position auf dem Rücken einnahm, um den Blick seinerseits auf die Decke zu richten, wo ihm trotz seiner Hypermetropie doch zumindest die Konturen der Kasetten erkenntlich wurden, obschon die floralen Motive, welche diese durchsetzten, ihm verborgen blieben. Rastlos wartete er, wobei ihm gewahr wurde, dass auch die übrigen Bacchanten ihre Gespräche gedämpft, ja nicht wenige augenscheinlich sich in eine similäre Position hatten begeben, um den vermeintlichen Rausch zu erwarten.
    Konträr zu der Erwartung erquicklicher Erlebnisse verspürte der junge Flavius hingegen bald schon ein Grimmen des Magens, verbunden mit einer leichten Blümeranz, welche ihn besorgt die Hand auf den beachtlichen Magen ließ legen.
    "Ich fürchte, mein Leib mag diesen Trank nicht akzeptieren."
    , kommentierte er resigniert und setzte schon an, sich zu erheben, um einem der Sklaven die Ordre zu erteilen, ihm ein Gefäß zum Vomieren zu reichen, doch Anaximander drückte ihn sanft auf seine Kline zurück.
    "Entspanne dich, Achilleus! Das geht gleich vorbei!"
    Insekur, ob jener Schritt tatsächlich ein weiser Schluss mochte gewesen sein, legte Manius Minor sich somit aufs Neue darnieder und blickte hinüber zu Patrokolos, welcher einige Klinen entfernt angeregt mit einem der anderen Myrmidonen plauderte. Seit sie in jenen Kreis waren geraten, war die Relation zwischen Herr und Diener mutiert, hatte Patrokolos an Autonomie gewonnen und mit den freien Mitgliedern des Kreises um Dionysios Freundschaften geschlossen, welche er similär zu jenen seines Herrn pflegte und weshalb er auch nicht mehr an dessen Seite klebte, wie dies früher der Fall war gewesen, zumal augenscheinlich keinerlei Necessität bestand, in diesem Kreise die Fehlsicht des jungen Gracchen zu cachieren, da Inperfektionalität den Lehren Epikurs gemäß hiesig nur insofern als Makel wurde betrachtet, sofern der darunter leidende sich davon in seiner Lust ließ trüben. Dennoch bereitete der Verlust jener extrakorporalen Extension seiner Gliedmaßen, als welche Patrokolos stets hatte fungiert, dem jungen Flavius bisweilen noch manche Strapazen, zu schweigen von dem stets ermutigenden Wort, das der Sklave in den zahllosen Momenten der Insekurität, wie auch der hiesige einen repräsentierte, seinem Herren schenkte.


    Doch in der Tat kalmierte sich jenes Missbehagen in psychischer wie physischer Form baldig und schuf einem wohligen Gefühl von Wärme Raum, das ebenso sich über den ganzen Körper des Jünglings verbreitete. Mit Staunen verspürte er, wie nicht nur das Grimmen seiner Vitalia, sondern ebenso das Leid hinsichtlich der paternalen Verstoßung zwar nicht entschwanden, doch jedweder Relevanz verlustig gingen. Womöglich war es wahr, was Anaximander hinsichtlich der Einsichtigkeit Epikurs hatte gesprochen, doch vor allem entfaltete sich Manius Minor die Einsicht, dass all dies für den akuten Moment des Glückes, welchen er nunmehr verlebte, keine Bedeutung beizumessen war.
    "Nun, wirkt es bereits?"
    , entriss Anaximander ihn unerwartet aus jenen erquicklichen Regungen. Für einen Augenschlag verspürte der Jüngling eine Insekurität hinsichtlich der adäquaten Replik. Dann hingegen antwortete er:
    "Mir deucht, es wirkt."

