Beiträge von Manius Flavius Gracchus Minor

    Nachdem Patrokolos den Raum verlassen hatte, lehnte Manius Minor sich gegen die mit langen, rechteckigen Flächen dekorierte Wand. Die Entscheidung, das gemeinhin mit höchstem Aufwand und intensivstem Disputieren Bestimmen des ersten Wunschamtes schlicht den Imponderabilien des Zufalls zu überlassen, erfüllte ihn mit einem Gefühl grimmigen Triumphes gegen das ridikulöse Possenspiel, welchem sein Vater ihn zu unterwerfen gedachte.


    Indessen wurde ihm schlagartig gewahr, dass der Wille zur reinen Akzidenz doch die Extinktion gewisser Determinanten bedurfte, insonderheit, so er sich just eines Astragals, jenes Symboles der in den Augen gestrenger Staatsdiener liderlichen Lustbarkeit und Pflichtvergessenheit, als Entscheidungshilfe bedienen wollte. Denn obschon der Astragal gemeinhin über vier Würfelseiten verfügte, die traditionell die Werte Eins, Drei, Vier und Sechs bedeuteten, hier jedoch formidabel auf die vier zur Disposition befindlichen Ämtern umzuwidmen waren, so war die stochastische Verteilung ihres Auftreten überaus ungleich: Fast sämtliche Würfe offenbarten die beiden größeren Seiten, während höchst selten eine Eins oder Sechs das Resultat darstellte. Somit implizierte die Zuordnung der Ämter bereits eine gewisse Präferenz, welche wiederum das potentielle Ergebnis präfigurierte.
    Da er selbst wie auch Patrokolos beide in gewisser Weise prädisponiert sein mochten, beschied der junge Flavius endlich, dass er eines unbeteiligten Dritten bedurfte, um tatsächlich jedwede Beeinflussung des Resultates zu vermeiden. Kurzerhand erhob er sich deshalb und folgte dem Weg seines Sklaven zur Tür, öffnete sie und spähte hinaus. Eine zufällig passierende Person würde für seine Zwecke adäquat sein (sofern es sich nicht um seinen Vater oder einen seiner Anverwandten mochte handeln).


    Eine Weile verharrte er so, den leeren Flur betrachtend, ehe endlich ein junges Mädchen roten Haares um die Ecke bog, augenscheinlich dem Gesinde des Hauses zugehörig, doch anhand ihres Ganges und ihrer Silhouette dem flavischen Jüngling nicht identifikabel, was nahelegte, dass es sich um eine neue Dienerin des Hauses handelte, welche in den letzten beiden Jahren in den Besitz der Familia Flavia Romae war gelangt.


    Manius Minor räusperte sich.
    "Du, hast du einen Augenblick Zeit?"
    , fragte er, um nicht einer in dringlichen Obliegenheiten operierenden Sklavin den Zorn des Maiordomus zu bereiten.

    Ratlos saß Manius Minor inmitten seines neuen Officium, welches Manius Maior ihm zur Präparation seiner Kandidatur hatte überlassen, in weiser Antizipation eines Reüssierens bei den Wahlen unweit des Atrium gelegen, um dortig im folgenden Amtsjahr residieren und Bittsteller empfangen zu können. Vor den Erfolg hatte die Mos Maiorum indessen die Mühe gesetzt und obschon seit Tiberius' Zeiten das Volk nicht mehr an der Amtsbesetzung partizipierte, bedurfte es noch immer eines engagierten Wahlkampfes, um auch nur zum Vigintivirat erkoren zu werden. In jener Situation also sah sich der junge Flavius an jenem Morgen, einen Becher Weines und einen Opiums auf dem Beistelltischlein zu seiner Rechten, seinen Patrokolos zur Linken parat, um eine Strategie zu ersinnen, welche ihm gestattete seinen Vater zu saturieren und die erste Stufe jener Treppe, die zu erklimmen ihm als gänzlich müßiges Unterfangen erschien, zu erreichen.
    "Um welches Amt möchtest du dich nun bewerben, Domine?"
    , fragte der Diener und der melancholische Herr erwiderte:
    "Auf keines, Patrokolos."
    Patrokolos seufzte.
    "Wir sind es bereits unzählige Male durchgegangen: Du hast dich entschlossen, deinem Vater zu gehorchen, jetzt musst du die Konsequenzen tragen. Wir waren doch überein gekommen, dass sie weitaus besser sind als die Alternative."
    In der Tat hatten die beiden lange Zeit das Schicksal des Jünglings disputiert, hatte Manius Minor sein Schicksal beklagt und Patrokolos sich gemüht, die Depression seines Herrn zu mindern, indem er die Alternativlosigkeit seines Entschlusses in schillerndsten Farben hatte präsentiert. Auch nun, obschon bereits vielfach bemüht, rekurrierte er auf jene Taktik:
    "Du musst dich mit deinem Schicksal arrangieren, so sehr es dir jetzt Schmerz bereiten mag. Denk an Horatius, den Dichter, der ebenfalls dieses Amt bekleidete und doch seiner Philosophie treu blieb."
    In der Tat hatten die beiden erkannt, dass Epikurs Lehre durchaus auch populäre Römer in ihren Bann hatte gezogen, welche deshalb mitnichten gänzlich politisch abstinent waren geblieben, obschon Horatius Flaccus nach dem Vigintivirat seine Karriere beendet hatte.
    "Welchen Nutzen bringt mir mein kleinmütiges Parieren? Nur neue Dependenzen, neuen Schmerz..."
    Gedankenverloren fixierte der Jüngling das ihm verschwommen erscheinende Muster des Bodens.
    "Es bereitet dir die Option, dein Leben in anderer Weise zu genießen. Betrachte dein politisches Engagement als notwendiges Übel. Da du dein Glück nicht daran hängst, wird es dir wohl kaum schaden. Und sobald dein Vater verstorben ist, wirst du alle Freiheit der Welt genießen!"
    Manius Minor seufzte. Patrokolos' Worte entbehrten mitnichten einer gewissen Logik, hatten ihn bisweilen in den vergangenen Tagen durchaus getröstet. Dennoch blieb der schale Geschmack des Verrates, der Inkonsequenz und der Imperfektion in seinem Streben nach vollkommener hedone. Er schwieg daher zu jener Adhortation, ehe Patrokolos seine Frage repetierte:
    "Welches Amt also, Domine? Wenn die Senatoren dich fragen, musst du antworten, sonst fliegt dein Unwille sofort auf!"
    Auch jene Worte leuchteten dem Jüngling immediat ein, da doch der Tradition gemäß jeder Candidatus eine Präferenz zu nennen, ja bisweilen seine Eignung für jenes spezifische Amt explizit zu illustrieren pflegte, obschon zuletzt selbstredend die Entscheidung dem Senat allein oblag, wer an welchen Platz war zu setzen.
    Gedankenverloren massierte er folglich seine Lippen, die einzelnen Ämter nochmalig reflektierend: Primär kam ihm jene Funktion in den Sinn, welche sein Vater, nicht nur aufgrund der nominellen Kongruenz ein Modell in sämtlichen öffentlichen Angelegenheiten, vor ihm hatte bekleidet:


