~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~
Er schwebte. Mitnichten gleich jenem Schweben,welches der Corpus im freien Fall zu verspüren glaubte, sondern vielmehr gleich einem Vogel, einem erhabenen Habicht, welcher in unendlicher Höhe seine Bahnen zog auf der Suche nach Beute. Doch obschon er mit größter Klarität zu sehen imstande war, ja weitaus schärfer als in frühesten Kindertagen, da sein Augenlicht ihm noch nicht seine Dienste hatte aufgekündigt, so bedurfte er dessen doch nicht, um sich irgendeiner Nahrung zu bemächtigen, da er im Stande höchster Saturiertheit sich wähnte, in dem weder Hunger noch Durst, weder Furcht noch Reue, weder Trauer noch Desperation ihn torquierten, sodass er gänzlich er selbst konnte sein und schlichtweg sich dem puren Genusse der Faktizität der eigenen Existenz konnte hingeben. Und in der Tat war diese Existenz in höchstem Maße delektabel, denn nicht nur wärmte ihn eine bald purpurne, bald leuchtend orangene Sonne über ihm, auch kühlte ihn der Wind unter seinen Fittichen, respektive Armen. Unter ihm zogen Wolken in den infiniten Nuancen des Regenbogens vorbei, bald scharlachrot, bald himmelblau, grasgrün oder glänzend gülden. Zugleich erfüllte erquickliche Musik den Himmel, durchzog ihn visibel in behäbigen Wellen, welchen schwebend er folgte in ihrem tranquillierenden Auf und Ab.
Weit unten erblickte er die Urbs, welche aus dieser Perpektive nicht lebhafter als ein winziges Bauerndorf wirkte. Vorwitzig stieß er hinab, hielt auf das Forum zu, wo endlich aus dem statischen Muster der Häuser sich ein wildes, ameisengleiches Gewusel an Menschen löste, deren Identität ihm dank seines famosen Auges trotz der Distanz sich rasch offenbarte: Hier zog der Princeps sorgengram seine Runden durch die imperialen Gärten, dort eilte geschäftig sein Vater, der Consul, gefolgt von einer Entourage serviler Geister, von einem Termin zum nächsten, während der Praetor auf seinem Tribunal sich ob infiniter Nihilitäten, in diesem Falle eines Ehrenhändels zweier arroganter Emporkömmlinge, das Hirn zu zermatern hatte, ein Kandidat hingegen in strahlendweißer Toga von einem Senatoren zum nächsten scharwenzelte, gleich der Katze um den wohltemperierten Brei, und zwei unter ihnen verbissen um einen Immobilienhandel disputierten, welcher ihren ohnehin bereits unermesslichen Reichtum noch mehren sollte. Sie alle waren überaus geschäftig, wuselten hierhin und dorthin und kamen doch nicht vom Fleck, zu schweigen von den Mannen auf dem Capitolium, die ihren letzten Denar in einen imposanten Stier hatten investiert, um die Götter zu versöhnen, während am Auguraculum ein privater Augur seinem Tagewerk nachging, abergläubischen Narren durch Weissagungen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Es war ein gewöhnlicher Tag in Roma, jener vermeintlich bedeutendsten Stadt auf dem Erdenkreis, und doch jagte hier kein einziger dem Glück, sondern jeder lediglich dem schnöden Mammon, dem leeren Ruhm oder der imaginierten Pax Deorum nach.
Unbeschwert gewann er so neuerlich an Höhe, durchstieß die wollig-weiche Wolkendecke und reihte sich ein in jenen Fluss aus Musik und Glückseligkeit, der über Berg und Tal und die unendliche Weite des Mare Nostrum hinweg ihn stetig vorwärts, ja aufwärts führte bis hinauf in die obersten Sphären, wo die Sterne gleich bescheidenen Öllampen am Dach der Welt hingen, obschon auch dies lediglich eine Illusion musste sein, da das All doch unendlich, die humane Imaginationskraft hingegen begrenzt war. Da doch jene schwindelnden Höhen ihm nach einiger Zeit ebenso nicht mochten behagen, wendete er seine Direktion aufs Neue und tauchte wieder hinab in die Tiefen der Menschen. Seine Destination war nunmehr indessen der südliche Kontinent, wo unermessliche Wüsten den Horizont bedeckten, durchbrochen von kleinen Karawanen und Lagern, in welchen im Wechsel gierige Händler, nicht minder gierige Banditen und tollkühne Soldaten in lebensfeindlicher Atmosphäre ihr Dasein fristeten.