    Niemals hatte der junge Flavius jene Grundlagen der Materie reflektiert, welche ihm doch stets evident waren erschienen, zumal seine Edukation nicht sonderliches Interesse an derartigen vergeistigten Fragestellungen hegte, da doch pragmatische Problematiken wie die Schreibkunst, die Beredsamkeit oder gemeine Bildungskanones wie das Wissen um die Götter, die Geschichte wie die basalen Direktionen der Moralphilosophie sämtliche Zeit für sich hatten beansprucht. Jene Infamiliarität, verbunden mit einem leichten Stechen in der Schläfenregion, zweifelsohne evoziert durch das vorabendliche Trinkgelage im Hause des Dionysios, hatte zur Folge, dass die Spekulationen des Aristobulos über Symbebekóta und Symptomata, über natürliches Streben winzigster Teilchen und die materielle Essenz der Seele in schwindelnder Weise ihn quirligen Vöglein gleich umschwirrten, was bei den vergeblichen Bemühungen, eine von ihnen zu greifen und zu intrinsieren, ihm gar blümerante Regungen seiner Vitalia bereitete.


    Zuletzt hingegen vermochte er sich doch wieder zu kalmieren, als der fremde Rhomäer unweit von ihm den zweiten Lehrsatz des Epikur rezitierte, welchen sie in der Tat bereits auf geringerem theoretischen Niveau im Hause des Dionysios hatten disputiert.


    Immerhin erwies sich jene Variation der Stimme als suffizient, seine Appetenz für die folgenden Ausführungen hinsichtlich der Unsterblichen zu erwecken, welche in der Tat einen dubitablen Aspekt der Epikureischen Lehre repräsentierten, da sie doch ob der Sozialisation Manius Minors eine similäre Evidenz besaßen wie die humane Existenz selbst. Kalmierte ihn erstlich die Einsicht, dass sein geschätzter Epikur die Götter nicht leugnete, so nötigte das Folgende ihm doch ein Runzeln der Stirne ab, da erstlich mit der Akzeptanz jener Thesen der Sinn jedwedes Cultus Deorum ad absurdum geführt wurde, folgend jedoch auch die Imagination einer Existenz frei von jedweder Beschäftigung fern der Erde ihm durchaus nicht als Vollendung der Lust mochte erscheinen, sondern eher als ein ennuyantes Vegetieren, was doch gerade zu dem entlastenden Versprechen des Existenzverlustes nach Auflösung der Atome konträr zu stehen schien.
    Hingegen glaubte er sich dieses Tages nicht imstande, eine Disputation mit dem weisen Aristobulos gewachsen zu sein, weshalb er sich kritischer Kommentare enthielt und artig, kaum ward er aufgerufen, die prätendierten Sätze rezitierte:
    " Erstlich: Wenn uns nicht die Vermutungen über die Himmelserscheinungen und die angstvollen Gedanken über den Tod, als ob er uns irgendetwas anginge, ferner die mangelnde Kenntnis der Grenzen von Schmerzen und Begierden belastete, brauchten wir keine Naturphilosophie.
    Sodann: Es wäre nicht möglich, die Angst in Zusammenhang mit den wichtigsten Dingen aufzulösen, wenn man nicht begriffen hätte, was die Natur des Ganzen ist, sondern in Angst vor allem lebte, was die Mythen erzählen; daher wäre es nicht möglich, ohne Naturphilosophie ungetrübte Freude zu genießen."