    Die Decemviri litibus iudicandis waren angesehene Amtsträger, was sie dem jungen Flavius, der getreu Epikurs Lehren weder dem Ansehen, noch dem Umgang mit Vermögenswerten etwas mochte abgewinnen, nicht per se attraktiv machten, zumal die Materie ihrer Tätigkeit eine überaus trockene war, welche er bereits seit den ersten vorsichtigen Schritten mit Onkel Piso als kaum sonderlich inspirierend erachtete.
    In similärer Weise war auch die Straßenreinigung, das Metier der Quattuorviri viis in urbe purgandis, zu ponderieren. Kein Flavius hatte jemals dieses Amt bekleidet, zumal es zu jenen von geringerer Reputation zählte, dazu versprach eine Befassung mit Exkrementen und den Restanten anderer Leute kaum einen Gewinn von Lust.
    Mehr Aufregung offerierten hingegen die Obliegenheiten der Triumviri capitales, welche immerhin mit Kriminellen sämtlicher Coleur waren befasst, dazu Kontakte zu den Cohortes Urbanae wie den Praetoren pflegten. Dessenungeachtet erweckte dieses Amt Remineszenzen an den 14. Lehrsatz Epikurs, der da mahnte: Wenn auch die Sicherheit vor den Menschen bis zu einem gewissen Grad auf der Grundlage einer festgefügten Macht und auf der Grundlage guter wirtschaftlicher Verhältnisse gewährleistet ist, so erwächst doch die deutlichste Sicherheit aus der Ruhe und dem Rückzug vor den Leuten. Das Amt der Capitales war somit durchaus von Nutzen, zugleich verhieß die Verantwortung für den Vollzug capitaler Strafen wohl durchaus die diffuse Gefahr, von den Anverwandten und Freunden der Delinquenten die Verantwortung für das Verdikt selbst zur Last gelegt zu bekommen, similär wie gleichsam der Bote schlechter Novitäten häufig den Zorn des Rezipienten erntete.
    Blieben die Triumviri aere argento auro flando feriundo, welchen wiederum höheres Ansehen zukam, denen dafür jedoch ebenfalls das allzu technische Verfahren der Münzprägung oblag. Mochte es durchaus als kreativer Akt gelten, Münzbilder zur Verherrlichung des Kaiserhauses und politischer Heroismen zu erdenken, so blieb doch auch hier dem Epikureer die Insekurität einer allzu tiefen Verstrickung in die Spiele um Macht und Einfluss, welche gerade der direkte Kontakt mit dem Imperator (was dem Amt zweifelsohne seine Reputation verlieh) implizierte.


    "Nun?"
    , erweckte Patrokolos seinen Herrn aus den Gedanken.
    "Ich weiß nicht, ich vermag keinem der Ämter einen definitiven Vorzug zu geben. Jedes hat sein Für und Wider, zuletzt stoßen sämtliche mich gleichermaßen ab."
    "Du musst dich dennoch entscheiden."
    Der junge Flavius schlug enerviert mit den flachen Händen auf die Lehnen seines Stuhles.
    "Es erscheint mir gänzlich arbiträr, Patrokolos!"
    Die Verbalisierung des Wörtleins "arbiträr" genügte jedoch, ihm just in jenem Momente einen Ausweg aus der diffizilen Lage zu weisen, denn sofortig memorierte er das Glücksspiel, dem er im Kreise seiner Myrmidonen immer wieder hatte gefrönt, um geleitet von Fortunas Willen (respektive dem schnöden Zufall, wollte man Epikurs Lehre gerecht bleiben) gewisse Geldbestände der reichen Jünglinge umzuverteilen, wobei insonderheit Dionysios für seine gewaltigen Auslagen nicht selten war entschädigt worden.
    "Hole mir meine Astragaloi! Wir werden würfeln, welches Amt ich nennen werde!"
    Selbstredend verfügte Manius Minor seit frühester Kindheit über güldene Kopien vierer Hammelsprungbeine, mit denen Hellenen und Quiriten gleichermaßen Geschicklichkeits- und Glücksspiele zu treiben pflegten. Zwar hatte er sie in Alexandreia nicht bei sich gehabt, doch mussten sie, wie er vermutete, noch immer in seiner alten Camera Ludi verwahrt sein, so Titus sie nicht mit in sein neuerliches Exil mochte genommen hatte. Selbst in diesem Fall würde es Patrokolos indessen ein Leichtes sein, similäre Varianten jener so verbreiteten Spielgeräte zu beschaffen.


    Tatsächlich hatte der Sklave augenscheinlich kapituliert, denn mit einem resignativen
    "Gut."
    , ging er von dannen und ließ seinen Herrn zurück.

    Konträr zu Manius Maior hatte Manius Minor den vergangenen Tag vornehmlich im Schlafe, respektive Delirium verbracht, denn nachdem Patrokolos von seinem Einkauf war zurückgekehrt, im Beutel eine formidable Menge feinsten Mohnsaftes, hatten die beiden Heimkehrer sich dem Rausche ergeben und sich tapfer gemüht, das Leid ihres Daseins in der süßen Indifferenz des Morpheus zu ertränken. Auch die Übelkeit, welche einem derartigen Konsume folgen musste, hatten sie einsam verbracht, zumal den jungen Flavius im Afterrausch ohnehin kaum der Hunger quälte, sodass sie schlicht durch die Rezitation vertrauter Geschichten im Cubiculum sich von ihrem Elend abzulenken versucht hatten. Obschon bisweilen sie durchaus sich durch versonnenes Schwelgen in der vergangenen Libertät oder müßiges Klagen über die desolate aktuelle Situation hatten unterbrochen, war die Zukunft niemals zur Sprache gekommen, weshalb der Jüngling ertappt aufblickte, als sein Vater ohne Gruß und Introduktion seine politische Karriere thematisierte.
    "Nun..."
    , stammelte er, parallel nach Ideen ringend, wie jene Frage spontan am besten war zu parieren, was ob der langen Abstinenz vom Interesse für politische Aktivitäten kein Leichtes war.


    Fortunablerweise erschien in jenem Augenblick sein Vetter Scato und bereitete ihm einen leutseligen Empfang. Seine Appelle vor Jahren gänzlich vergessend erfreute es ihn tatsächlich, den Bruder Iullus' wohlauf zu sehen, obschon er argwöhnte, dass letzterer größeres Verständnis für seine jüngsten Lebensentscheidungen hätte aufgebracht als sämtliche Attendenten.
    "Danke, die Quaestur dir augenscheinlich ebensowenig!"
    , erwiderte er artig, jene Maßstäbe thematisierend, welche ihm selbst nichts, den übrigen Flavii dagegen alles bedeuteten.


    Verstohlen wandte er seinen Blick neuerlich zu Manius Maior, der indessen unverwandt ihn anblickte und augenscheinlich einer Replik gewahrte.
    "Nun."
    , setzte er aufs Neue an und fuhr bedächtig sich über das Kinn.
    "Ich bin zu dem Schluss gelangt, dass dies umsichtiger Planung bedarf."
    Ein kläglicher Anlauf für den Gewinn von Zeit, während fieberhaft er zu reminiszieren versuchte, welche Formen des Wahlkampfes für das Vigintivirat mochten adäquat erscheinen.