Mit einem Schlag seiner Flügel beschleunigte er daher seinen Flug und eilte vorwärts, hin zu dem grünen, palmengesäumten Streifen auf der schwarzen Erde des Nilus, wo der Sage zufolge Überfluss und Wohlstand regierten. Doch was musste er erblicken? Emsige Bauern, die unermüdlich die Räder antrieben, welche mehr und mehr Wasser und fruchtbaren Schlamm auf ihre Felder pumpten. Orientalische Despoten, die ängstlich hinter bewaffneten Knechten sich verschanzten, während ihre Häscher zugleich mehr und mehr aus den wehrlosen Bauern herauspressten. Fischer und Fährleute in winzigen Booten, die ohne Rast ihren Fang, respektive obsolete Luxusprodukte aus dem Orient von hierhin nach dorthin führten. Alle exhaustierten sich ohne jede Lust, jeder mühte sich, seinen Schlund noch üppiger zu füllen, seinen Nachbarn an Wohlstand zu übertreffen, immer mehr und mehr zu erwirtschaften.
Wieder stieß er sich also ab, gewann an Höhe und Distanz, bis endlich er des Meeres wurde ansichtig und davor jener Stadt, die der große Alexander selbst hatte begründet. Hier in den hellenischen Städten, die seit Jahrhunderten im Wohlstand schwelgten, doch seit jeher politischer Macht entbehrten, musste die Glückseligkeit doch zu finden sein! So hob er aufs Neue an und überflog die ärmlichen Viertel von Rhakotis, um zum Zentrum und der Agora vorzudringen, an welcher sich die Heiligtümer griechischer Lebenskunst reihten. Doch was musste er entdecken? Im Gymnasion wohlgestalte Epheben, die doch sich im Ringkampf die Gelenke destruierten und beim Boxen ihre lieblichen Antlitze zermalmten, um damit die Gunst eines anderen Jünglings zu erringen. Im Theatron hingegen buhlten die Artisten um die Gunst des Publikums, fristeten Stunden und Tage mit dem Präparieren von Texten und dem Exerzieren dramatischer Gesten, anstatt sich ihres Lebens zu erfreuen.
Desillusioniert wandte er sich auch von jenem tragödienhaften Possenspiel ab, welches das Leben schrieb.
Zuletzt überflog er das Museion, den Hort der Musen, welcher die klügsten Häupter des Erdkreises versammelte. Hier zumindest musste doch die Glückseligkeit zu finden sein! Doch was erblickte er? Eitle Gelehrte, deren Gedanken nicht um die Lust des Wissens, sondern den Schmerz der Unwissenheit kreisten, welche die Gelehrsamkeit als ein Schlachtfeld behandelten, auf es lediglich den studierenden Kollegen zu schlagen galt. Und selbst die Akroatoi, die sich auf den Wiesen dort lagerten, visitierten die Lektionen und Disputationen nicht etwa aus eigenem Antrieb, sondern auf den Ratschluss ihrer Väter hin, um sich des Titels jener reputierlichen Institution schmücken zu können.
Der Anblick so großer Narrheit inmitten des Zentrums der Weisheit ließ ihm das Herz schier springen. Wo nur sollte er den Trost eines edlen Vorbildes finden?
Vom Dach des Paneion stieß er endlich sich kraftvoll in die Höhe, breitete seine Flügel aus und stieg und stieg und stieg. Er passierte die possierlichen, vielfarbigen Wolken, die lieblichen Ströme der Musik, selbst das himmlische Blau bis hinauf zur Nacht der äußersten Sphären, wo einsam die Sterne ihr Licht versprühten. Hier, in den höchsten Höhen mussten die Unsterblichen zu finden sein, die die Weisheit vollendet hatten, ja womöglich Epikur selbst zu einem der ihren hatten erkoren.
In der Tat erblickte er, nachdem er die Sonne hatte passiert, ein fernes Leuchten, der Morgenröte gleich. Freudig hielt er darauf zu, beschleunigte seinen Flug, eilte und eilte und...
...erwachte. Keineswegs das Licht einer polychromen Sonne, sondern lediglich sanfte Strahlen, welche die Fensterläden seines Schlafgemaches durchbrachen, beschienen sein Antlitz und hatten ihm augenscheinlich den Schlaf geraubt. Mit einigem Bedauern gedachte er der soeben noch durchlebten phantastischen Realität seiner Träume, der Schwerelosigkeit und Klarität des Geistes, jenes Über-den-Dingen stehens, welches er dank der Lehren Epikurs hatte gewonnen. Obschon er zu der Einsicht war gelangt, dass er mit der Intervention der Unsterblichen nicht mehr hatte zu rechnen, so verspürte er doch den Wunsch, ihrer zumindest im Traume ansichtig zu werden, um Trost zu finden vor so viel Tollheit der Welt, sei es in Rom, sei es in Alexandreia oder anderswo. Der Reichtum unserer Natur ist begrenzt und leicht zu erwerben; aber der Reichtum an wertlosen Meinungen weitet sich aus ins Unendliche. Wie wahr doch jene Einsicht war!
Und doch war er genötigt, vorerst mit jener einzigen Welt sich zu arrangieren und die Narren Narren sein zu lassen. Er schluckte einen säuerlichen Gustus in seinem Munde, zweifellos ein Relikt des gestrigen Opiumkonsums, hinab und griff gedankenverloren nach dem Becher, welcher Morgen für Morgen ihm unermessliche Labsal erschaffte und nahm einen Schluck kühlen, klaren Wassers.