    Wieder hatten sich die Myrmidonen im Hause des Dionysios versammelt, um gemeinsam den Tag zu verleben. Am Morgen hatte Manius Minor den Brief Manius Maiors empfangen, welcher, obschon er hatte beschlossen, den fernen Consul und Vater Consul sein zu lassen, ihm doch über den gesamten Tag hinweg immer wieder Kummer hatte bereitet, sodass nun, da einige Becher süßen Weines und die goutante Vertrautheit Anaximanders ihn bemüßigte, sein Leiden zu thematisieren:
    "Mein Vater hat geschrieben."
    "Und was schreibt der Alte? Nichts erfreuliches scheinbar!"
    , erwiderte der Grieche, den Gemütsstatus seines Gegenübers trefflich beschreibend.
    "Nun, er berichtete, dass der Senat ihn zum Consul erkor."
    Anaximander bot ein anerkennendes Schnauben, ehe er neuerlich zur Rede ansetzte:
    "Respektabel, respektabel. Und was ist so schlimm daran?"
    "Nun, wie dir zweifelsohne bekannt ist, ist dies die Krone jedweden Politikers in meiner Vaterstadt. Ein Moment, welcher nicht nur die Person in die höchste Rangstufe der Senatoren erhebt, sondern zugleich die höchste Dignität für seine Familie verleiht. Doch gedenkt er augenscheinlich nicht, mich an diesen Ehren partizipieren zu lassen."
    Er verstummte, um Worte ringend, die jene Desillusion mochten fassen.
    "Er erwägt nicht mit einem Wort, mich an seine Seite zu holen, um ihm zu assistieren... oder dergleichen... gewissermaßen..."
    Bekümmert nahm er einen Schluck des Weines, während Anaximander ebenfalls einen Augenblick zu spintisieren schien, ehe er sich von seiner Kline zu dem jungen Rhomäer hinüberbeugte, um ihm stärkend die Hand auf die Schulter zu legen.
    "Oh, Achilleus, o Achilleus. Noch immer liebst du den Ruhm mehr als das Glück! Denke zurück an Epikur: Der Ruhm der Politik bringt nur Leid und Schmerz! Heute ist dein Vater Consul, morgen muss er sein Amt zurückgeben! Du hast selbst gesagt, dass du dich nicht in dieses Tretrad stellen willst, um mühevoll auf der Stelle zu treten. Diese Ehren sind belanglos! Denk an das, was Lust bringt, nicht an die lästigen Pflichten, vor denen du buckeln sollst!"
    Der flavische Jüngling schwieg. Die Worte seines Freundes waren allzu wahr, doch obschon seine Ratio nur zu konsentieren imstande war, so blieb doch zu konzidieren, dass sein Herz noch immer jenem alten Leben anhing, welches bestimmt war von Pflicht und Dienst, von Problematiken und Übeln, deren Existenz lediglich selbst geschaffene Bürden waren, doch durch ein Verlassen jenes selbstdestruktiven Systems theoretisch so leicht zu annihilieren waren. Doch wie so oft differierten Theorie und Praxis, paradierte doch nicht nur sein stets so ferner Vater, sondern ebenso der Geist seiner geliebten Mutter vor dem geistigen Auge umher, mit scharfen Worten die Schlüsse des weisen Epikurs scheltend und zur Pflicht mahnend. Zahllose Male hatte Manius Minor über die Berechtigung und die Unsinnigkeit jenes alten Lebens disputiert, doch blieb am Ende jener Debatten doch stets die Einsicht, dass der Iuno Claudiae Antoniae doch nicht mehr zu gehorchen war als jenen imaginierten, zürnenden Göttern, welche die Abergläubigen durch blutige Opfer zu besänftigen sich mühten, ja eine Furcht vor der Erwartung von Familie und Staatswesen keinerlei Lust oder Nutzen evozierten. Der Privatmann, jener idiotes, der das Staatswesen Staatswesen und den Cursus Honorum Cursus Honorum, einen sinnlosen Wettlauf um Ehren, sein ließ, war das einzig einsichtige Ideal, das Epikur folglich sehr klar seinen Jüngern hatte empfohlen.
    "Ich weiß."
    , stimmte er somit letztlich ein und nahm einen neuerlichen Schluck. Der Schmerz jenes Briefes würde vergehen, sofern nicht durch Einsicht, so doch durch die Zeit.


    Ehe Anaximander indessen ein neues Sujet aufs Tableau zu bringen imstande war, ergriff wieder einmal Dionysios das Wort, doch mit einer admirablien Klarität in der Artikulation, welche zu jener Tagesstunde höchst selten bei ihm war zu finden.
    "Meine lieben Freunde,
    ich verkündige euch mit Freude, dass gestern wieder eine Lieferung Mohn vom Nil angekommen ist. Es ist also wieder Zeit für die Milch der Träume!"