    Kaum eine Stunde, nachdem Manius Minor die Urbs hatte betreten, fand er sich nach dem frostigen Empfang in seinem angestammten Cubiculum wieder. Ignorierend, dass selbiges in der Zeit seiner Absenz sorgsam unterhalten und gepflegt worden war und lediglich hier und dort einigen Staub hatte angesetzt, wie uneingedenk des Umstandes, dass im Cubiculum seines Vaters eine similäre Situation sich ereignete, warf er sich, den mahnenden Patrokolos auf den Fersen, direkt auf das Bett, versenkte sein Haupt in die zahlreichen Kissen und ließ ein erbärmliches Seufzen vernehmen.
    "Was soll ich nur tun?"
    , erklang seine jämmerliche Stimme, gedämpft durch die weichen Kissen.
    "Nun erhole dich zuerst von deiner Reise."
    , erwiderte der Sklave und nahm auf der Kante des Bettes seines Herrn Platz. Aus den Kissen erklang erneut die Stimme des Jünglings:
    "Beschaffe mir Opium, Patrokolos! Ich bedarf dringend der Ermunterung!"
    In der Tat schien die Desillusion ob seines Verrates an der Sache Epikurs sich von Augenschlag zu Augenschlag zu steigern, aggravierte sich zu gänzlicher Desperation, welcher lediglich die Erregung durch den Saft des Mohnes Linderung zu bieten versprach. Obschon jener Schub an Frohsinn jedweder rationalen Grundlage entbehrte, war nämlich die Wirkung indiskutabel, gebahr, so nicht Elation doch zumindest jene wohlige Passivität, welche eine Indifferenz gegen sämtliche Unpässlichkeiten des Daseins evozierte.
    "Wo sollte ich das denn hernehmen?"
    , fragte Patrokolos ein wenig irritiert zurück, doch ohne den Kopf aus dem Tumulus aus Kissen zu erheben, winkte der junge Flavius enerviert ab.
    "Egal! Eile dich nur!"
    Die Inkompetenz seines Dieners verärgerte den Jüngling zusätzlich zu seiner ohnehin misslichen Lage. In Alexandreia war der Konsum von Opium keineswegs eine Partikularität gewesen und, obschon in früheren Tagen jenes Produkt kaum sein Interesse hatte geweckt, so zweifelte er nicht, dass auch in Roma auf jedem größeren Markt ein Fernhändler derartiges offerierte.
    Doch zumindest resignierte Patrokolos nach jener zürnenden Reaktion seines Herrn und erhob sich ächzend.
    "Ich werde sehen, was sich tun lässt."


    Manius Minor blickte auf und verfolgte den sich klarifizierenden Schemen, welcher sein Cubiculum durchquerte und endlich hinter der Tür verschwand, um einsam ihn zurückzulassen. Allein mit seiner Scham ob der verratenen Ideale seiner Philosophie, seiner Panik ob des mangelnden Opium-Spiegels in seinem Leib und seiner Desillusion ob jenes grässlichen Einstandes in seiner Heimatstadt und Familia, welche so fremd ihm war geworden...

    Kaum ein Jahr nach dem Consulat Manius Maiors ließ Manius Minor wider sein Gewissen die Proklamation einer Kandidatur im Hause des Consul überreichen:

    Consul Lucius Publilius Celsus
    [Haus des Consuls]
    Roma


    M' Flavius Gracchus Minor Consuli s.d.


    Für die kommenden Wahlen zum Cursus Honorum gebe ich, Manius Flavius Gracchus Minor, Sohn des Manius Flavius Gracchus, meine Kandidatur für das Amt des Vigintivir bekannt. Ich bitte Dich ob dessen, meinen Namen auf der entsprechenden Kandidaturenliste zu vermerken.


    Vale bene!

    http://www.niome.de/netstuff/IR/SiegelCaduceus100.png


    [Blockierte Grafik: http://s1.directupload.net/images/131110/noakoh4f.png]

    Kaum hatte er den Beschluss formuliert, reute ihn selbiger, wünschte er ihn zu revidieren. Doch war das Wort gesprochen und seine Subordination unter jene irrsinnige Logik der Tradition besiegelt. Die spärliche Reaktion seines Vaters aggravierte jenen Schmerz nochmalig, da doch ihr war zu entnehmen, dass Manius Maior nichts anderes hatte erwartet, als dass Manius Minor niemals denn Mumm würde aufbringen, seinen Idealen Konsequenzen folgen zu lassen.


    Inkapabel, weiters seinem Vater die Stirn zu bieten, entschied er final, dessen Offerte zu akzeptieren und jener undelektablen Situation zu entfliehen. Er würde dringlich einen Schluck Opium benötigen, um jene grässlichen Geschehnisse zu verarbeiten!


    "Ja, Vater."
    , replizierte er folglich und wandte sich zu Patrokolos, um selbigem einen Gestus des Aufbruchs zu präsentieren. Indessen erwartete er nicht habituellen Kommentare zur Beschaffenheit des Weges, sondern trat sogleich seinen Weg zu der gewiesenen Tür an, da selbige Route im parentalen Hause ihm doch wohlvertraut erschien.
    Deplorablerweise war ihm in den Jahren der Absenz jedoch eine Barriere, nämlich die sublime Marmorleiste, welche Atrium und Durchgang trennte, entfallen, sodass nunmehr selbige seinen Fuß bremste und ihn zum Straucheln brachte.


    Beschämt von der neuerlichen Offenbarung seiner Inkapabilität welche hier konträr zum Myrmidonenzirkel als durchaus gravierend wurde erachtet, verließ er endlich das Atrium und ließ seinen Vater einsam zurück.

    War Manius Maiors Mimik im Laufe seiner Stegreifrede ob der luminösen Umstände der vorgerückten Tageszeit entgangen, so offenbarte sich seine Haltung in einer Explosion, welche Manius Minor höchst selten (womöglich seltener als die Umarmungen seines Vaters) hatte vernommen und ihn unwillkürlich seinerseits eine Schritt mehr Distanz zwischen sich und den Vater bringen ließ.
    Der Eruption folgten sodann Lavaströme von Worten und Akkusationen, welche förmlich sich in den Geist des Jünglings einfraßen und brennenden Seelenschmerz ihm evozierten. Mochte die Insinuation der Blasphemie noch an dem Schirm epikureischer Gelassenheit ob der Uneinsichtigkeit leerer Meinungen abperlen, so schmolz selbiger recht rasch vondannen, als seines Vaters brutale Wahrheiten viskoser Magma gleich sich ihren Weg in seinen Verstand bahnten und ob der beständigen Iteration stets neu befeuerter Explikationen niemals einen Ansatz offerierten, eine neuerliche Defension zu ersinnen. Denn was mochte er der These entgegen stellen, dass seine Meriten nichts denn Nihilitäten waren, der Käfig, in welchem er seit frühester Kindheit sich wähnte, doch zumindest güldener Natur war gewesen, stets alimentiert nur mit dem exquisitesten Futter und dem süßesten Trunk, welchen die Analogie von Nektar und Ambrosia durchaus trefflich beschrieb? Zweifelsohne ruhte jener Wohlstand auf der Leistung seiner Ahnen und Familiaren, keineswegs auf seinem eigenen Verdienste!
    Während der junge Flavius noch zum Spintisieren ansetzte, was Epikur auf jene Vorhaltungen wohl mochte erwidert haben, konfrontierte der ältere ihn jedoch sogleich mit einer fatalen Alternative, deren Introduktion noch ihm die Hoffnung weckte, seinem Wunsch werde trotz aller Uneinsicht stattgegeben, so er ihn nur in sämtlicher Konsequenz erwählte. Doch spätestens mit der Versagung auch nur eines einzigen Sklaven (folglich selbst seines geliebten Patrokolos, den Vindex zwar ihm zum Präsent mochte gemacht haben, welcher dessenungeachtet jedoch seinem Gewalthaber, dem flavischen Pater Familias automatisch war zueigen), ja des Kleides am Leibe zerstob jedwede Hoffnung auf eine glimpfliche Rettung seiner Situation in flüchtigen Rauch.
    Der andere Pfad, welcher ihm in nicht minderer Detailliertheit wurde offeriert und all dies implizierte, was er in den letzten Jahren zu verabscheuen, ja zu abhorrieren hatte gelernt, zog weitaus uneindrücklicher an ihm vorbei, komprimierte sich zu einer obskuren Alternative der Maskerade tugendhafter Wohlanständigkeit, einem Dasein gleich jener Marionetten, welchen er als Knabe bei den Puppenspielern so gerne hatte applaudiert.


    Am Ende stand ein gleichsam finales Wort im Raume, eine Obligation zur Entscheidung fundamentalster Tragweite, ja zweifelsohne die größte in dem doch so knappen Leben des jungen Flavius. Dass sein Vater mitnichten zu scherzen beliebte, war ob der Vehemenz jener Philippica nämlich durchaus evident, da die familiare Damnatio memoriae keineswegs war so vollkommen, dass jedem Flavius nicht eine Handvoll jener mit ihr geschlagenen Anverwandten war ebenso bekannt wie das Grauen ihrer kümmerlichen Existenz. Hinzu trat die Ästimation seiner Lage, der Hass seiner Stiefmutter, welcher jene Verbannung den absoluten Triumph mochte erbieten, womit ob ihres giftigen Einflusses es kaum war zu erwarten, dass Manius Minor sein Verdikt jemals würde revidieren.


    Es galt somit wohl zu ponderieren, ehe er seine Decision präsentierte, was indessen eine den Jüngling geradezu überwältigende Masse an Faktoren und Extrapolationen abverlangte, weshalb für einen Augenschlag er ernstlich erwog, sich einige Tage des Bedenkens auszubitten. Doch hoffnungslos erschien ihm endlich jene infantile Hoffnung auf Gnade, wo selbige nicht mehr war zu vermuten, sodass endlich er sich doch jenen Alternativen musste zuwenden, welche die Fundamente seiner Existenz selbst betrafen:
    Vor ihm lag der Verrat an all dem, was seine Ratio hatte erkannt, sein Herz erstrebte und seine Experienz Tag für Tag als dergestalt beglückend hatte erfahren, wie der große Epikur es ihm verhieß. Hinter jener Pforte blühte nichts weniger denn ein toxischer Fungus, dessen Mycel zutiefst in die Irrtümer vordergründiger Tugendhaftigkeit und serviler Gottesfurcht sich verzweigte, um aus ihnen sich stets aufs Neue zu beleben und die Früchte eitler Ruhmsucht, substanzloser Arroganz und neidvoller Missgunst hervorzubringen, welche schon so viele Generationen der Flavii, Claudii, Iulii und sämtlicher Geschlechter jener Stadt hatten vergiftet.
    Hinter ihm bot sich indessen eine Option, welcher ihrerseits keineswegs desirabel mochte erscheinen, denn obschon sie ihm versprach, für die Wahrheit, welche immerhin selbst Manius Maior ihm als dritte Maxime des klugen Handelns hatte empfohlen, Zeugnis abzulegen und den Dogmen seiner Schule getreu zu bleiben, so verdammte sie ihn zugleich zu einem Martyrium horriblen Ausmaßes: Mochte er an Bord jener Corbita den Verzicht auf die Annehmlichkeiten aristokratischen Lebenswandels mit epikureischer Seelenruhe ertragen haben, so ängstigte ihn doch die dauerhafte Entsagung all jener kleinen Freuden des Alltags, jener köstlichen Speisen und behaglichen Stoffe auf dem Leibe, nicht wenig, erschloss sich ihm ganz neu jener 26. Lehrsatz, den zu beherzigen der Kreis der Myrmidonen so sträflich hatte negligiert: Alle Begierden, die nicht zu einer Schmerzempfindung führen, wenn sie nicht befriedigt werden, sind nicht notwendig, sondern erzeugen ein Verlangen, das leicht zu vertreiben ist, wenn es sich erweist, dass sie auf schwer Beschaffbares oder gar Schädliches zielen.
    Nun indessen hatte er die Konsequenzen seines nachlässigen Lebens zu tragen, musste er schamhaft erkennen, dass zwar durchaus theoretisch ein armer Bettler das glückseligste Wesen auf dem Erdkreis mochte werden, so er nur konsequent die Ratschlüsse des großen Philosophen respektierte, dass jedoch praktisch er in weiter Ferne von einem Stadium der Freiheit von all sämtlichen nicht notwendigen Begierden sich befand, ganz gleich ob diese natürlicher oder unnatürlicher Provienz waren. Dessenungeachtet erschien es ihm gänzlich impossibel, sich auch nur jene natürlichen und notwendigen Begierden wie das täglich Brot mit eigner Hände Arbeit zu erwerben, was ja bereits seine Flucht aus dem Hause des Sulpicius hatte prohibiert, zumal nunmehr man ihn gar seines extendierten Augenlichtes, seines besten Freundes und Dieners Patrokolos wollte berauben, womit selbst das simple Wandeln in den unebenen, von inantizipablen Löchern und Kanten übersäten Straßen Romas zum Spießrutenlauf sich würde entpuppen.


    All dies mochte den Weisen im geringsten Maße nicht tendieren, doch hatte der junge Flavius nach eifrigem Spintisieren und Erwägen dennoch zu konzedieren, dass mitnichten er ein derartiges Stadium der Ataraxie hatte erreicht, um sämtliche Brücken in das Leben jener Sklaven leerer Meinungen zu durchtrennen und der reinen, indessen freilich nackten Philosophie sich anzuvertrauen.
    "Ich..."
    , erwiderte der Jüngling so nach endlos langem, eisigem Schweigen, um sogleich aufs Neue zu verstummen, da noch immer ihm sein Beschluss aufs Äußerste widerstrebte, ja als Verrat an der Freundschaft seiner Myrmidonen, seiner Vernunft und seines Herzens erschien.
    Dem gespannten Warten Manius Maiors vermochte er indessen nicht länger zu resistieren und so presste er, der Abscheu vor dem eigenen Handeln klagend Ausdruck verleihend, seine Kapitulation verhalten hervor:
    "Ich wähle die Pflicht."

    Voller Unrast erwartete Manius Minor Manius Maior gleich die Eröffnung des Schreibens, obschon in weitaus geringerem Maße sich irriger Imaginationen ob seines Inhaltes hingebend, sodass, als endlich Sciurius mit der Rezitation ansetzte, er lediglich dieses konfirmiert vorfand, was ohnehin er hatte erwartet. Fortunabel erschien es ihm indessen, die Missinterpretationen seines Gastgebers, jenen Nonsens basierend auf einem unermesslichen Fundus leerer Meinung, wortwörtlich nun zu kennen, um jenes inevitable Zerrbild seines Aufenthaltes zu Alexandria in adäquater Weise zu korrigieren.
    Dennoch schreckte ihn für einen Augenschlag, als der ältere Gracchus von ihm sich wandte, was ihm, obschon die Mimik seines Opponenten ihm war verschlossen, dessen Entrüstung eröffnete, sodass das initiale Wort Manius Maior mochte ergreifen. In der Tat konfirmierte auch hier sich die antizipierte Reaktion, da die leeren Meinungen in Aegyptus letztendlich, wie sein Traum ihm einst hatte trefflich klarifiziert, nicht im Geringsten von jenen in der Urbs differierten, das defekte Maß der Ponderation ethischen Handelns des Sulpicius dasselbe musste sein wie das des älteren Flavius. Doch die Präparation der langen Reise hatte ihn gegen die Akkusationen, welche nunmehr aus dem maiorischen Munde hervorquollen, trefflich imprägniert, ja gar seine Rebellion neuerlich entfachten, da jene finale Imputation des Egozentrismus schlussendlich nichts anderes repräsentierte als die zentrale Maxime seines neuen Lehrers und Seelenheilers. Aus seinen Worten klang somit der Starrsinn reflektierter Opposition, als er zu seiner Defension anhob:
    "Vater, höre mir zu: Ich bin zu einer Einsicht gelangt, welche all dies trefflich mag erklären."
    Obschon mit größter Sekurität formuliert, war der Jüngling genötigt bei jenen Worten sich der Narrationen des Sulpicius hinsichtlich ihres weibischen Auftritts coram publico zu erinnern, was selbst damalig ihm als konfidentem Jünger Epikurs war evitabel und provokativ war erschienen, weshalb für einen Augenschlag die Renitenz zu brechen drohte.
    Sodann jedoch ergriff er, der Remineszenz seiner Konversion, basierend auf der freien Einsicht in die geradehin evidenten Fügungen des Kosmos, neue Kräfte extrahierend, das Wort aufs Neue:
    "Die Worte von Sulpicius sind wahr: In der Tat wurde ich Teil eines Philosophenzirkels. Wahr ist es auch , dass Tugenden und der Cultus Deorum uns im geringsten nicht tangierten. Ich leugne ebenso mitnichten, dass ich das Museion in den letzten beiden Jahren höchst selten frequentierte und der Erwerb der Wissenschaft mir wenig erstreblich noch erschien."
    Trutzig streckte er den Rücken wie sein Kinn, um seinem Erzeuger nicht lediglich verbal, sondern auch korporal die Stirne zu bieten.
    "Doch vermag ich diesen Sinneswandel durchaus zu explizieren. Denn keineswegs fußte jenes Leben auf Gedankenlosigkeit und Impertinenz, sondern vielmehr auf einer höheren, befreienden Einsicht, welche eben ich beim fleißigen Studium am Museion hatte erlangt. Eine Diploma gibt Zeugnis von meinem eifrigen Studium der Lehren Epikurs, jenes Seelenarztes, welcher meine Perspektive gänzlich wandelte:
    Denn was, so frage ich, bereitet uns das Zittern vor den Göttern und das vordergründige Zelebrieren von Tugend und Anstand? Schmerz der Askese in der Gegenwart, Reue über versäumte Obliegenheiten in der Vergangenheit, Furcht vor der Rache und dem Versagen in der Zukunft!
    Dementgegen öffnete Epikur mir die Augen für die wahren Qualitäten des Lebens: für die Lust am Leben, für wahre Freundschaft und das Gestalten des Tages nach eigenem Gusto.
    Weder Ruhm, noch Wissenschaft erlangte ich in größerem Maße auf meiner Studienreise. Doch im Übermaß fand ich Freude, Frieden und Glück, wie ich niemals es in all meinen Tagen, weder beim Studieren, noch im Dienst als Minister oder wohldressierter Sprössling einer altehrwürdigen Familie empfand! Jene 'Emporkömmlinge'-"