    In Händen hielt er einen güldenen Pokal, welchen er nun in die Höhe reckte. Darauf war, selbstredend inidentifikabel für den jungen Flavius, ein Relief mit dem Bild des Thanatos zu erblicken, in der einen die gesenkte Fackel des Endes, in der anderen die Mohnkapsel, deren Saft augenscheinlich sein Inneres füllte.
    "Folgt mir also auf diesem neuen Weg der Lust! Trinkt und tretet ein in die Welt des Opium!"
    Irritiert, doch durchaus vorwitzig verfolgte Manius Minor den nun folgenden Trankritus, der einer Opferhandlung gleich wirkte, so würdevoll, wie Dionysios seinen Becher an die Lippen setzte und einen bescheidenen Schluck von dessen Inhalt konsumierte, um das Gefäß sogleich weiterzureichen. Jeder der Jünglinge nahm einen Schluck und reichte ihn weiter, ehe er schließlich Anaximander erreichte, der ebenso davon nahm und das Gefäß zuletzt seinem Freunde überreichte.
    Unterdessen war der flavische Jüngling in ein Wechselbad aus Furcht und Sensation gestoßen, da doch das Opium theoretisch ihm wohlbekannt war, da auch manch vornehmer Römer die Milch des Mohnes genoss, doch manche, wie es hieß, ihr völlig waren ergeben und, gleich den starken Trinkern, nicht ohne sie mehr zu sein imstande waren. Im Übrigen verhieß jener Trank doch auch mirakulöse Erfahrungen, ja faszinierende Visionen und erquickliche Zustände, die indessen jungen Flavius bisherig waren verwehrt geblieben, da ersterer Aspekt den Diskurs in der Villa Flavia Felix bezüglich jenes berauschenden Produktes hatte dominiert.
    "Wie wirkt das?"
    , raunte er somit, als er das inzwischen durch zahllose Hände gewärmte Gefäß entgegennahm, halb fürchtend, in seiner Furchtsamkeit den Spott seiner Konbacchanten zu erfahren.
    "Probier' es aus. Trink und warte ab! Es wird dir gut tun."
    , replizierte Anaximander mit größter Sekurität, ehe er sich auf seiner Kline räkelte und zur Decke blickte, als erwarte er den Masseur im Bade.


    Manius Minor zögerte, blickte um sich, wo die Schemen zahlloser Antlitze seine Reaktion erwarteten. Der kleine Manius Maior in ihm, an seiner Seite der greise Artaxias, sein Paedagogos, wie auch seine Amme schienen warnend ihre Zeigefinger zu heben, um ihm jene riskante Tat zu untersagen. Doch obschon er den Blick seiner Freunde nicht klar zu identifizieren imstande war, so spürte er doch nicht nur die Erwartung in ihren Gesichtern und dahinter jenes Damoklesschwert der Exklusion, das über ihm schwebte, um gnadenlos darniederzusausen und ihn von jener so erstreblichen Gemeinschaft zu trennen, sollte er sich dem kommunen Ritual entziehen und ängstlich, gleich einem Wurm, jener riskanten, doch ebenso verheißungsvollen Droge sich versagen. Alle taten ist, warum also nicht auch er? Was mochte geschehen?
    Er setzte den Pokal an seine Lippen. Er nahm einen vorsichtigen Schluck der milchig-weißen Substanz. Er schmeckte einen widerwärtigen Degout, ungleich abstoßender als der süße Wein, den er so liebte und ihm ebenso erquickliche Stunden bereitete, welcher zugleich ihn jedoch motivierte, das Getränk zügig hinabzuwürgen. Sodann geschah... nichts.