    Missbilligend formulierte er jenes Wort, welchem Cornutus in seiner Epistel sich hatte bedient, um die Myrmidonenschar zu desavourieren.
    "-sind niemand geringeres als jener Kreis, welcher mir den Wert wahrer Freundschaft zeigte und in welchem ich Freude und Akzeptanz erfuhr, wie es in diesem Hause niemals der Fall war gewesen!"
    Konfirmierend streckte er den Digitus Salutaris von sich und stieß akkusativ ihn abwärtig, als vermöge jener Stoß ins Leere seine Argumentation in den Hallen der Villa Flavia Felix zu verankern. Zugleich wurde ihm jedoch gewahr, dass jene Formulierung womöglich war zu offendierend, weshalb rasch, als habe er mit jenem Gestus einen Dorn punktiert, er die Hand revertierte und hinter seinem Rücken verbarg.
    Das Wort war indessen gesprochen. Folglich fuhr er, kaum hatte er ein wenig sich gesammelt, mit seinen präparierten Plänen fort und sprach:
    "Mitnichten kann ich von dir erwarten, dass du meinen Weg und meine Einsichten teilst, obschon mir dies auch für dich als glückverheißende Option mag erscheinen. Dennoch steht mein Entschluss fest, so fest wie nichts in meinem jungen Leben: Ich will keinen Anteil erhalten am eitlen Ringen um Macht und Ansehen in dieser Stadt. Der Latus Clavus-"
    Er fuhr über den purpurnen Saum seiner Tunica, welche wohlweislich er heute morgen in Konsideration eines versöhnlichen ersten Eindruckes hatte gewählt.
    "-ist mir so viel wert als die Lumpen, unter welchen wir uns einst aus diesem Hause stahlen. Mich kümmert nicht, ob einst, wenn mein Leib in unzählige Atome ist zerfallen, mein wächsernes Abbild unser Lararium ziert und meine Familiaren dazu gemahnt, an jenem irrwitzigen Wettlauf der Ehren zu partizipieren."
    Wieder zückte er den Finger und wies auf jene Flucht des Atrium, hinter welcher der flavische Familienschrein mit der langen Reihe consularer, praetorischer und aedilizischer Imagines sich wiederfand.
    "Mein Leben soll nichts geringeres und nichts mehr als glücklich sein.
    Du magst dich deiner consularen Ehren erfreuen und es beglückt mich, so sie dich beglücken. Dennoch bitte ich dich inständig, meinen Weg ebenso zu akzeptieren und mir all jene Qualen des öffentlichen Lebens zu ersparen. Nicht mehr wünsche ich mir als Ruhe und die Freiheit, ein zurückgezogenes Leben gemäß den Lehren Epikurs zu pflegen."

    Neuerlich die Eskapaden seiner Getreuen in femininen Ornaten wie den Zorn, welchen jenes Faktum bei dem Sulpicius hatte evoziert, memorierend, fügte er, ästimiert als versöhnliche Offerte in der Logik eines Gefangenen der leeren Meinungen hinzu:
    "Womöglich wäre es das Beste, wenn du mir schlicht eines deiner Landgüter würdest anvertrauen, wohin ich mich mag retirieren, sodass du ungestört von dem meinigen und ich ungestört von dem deinigen Weg mein Dasein mag fristen."
    Ein Hauch von Insekurität mischte sich unter jene spontanen Worte und zuletzt verstummte der junge Flavius zaghaft, im Geiste angelangt bei jenen allzu lange verdrängten Remineszenzen an jene Szene im Cubiculum seiner Mutter, als Manius Maior ihm die Vaterschaft hatte aufgekündigt. Heute nun stand er hier, um seinem Erzeuger eben jene Option in gangbarer Weise zu offerieren. Von sekundärer Qualität waren nun einmal die Relationen familiarer Natur, welche, da nicht willkürlich ersonnen, nicht stets unter glücklichen Augurien mochten stehen. Epikur hatte indessen ihn gelehrt, dies zu begreifen und schlicht zu akzeptieren, was in seinem Geiste die emotionale Konfusion aufs Neue zu kalmieren vermochte, sodass zuletzt ein zaghaftes Lächeln er präsentierte, als er seinem Vater offerierte, jenen vermeintlich sehnlichsten Wunsch, nämlich Titus oder besser noch der Brut jener Natter an seiner Seite das flavische Erbe zu vermachen, aus freien Stücken zu erfüllen.

    "Dat kann jo hoiter wer'n."
    , kommentierte der Kapitän, welcher mit größtem Interesse die Pracht der Villa Flavia Felix inspizierte, während der junge Flavius seinerseits nun doch ein wenig an Kleinmut verspürte, da zweifelsohne in jenem Augenschlage die Kunde seiner Ankunft die Familiaren erreichte, womit die Konfrontation mit ihm, zugleich jedoch dem Briefe Sulpicius' akut bevorstand. Sein Blick schweifte über die Bildnisse der flavischen Imperatoren, welche allzu deutlich demonstrierten, dass die Lehre Epikurs in diesem Hause niemals zu den favorisierten hatte gezählt, ja Politik und Ruhmsucht einen Pfeiler jener Familie mochten repräsentieren, was das Unverständnis seiner Anverwandten hinsichtlich des neuen Weges, welchem zu folgen er gedachte, bereits androhte.


    Als dann jedoch Manius Maior eintrat, ihn gar, was stets eine Exzeption in der paternalen Relation war gewesen, herzte und sodann freudestrahlend ihn begrüßte, präsentierte Manius Minor seinerseits ein erfreutes Lächeln, da doch, obschon sein Erzeuger nicht selten ihm hatte Trauer und Frust bereitet, er noch immer sein Vater und nächster Blutsverwandter blieb.
    "Ich bin wohlauf, besten Dank."
    , replizierte er erstlich die letzte Frage, sämtliche weitere aufschiebend, um nicht, was nun unentrinnbar ausstand, dem Briefe vorzugreifen und seinen Vater noch tiefer zu erschüttern, als dies zweifelsohne ohnehin ausstand.
    "Dea Brief is' hia!"
    , intervenierte in der Tat in jenem Augenblicke bereits der Kapitän und präsentierte die Papyrusrolle, auf welcher sorgsam appliziert das wächserne Siegel des Sulpicius Cornutus prangte, lediglich an den Rindern ob des Transportes leicht beschädigt, doch im ganzen immer noch intakt.

    Nachdem in Manius Minor die Einsicht war gereift, dass die familiare Konstellation keineswegs zwingend sein Verderbnis mochten bedeuten, ja vielmehr all das, was bisherig ihn mit Abscheu hatte erfüllt und noch erfüllte, womöglich gar der Schlüssel aus jenem leichtlich zu antizipierenden Kerker sozialer Obliegenheiten wie müßiger Okkupationen für Senat und Volk von Rom mochte bedeuten, da Aurelias Pläne doch logisch mussten implizieren, ihn aus der Erbfolge der Flavii Gracchi auszumerzen, was, wie schon bei seiner Abreise gen Orient ihm war bekannt gewesen, ja bereits sein Verweis ins apolitische Exil hatte konfirmiert, war ihm die Reise gen Rom weitaus unbeschwerlicher gefallen, ja er hatte gar eine stupende Gleichmut angesichts sämtlicher Misslichkeiten evolviert, mochten sie den Komfort seines Nachtlagers, die Ennuyanz der stets gleichförmigen See oder die bisweilen ihn bei hohem Wellengang befallende Blümeranz betreffen.
    Auch der heutige Morgen, da er an der Seite des Kapitäns erstmalig nach nunmehr zwei Jahr wieder italischen Boden hatte betreten, dominierte vorsichtiger Optimismus seine Haltung, weshalb in juvenilem Übermut er gar darauf hatte verzichtet, sich für das nunmehr anstehende Rendezvous mit seinem Erzeuger zu präparieren, ja selbst, wie in den ersten Tagen auf See zu spintisieren, welch unwahre Monströsitäten Sulpicius in seinen Brief mochte gebannt haben. Stattdessen hatte er den Beschluss gefasst, schlichtweg der Dinge zu harren, welche da kommen mochten, und jener Prämisse aus den Lehren seines Vaters, welche nach der radikalen Kritik Epikurs verblieben war, zu folgen, die gleichsam das zentrale Begehren jedes Philosophen repräsentierte.


    In jener positiven Verfasstheit hatte er gar, kaum hatte er die Urbs durch die Porta Ostiensis betreten, sich genötigt gefühlt zu konzedieren, dass mitnichten, wie noch er vor Tagen hatte lamentiert, Alexandria, sondern Roma seine Heimat war. Obschon höchst selten er als Knabe die äußeren Bezirke jenes Monstrums hatte erkundet, so erschien ihm doch auf Schritt und Tritt Neues Vertrautes zu begegnen, mochte es um die irreversible, grässliche Mundart der Subura, welcher sich die zahllosen Hausierer in der ganzen Stadt bedienten, der Odeur der Cloaca maxima, verbunden mit dem identitären Duft der römischen Garküchen, eine bekannte Straßenkreuzung mit dem Schrein der Lares hospitales jenes Quartiers oder ein repräsentatives Bauwerk sein: Trotz aller Unbill, welche diese Stadt konfrontiert mit dem Centrum des Ostens ihm unablässig hatte bereitet, blieb dies seine Heimat, so er dies erstrebte oder nicht.


    Durchaus beschwingt war somit seine Verfasstheit, als nach am Abend des Tages seiner Ankunft er endlich die Pforten der Villa Flavia Felix passierte, dabei den Ianitor in höchste Irritation versetzend, den in Aegyptus gewähnten Erstgeborenen schlagartig vor sich zu haben, um sodann im Atrium die Begrüßung durch die zweifelsohne in höchstem Maße konfundierte Familia zu erwarten.

    ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~


    Ein wohliger Schauer durchfuhr ihn, nachdem er von der köstlichen Milch des Mohnes hatte gekostet, denn sogleich verspürte er jene Hitzewallung, welche nicht selten an der Pforte ins Reich der Glückseligkeit stand. Er reichte den Becher weiter an seinen Nebenmann, sodann wandte er sich neuerlich der Tänzerin zu, welche eifrig sich ihrer Reize bedienend durch die Reihen der verstreuten Klinen tänzelte, stets lasziv sich zum Rhythmus der Musik bald hierhin, bald dorthin räkelnd, ehe sie schließlich vor seinem Antlitz verharrte, um ihm allein sich im Rausche des Tanzes hinzugeben.
    Immer näher kam sie ihm, immer ekstatischer wurden ihre Bewegungen, immer mehr an jene Klimax gewahrend, welche lediglich die innigste Vereinigung zweier Liebender mochte erreichen, was die Wirkung auf ihn nicht verfehlte, denn schon verspürte er seine Libido wachsen, jenes brennende Begehren, welches in diesem Kreise so leichtlich war zu befriedigen. Folglich streckte er schlichtweg seine Hand aus, bekam den Rock um die eifrig zuckenden Hüften zu fassen und zog mit sanfter Gewalt das Mädchen zu sich, umfasste endlich sie an jener mirakulöserweise geradehin ruhenden, schmalsten Stelle der Taille und bugsierte sie auf seine Kline, um innig sich mit ihr zu vereinen.
    Erst hier wurde ihm gewahr, dass die Tänzerin, gleich den berbischen Schönheiten aus dem Hause des Dionysios, durch einen Schleier ihr Antlitz verbarg, was augenscheinlich ein ridikulöses Feigenblatt von Anständigkeit repräsentierte, betrachtete man den übrigen, weniger denn dezent verhüllten Leib. Doch wollte er auch ihren zweifelsohne sinnlichen Mund berühren, ihre zarten Wangen ebenso liebkosen wie ihre üppigen Brüste, ihr durch das wallende Haar fahren, sodass er gierig den sanften Stoff mit der Hand ergriff, daran riss und... erstarrte.
    Wohlbekannt war ihm das Gesicht, welches nun ihn starr fixierte, zu Lebzeiten bereits mit vornehmer Blässe gesegnet, nun jedoch ob der zerborstenen Lippen, der leeren Augen und der wächsernen Qualität der Haut zweifelsohne unter die Toten war zu rechnen, denn niemand geringeres als seine eigene Schwester war es, welche nun auf seiner Klinen kniete, um ihm, wie es schien, zu Willen zu sein.


    Voll Schrecken stieß er jenen untoten Leichnam von sich, die Abscheu, neuerlich seine eigene Schwester begehrt zu haben, sodass das Mägdelein, nunmehr jeglicher Kräfte entbunden, von der Kline auf den mosaikengeschmückten Boden stürzte und dort leblos verharrte. Panisch blickte er um sich, hinüber zu jenem Conbacchanten, welcher sich nunmehr ihm zuwandte und kein anderer war denn Sulpicius Cornutus, der ihn seinerseits anklagend anblickte. Ihm gegenüber dagegen konnte er Manius Maior ausmachen, welcher bequemlich auf seiner Kline ruhte, augenscheinlich nicht im geringsten disturbiert, seine eigene Tochter gleich einer Dirne tanzen und nunmehr zu Boden gehen zu sehen, dort der Kapitän, mit einer Handvoll Seeleuten ins Gespräch vertieft.
    "Möchtest du noch einen Schluck?"
    , vernahm er mit einem Male eine wohlvertraute, ja verhasste Stimme und wandte neuerlich sich um, um am Kopfende seines Speisebettes Aurelia Prisca zu erblicken, angetan gleich einer ägyptischen Priesterin in transparentem Gewand, doch ein Tableau offerierend, auf welchem ein güldener Becher, dekoriert mit Schlangenmotiven wartete. Sogleich war ihm bewusst, dass dem darin wabernden Trunke Schierling musste adjungiert worden sein.