    Es bedurfte einiger Mühen, den getreuen Patrokolos seines Deliriums zu entreißen, doch final gelang es dem jungen Flavius, getrieben von einem Vorwitz, welcher die Lethargie des Leidens niederfocht, seinen Sklaven zur Erbrechung des Siegels und der Rezitation des Briefes zu bewegen.
    Indessen kühlte sich seine Unrast, als er den Autoren des Schreibens erfuhr, was durch die schwächlichen initianten Worte, die in gedrechselter und ziselierter Sprache doch lediglich die mangelnde Neigung seines Erzeugers beschrieben, ihn, wie es seinem Recht als mündigem Jüngling entspräche, über die wahren Kontexte des Todes seiner Schwester zu informieren, lediglich eine Steigerung in bodenlose Desillusion erfuhr.
    Mehr denn je glaubte der Jüngling die bittere Wahrheit zu erkennen, dass Manius Maior ihn schlichtweg hinter sich gelassen hatte, ohne auch nur jemals von seinem Reifen vom irrationalen Knaben zum studierenden Jüngling Notiz genommen zu haben, ja in Wahrheit kaum mehr Interesse an seinem Schicksal hegte, da doch die höflichen Nachfragen nicht darüber hinwegzutäuschen imstande waren, dass er, zweifelsohne getrieben vom rastlosen Ehrgeiz der aurelischen Natter, sich ausgerechnet in seiner Absenz dazu hatte aufgerafft, die Spitze des Ehrenlaufes zu erklimmen, wovor zu viele Male er war zurückgeschreckt, um ausgerechnet in jenen Tagen den Glanz des staatsmännischen Ruhmes auf sich zu laden, da nichts von ihm auf seinen Sprössling konnte abstrahlen.
    "Er bittet mich nicht einmal zurückzukehren."
    , klagte Manius Minor und ließ sich auf sein Bett zurückfallen, was neuerlich ihm pochenden Schmerz in den Schläfen bereitete. Patrokolos, ebenso torquiert vom abendlichen Konsum, seuzfte.
    "Er wird dir nicht verbieten, es zu tun. Ich kann Sulpicius bitten, ein Schiff zu-"
    "Nein, er will mich nicht zurück!"
    , fuhr der Jüngling ihm in die Parade, noch ehe der Sklave die Offerte hatte vollendet.
    "Aber er schreibt doch-"
    "Heuchlerische Floskeln, nichts weiter! Und im folgenden Satz bemüht er sich bereits, mich durch eine lächerliche Alternative zu trösten, aufdass ich besser Scato in seinem weitaus geringeren Amte assistieren mag! Distanz, Distanz, das ist alles, was er wünscht!"
    Der Schmerz in den Schläfen schien geradezu adäquat zu seiner Befindlichkeit, der Katzenjammer als Katalysator des psychischen Leides, jener grässlichen Amputation.


    "Denke an Epikur, Achilleus. Denke an deine Freunde!"
    , mühlte Patrokolos sich nach einigem tristen Schweigen endlich, eine Perspektive zu öffnen, augenscheinlich bangend, sein Herr sei aufs Neue in jene Depression verfallen, die er durch die Mühen des Rausches und der Lustbarkeiten in letzter Zeit hinter sich gelassen hatte.
    Und in der Tat war ihm Erfolg beschieden, denn mit einem Male wurde dem flavischen Jüngling gewahr, dass eben das die Seelenarznei musste sein, welche der große Philosoph so tapfer anpries, ja der Grund, warum er niemals von Familie, sondern stets von Freunden sprach, die Halt und Hilfe boten. Wer mochte ihm eine bessere Stütze sein: Die, welchen er auf Gedeih und Verderb verbunden war, an sie gefesselt als ungeliebter Appendix, dessen ledig zu werden lediglich die Last der Blenderei über Traditionen und des perfekten Scheins verbat? Oder nicht eher jene, die ihn selbst erwählt hatten, die seine Fehler gütig nachsahen, welche ihm ein Leben in Lust und Freude offerierten und deren Zuneigung auf einer Gegenseitigkeit beruhten, deren Intimität ihresgleichen suchte?
    "Wahrlich, wahrlich..."
    , murmelte der junge Flavius, die indifferente Fläche der Deckenkonstruktion betrachtend,
    "Ich sollte mich von dieser grässlichen Familie und diesem eitlen Eifern um Respekt, Ruhm und Ehre trennen! Was mag davon bleiben als Sorgen und Furcht hier und ein Häuflein Atome in der Zukunft?"
    Mühsam drehte er sich zur Seite, stets beachtend, sein Haupt nicht zu heftig zu movieren, um nicht ein neuerliches Pochen unter seiner Schädeldecke pro provozieren. Schmerz war Unlust. Es lebe die Lust!
    "Bring mir einen Becher Mulsum. Ich werde noch ein wenig ruhen."
    Mochte Manius Maior so viele Consulate bekleiden, als ihm lieb war. Was würde er gewinnen als eine machthungrige Natter zur Frau, serviler und doch neidzerfressener Honoratioren zu Gefährten, die Furcht vor dem Absturz im Nacken?
    Manius Minor würde sich den angenehmen Seiten des Lebens widmen.

    Als Manius Minor am Morgen aus seinem Delirium erwachte, verspürte er jenen inzwischen wohlvertrauten Schmerz in seinem Haupte, welcher ihn dieser Tage nicht selten torquierte, gleich einem ehernen Band, welches unterhalb seines Craniums sein Hirn malträtierte, doch durch kühlendes Nass bis zum frühen Abend würde zu vertreiben sein. Zweifelsohne wäre es weise gewesen, bereits vor dem Zubettgehen einen Becher Wasser zu konsumieren, doch wie so oft war ihm dies in trunkener Ermattung entfallen.


    Er seufzte und blickte von seinem Bett hinab, obschon sein Augenlicht nach jenen durchzechten Nächten ihm noch weitaus üblere Dienste erwies denn gewöhnlich. Es erwies sich indessen als suffizient, um den Schemen Patrokolos' zu identifizieren, der quer zu seinem Lager auf dem Boden lag gleich einem Leichnam, lediglich durch lautes Schnarchen von seinem Leben kündend. Der Jüngling schluckte mühsam jenen absonderlichen Gustus hinab, welcher sich anging, als habe er am vorigen Abend nicht lukullische Köstlichkeiten, sondern eine jener zahllosen streunenden Katzen von den Gassen Rhakotis' verspeist.
    Gedankenverloren griff er zu dem Tischchen neben seiner Liegestatt, um nach dem dort für gewöhnlich platzierten Becher zu tasten. Indessen spürte er nicht das glatte Holz der Platte, sondern eine Rolle von Pergament, die ihm keineswegs familiar erschien. Vorwitzig ergriff er das Objekt, tastete es ab und identifizierte die Haptik eines wächsernen Siegels, was implizierte, dass sie am gestrigen Abend auf dem Weg von Dionysios hierher ein Diploma für die bezechtesten aller Proxenioi Alexandreias erhalten hatten, oder einer der Sklaven hier einen Brief positioniert hatte. Obschon erstere Option ihm ein sublimes Lächeln auf die trockenen Lippen zauberte, räusperte sich der junge Flavius und befahl mit krächzender Stimme, welche ihn ihm als Gruß vom Absingen zotiger Weisen vor nicht wenigen Stunden war verblieben:
    "Patrokolos, erwache! Wir haben Post!"

    Zitat

    Original von Manius Flavius Gracchus Minor
    Deplorablerweise bin ich genötigt zu verkünden, dass ich ab Mittwoch bis Ende März absent sein werde, was indessen kaum einen Postingpartner wird tangieren, dennoch ob eventueller PNs nicht verschwiegen werden soll.


    Nun hat es ein wenig länger gedauert, doch nun stehe ich wieder zur Verfügung.