    Ein Schauder erfasste ihn, nein: ein Schwindel gar und er rollte, jedwede Orientierung verlustig gehend, von seiner Kline...


    ~ ~ ~


    ...und stieß gegen einen Körper, welcher ihm ein erschrecktes Quieken entlockte. Schweißperlen standen auf seiner Stirne, seine Tunica erschien ihm, als sei er nicht einem Traume, sondern dem Frigidarium einer Therme entstiegen, und zu allem Überflüsse hatte selbst der Erdgrund seine Festigkeit verloren, wogte hin und her und zog ihn bald gegen den Körper, dann wieder weg von diesem.
    Doch der Corpus an seiner Seite war warm, wie seine fahrige Hand rasch ertastete, die Physiognomie des Antlitzes entsprach eben jener seines Freundes Patrokolos, was nur konnte bedeuten, dass er in keiner signifikanten Gefahr sich befand, sondern neuerlich einem jener gräulichen Träume aufgesessen war, welche ihn nun so lange Zeit hatten geschont.


    "Patrokolos!"
    , murmelte der Jüngling mit timider Stimme, während das Bewusstsein seiner Situiertheit zurückkehrte, ihn gemahnte, dass er auf einem Lastschiff sich befand, was die Instabilität des Bodens, womöglich gar den Sturz im Traume mochte explizieren, dass er auf selbigem seit vielen Tagen gen Italia reiste und das Rauschen um ihn einer mäßig agitierten See mochte anzulasten sein. Jene Einsicht bereits kalmierte den jungen Flavius bereits signifikant, noch ehe ein Seufzen, sodann die ennuyierte Stimme seines Dieners war zu vernehmen:
    "Was ist?"
    "Ich hatte einen grässlichen Traum: Flamma war dort, und Vater, und Sulpicius und Aurelia..."
    "Ängstige dich nicht, Domine, es war nur ein Traum!"
    , mühte Patrokolos sich, jenes Zwiegespräch zu finalisieren und seinerseits Morpheus' Reich aufs Neue zu betreten, ehe es recht begonnen hatte. Doch Manius Minor war hellwach, sein jugendlicher Geist war überfrachtet von Sorgen und Nöten und so verspürte er einen höchst urgierenden Drang, seine Gedanken zu teilen:
    "Es ist eben kein Traum. In wenigen Tagen schon werde ich wieder in Rom sein, gefährdet durch die Nachstellungen Aurelias, konfrontiert mit dem Tode meiner Schwester, geplagt von meinem... nun, von meinem Vater!"
    "Und glaubst du, es wird erträglicher werden dadurch, dass du zum hundertsten Mal darüber klagst?"
    , replizierte Patrokolos und stieß vernehmlich Luft aus.
    "Nein, selbstredend nicht, aber es grämt, nein: torquiert mich dennoch jeden Tag und jede Stunde, Patrokolos! Ich muss doch irgendetwas zu tun imstande sein!"
    "Nichts kannst du tun, Domine. Du musst dich in dein Schicksal fügen. Denke an Epikur, ihm spielte das Leben auch übel mit, dennoch starb er als glückseliger Mann!"
    Jene, wohl mehr dahergesagte denn sorgsam erwogene Verlautbarung traf den jungen Gracchen gleich einem Blitzschlag, aktivierte seinen Geist inmitten jener unerquicklichen Nacht auf See, da sie ihm doch eine Perspektive offerierte, welche er all die Tage und Stunden des Klagens und Verdrängens niemals hatte erwogen: In der Tat hatte der große Epikur selbst weitaus größeren Schmerz zu tragen gehabt denn er selbst, hatte dennoch fröhlich und zufrieden sein Ende erwartet, anstatt den grässlichen Qualen sich hinzugeben. Wie lautete der vierte Lehrsatz? Was schmerzt, spürt man nicht ununterbrochen im Fleisch; vielmehr ist der größte Schmerz nur von kurzer Dauer; der Schmerz aber, der die Lust im Fleisch kaum übersteigt, dauert nicht viele Tage lang. Lange andauernde Krankheiten gewähren mehr Lust im Fleisch als Schmerz.
    Selbstredend war seine Familia nicht direkt als eine Krankheit zu titulieren, sodass selbiger Lehrsatz an der Situation Manius Minors mochte in der Intention des Autors mochte vorbeigehen, dennoch machte der junge Flavius hier eine frappierende Analogie aus, welche womöglich in der Tat ein Ausweg aus seinem Leiden mochte sein: Nichts als die Wahrheit war Patrokolos' Einsicht, dass mit dem Unabänderlichen zu hadern absolut närrisch war, vielmehr das Arrangement mit dem Übel die singuläre Option eines wahren Epikureers konnte sein.
    In der Tat ließ sich die Situation mit den Augen Epikurs in einem gänzlich neuen Licht ästimieren, da doch sein Hass gegen die Aurelia lediglich darauf fußte, dass er Furcht verspürte um sein Erbe, die Reputation der Familie wie die vermeindliche Sekurität, welche selbige ihm vermeintlich bot: Berühmt und angesehen wollten manche Menschen werden, weil sie meinten, dass sie sich so die Sicherheit vor den Menschen verschaffen könnten. Wenn daher das Leben solcher Menschen sicher war, haben sie das natürliche Gut gewonnen. Wenn es aber nicht sicher war, besaßen sie nicht, wonach sie von Anfang an in Übereinstimmung mit ihrer eigenen Natur strebten. Nun, da er jener, auf leeren Meinungen sich gründenden Sisyphos-Arbeit des politisch-sozialen Wettbewerbs hatte abgeschworen, gab es im Grunde keinen Grund, sich ob der ridikulösen Überambition seiner Stiefmutter zu grämen!
    Selbstredend mochte es sein, dass sie seine Schwester durch sinistre Pläne hatte ermordet. Doch welchen Zweck hatte es, ihr deshalb nachzueilen, wo es doch außer Frage stand, dass ihr Gatte, sein desillusionierender Vater, ohnehin würde verhindern, dass ihr deshalb eine Strafe ereilte? Ein glückliches und unvergängliches Wesen hat weder selbst Schwierigkeiten noch bereitet es einem anderen Schwierigkeiten. Daher hat es weder mit Zornesausbrüchen noch mit Zuneigung zu tun; denn alle Gefühle dieser Art sind Zeichen von Schwäche. Und selbst wenn sie, getrieben von ihrer infiniten Gier ihn mochte, kaum würde er sein Vaterhaus betreten, einer Natter gleich vergiften, so blieb doch hier des Philosophen Rat bestehen: Die unbegrenzte Zeit verschafft die gleiche Lust wie die begrenzte, wenn man die Grenzen der Lust mit der Vernunft abmisst. Beinahe entlockte jene Einsicht, vor wenigen Tagen noch selbst den Freitod erwogen und lediglich aus Rücksicht auf seinen Freund ausgeschlagen zu haben, dem junge Flavius ein sublimes Lächeln.
    Was sollte ihn in Rom erwarten, was er nicht mit dem vierfachen Heilmittel Epikurs mochte heilen? Würde denn nicht soeben jener Keil, welchen Aurelia in die flavische Familie zu treiben gedachte, ihr Traum davon, der eigenen Brut den Vorzug zu verschaffen vor jenen, welche von Rechts wegen ihn für sich durften reklamieren, ihm jene Freiheit von gesellschaftlichen Pflichten, ja politische Abstinenz bescheren, die er sich so sehr wünschte?