    Obschon der junge Flavius höchlich beschämt die Lektion am Tage nach Epikurs Anniversarium hatte aufgesucht, so war er doch keinesweges mit strafenden Blicken seiner Konbacchanten dortig begrüßt worden, sondern vielmehr mit größter Vergnüglichkeit für seine vollendete Internalisierung des epikurischen Prinzipes gepriesen worden, welches selbst vor dem Opfer des Weisen sich nicht verbiegen durfte, sondern auch hier die Lust zum höchsten Gebote erkor, welches im Zweifelsfalle eben die Trennung von dem unerquicklichen Magensatze mochte bedeuten. Obschon Manius Minor die Interruptur eines Opfers dennoch nicht recht als erstreblich verblieb, so verspürte er doch nicht geringe Satisfaktion, statt jenem moralinsauren Milieu seiner Familie hiesig einen gelösten Kreis fröhlicher Kommilitonen gefunden zu haben, welchem der äußere Schein ebenso wie die soziale Deszendenz oder das normgerechte Betragen keine Kategorie repräsentierte und somit geradewegs eine Kontrastgesellschaft zu den patrizischen Sozietäten im fernen Rom repräsentierte.


    Entsprechend folgte er auch sogleich der nächsten Invitation am folgenden Abend, sodann der nächsten und immerfort, bis endlich er mehr Zeit im Haus des Dionysios denn jenem des Sulpicius zubrachte. Die Okkupationen jenes Etablissements waren zwar kaum sonderlich divers, da letztlich stets dem Weine wurde zugesprochen, bis binnen kurzer Dauer eine heitere Trunkenheit das Klima prägte, welches sodann in diversen Kontexten wurde kultiviert: Bisweilen visitierten die Jünglinge ein Badehaus, um sich mit Massagen und Schwitzkuren zu relaxieren, bisweilen schlenderten sie über die exklusiven Märkte der Stadt, wo die Myrmidonen, wie der junge Flavius seinen neuerlichen Freundeskreis im Stillen titulierte, da dem initiierenden Jux des Dionysios folgend er stets als Achilleus gerufen ward, was dem Jüngling zwar erstlich infamiliar und spöttlich erschien, letztlich aber ob der Einsicht, dass man ihm mit selbigem keineswegs bösen Hohn treiben wollte, gar Freude daran empfand und endlich beschied, dass Achilleus mitnichten gänzlich inadäquat wäre, so das Vorbild jenes Heros einesteils durchaus die Relation zu seinem Patrokolos beschrieb, anderenteils Unbesiegbarkeit ein überaus erstrebenswerter Nimbus blieb, welchen er sich durch diesen Kosenamen zueigen machte, die von ihren Vätern zugesandten Talente in Luxusobjekte jedweder Art konvertierten. Nicht selten hingegen hüteten sie auch schlicht das Haus, um sich in mehr oder minder sinnentleerten Debatten pseudophilosophischer Art zu ergehen, mehr oder minder anspruchsvolle artistische Darbietungen zu verfolgen, ehe jeder Abend in einer rauschhaften Commissatio endete, bis kaum einer noch des Gehens mächtig war und Patrokolos seinen jungen Herrn (sofern er nicht selbst dem Weine erlag und beide auf den Klinen am Ort des Gelages nächtigen) wankend nach Haus geleitete.
    Bald schon ergaben sich im Strudel jener hedone neue Bande: Anaximander, welcher Manius Minor in den Kreis hatte introduziert, übernahm die Rolle eines jovialen Patronus, zu welchem der flavische Jüngling bald die engste Relation hegte, Philippos, ein Hellene, dessen Ahnen seit jeher in Neapolis am Golfe von Misenum lebten und dem jungen Flavius die Option bot, in den Erinnerungen an vergnügliche Sommerfrischen im Umfeld der Villa von Onkel Aristides zu schwelgen, Epimenides, ein altkluger Kreter, welcher jedwede Unterredung mit einer adäquaten Sentenz aus den Lehrsätzen Epikurs bereicherte und damit gleichsam als Manius Minors Repetitor für dessen Lektion am Museions fungierte, während der zwar fidele, doch bisweilen ein wenig primitive Dionysios den harlekinesken Fokus der Gemeinschaft bildete, stets auf der Pirsch nach neuen, extraordinären Genüssen und Lüsten, aber doch dem rhomäischen Jüngling in seiner primitiven Art stets in gewisser Weise fremd blieb.