    Auf den melancholischen Aufbruch in Alexandreia folgte eine entbehrungsreiche Zeit auf See, welche Manius Minor bereits als eine Präfiguration des ihm in Rom erwartetenden Übels erschien, denn sowohl erwies sich sein Zelt als dergestalt inkomfortabel, wie er dies erwartet hatte, als auch die Gesellschaft an Bord um ein vielfaches Maß als ennuyanter denn auf der vorherigen Schiffsreise, da selbst der Kapitän sich eines Dialektes bediente, welcher ihm kaum erlaubte dessen Worten zu folgen. Einzig Patrokolos war ihm Trost und Stütze, herzte ihn in den Stunden größter Desolation, schwelgte mit ihm in den Remineszenzen an die vergangenen, freudigen Monate, in welchen die beiden nicht selten getrennte Wege waren gegangen, da der junge Flavius im Kreise seiner imperfektionistischen Myrmidonen mitnichten beständig seiner lebendigen optischen Prothese hatte bedurft, was wiederum nun die Gelegenheit bot, diverse Episoden, welche der eine wie andere separat hatte durchlebt, auszutauschen und damit in der Tat bisweilen gar Amusement inmitten jener inexpugnablen Tristesse zu generieren.


    Dennoch kehrte der Schatten der Desperation mit größter Regularität immer wieder, verfinsterte das Antlitz des flavischen Jünglings und strapazierte dabei nicht selten auch das nervöse Korsett seines Dieners, welcher nun, da man sich in höchster Not hatte ausgesprochen und neue Vertrautheit gewonnen, bisweilen gar ein offenes Wort riskierte und seine Enerviertheit verbalisierte, woraufhin Manius Minor, fest dem Vorsatze verbunden, seinem geliebten Patrokolos nach Gelegenheit jedwede superfluente Last bis zu seiner Manumissio zu ersparen, nicht selten sein Lamentieren mäßigte. Doch die Rücksicht auf jenen Freund, welchen die ihnen mit jeder Seemeile sich weiter approximierenden Perspektive eines von leeren Meinungen beherrschtes, sinnen- wie freudloses Leben in beiweitem geringeren Maße tangierte, implizierte doch mitnichten, dass damit die Emotionen des Jünglings waren annihiliert.
    Fortunablerweise gelang es Patrokolos zumindest, in einem der Matrosen einen zuverlässigen Lieferanten an Opium zu gewinnen, welcher ihnen im Tausch gegen das ein oder andere Gewand aus dem Fundus an Kleidung, den Sulpicius zumindest ihnen hatte überlassen, ein wenig jener klebrigen Masse überließ, die beim Schlucken trotz ihres abscheulichen Geschmacks eine formidable Wirkung entfaltete und zumindest das Bauchgrimmen und die Nervosität, welche sich nach längerer Abstinenz bei Manius Minor einstellten, linderten, sodass er erneut in Tagträumereien und Glücksgefühle sich zu flüchten imstande war.

    Als der junge Flavius das ärmliche Zelt vor sich erblickte, welches für die fünfzehn bis zwanzig Tage sein Heim sollte repräsentieren, fühlte er sich genötigt, sämtliche Hoffnungen auf eine lediglich halbwegs komfortable Fahrt fahren zu lassen, denn in seinen Maßen wie seinem Interieur differenzierte es sich nicht im geringsten von jenen Zelten, mit welchen er auf seiner Flucht aus der Flucht hatte Bekanntschaft gemacht. Obschon in seinem Falle lediglich Patrokolos und er statt einem ganzen Contubernium ihr Nachtlager darin würden verbringen, so fehlte es doch bereits an basalen Annehmlichkeiten wie Kissen, Polstern oder gefütterter Decken, sodass sie mit abgewetzten Decken degoutierlichen Odeurs würden Vorlieb nehmen müssen. Schon jetzt vermochte er zu antizipieren, welch displaisierliche Posituren dies im Schlafe würde evozieren, was wiederum am folgenden Tage ihm zweifelsohne hier und da Missbefinden würde bereiten.


    Manius Minor seufzte somit herzlich und wandte sich von jenem Trübsal ab, um nun, da das Schiff Fahrt aufnahm, zumindest einen letzten, melancholischen Blick auf die imposante Silhouette Alexandrias zu werfen; jener Stadt, die so viel ihn gelehrt hatte und der doch den Rücken zu kehren sein nunmehr unumstößliches Schicksal war. Mit zunehmender Distanz von den Anlegestellen kamen immer mehr Orte vor sein Angesicht, welchen er sich affektiv zutiefst verbunden fühlte: Vor ihm lagen die Xenai Agorai, welche soeben er ein wohl letztes Male überhaupt, zugleich aber das erste Male vor Öffnung der zahllosen Stände und Buden hatte durchquert, obschon unzählige Male er dort mit den Myrmidonen war flaniert, um dekorative Pretiosen oder exquisite Köstlichkeiten zu erwerben. Sodann erblickte er zur Linken das Basileia-Viertel, welches nur ein einziges Mal er hatte visitiert, um dem großen Alexander seine Referenz zu erweisen, indessen lediglich um zu erkennen, dass selbst der Ruhm jenes Heroen so brüchig war wie die Nase seiner Mumie. Über den Dächern der uniformen Wohnhäusern ragte ebenso das Paneion hervor, in dessen immediater Nachbarschaft die Domus Sulpicia sich befand, jener Oikos, welcher ihm nicht viel mehr an Diensten hatte erwiesen als die kostenfreie Logis eines Gasthauses, da doch niemals er einen Draht zu dessen Hausherrn hatte spinnen können, sodass endlich jener gestrige Eklat womöglich inevitabel war gewesen. Mit größerer Distanz vermochte er sodann auch am Antirhodos vorbei auf das politisch-kulturelle Zentrum der Polis zu blicken, wo vornehmlich er seinen Aufenthalt hatte gepflogen, sei es im Museion, welches ihm den weisesten aller Philosophen hatte bekannt gemacht, sei es im Theater, wo er neben dramatischer Kurzweil in die Mysterien politischer Fassaden war investiert worden, sei es das Gymnasion, welches ihm kein Glück hatte geboten. Unweit, wenn auch invisibel hinter den schmucken Fassaden der hafennahen Bauten, lag auch irgendwo das Haus des Dionysios, welches ihm zu einem Heim geworden war, wie es ihm die Villa Flavia Felix nie geworden zu sein schien, da er hiesig doch zu jeder Zeit in sämtlicher Unzulänglichkeit, aller Missstimmung und jeder noch so kleinen Freude, die das Leben hier ihm hatte offeriert, war akzeptiert gewesen, selbst wenn manche Vorgänge jenes verschworenen Männerbundes, seiner Myrmidonen, mitnichten sein unlimitiertes Placet hatte gefunden. Dort schlummerte Dionysios zweifelsohne noch im Schlaf der Gerechten, womöglich auch Anaximander, Epimenides und all die anderen, die im Rausche des vorigen Abends bei der alltäglichen Mission, ihren Weg ins heimische Bett zu finden, wieder einmal nicht reussiert hatten.


    All dies würde Manius Minor fortan verwehrt bleiben, ja er würde all jene wundervollen Kommilitonen, seine wackeren Mitpatienten des vierfachen Heilmittels Epikurs, wohl niemals wiedersehen, so eine gnädige Laune der Tyche, der wohl einzig wahrlich wirksamen Göttin des Pantheon (so man den unbestechlichen Zufall wollte personifizieren), sie nicht würde an einem anderen Orte vereinen. Obschon er seine Myrmidonen wie nahezu jeden Menschen seit seiner Kindheit niemals in sämtlichen Konturen aus der Nähe hatte in voller Konturiertheit erfassen können, so standen ihre Antlitze ihm nun doch imaginär mit größter Schärfe vor Augen, vom tumben Lachen Dionysios' bis hin zum altklug rezitierenden Epimenides.
    Während er so all dieser Recken gedachte, detektierte er mit einem Male eine neue, reale visuelle Inkapazität, denn die Silhouette des immer kleiner werdenden Alexandreias verschwamm vor seinen Augen, als bewege er sich auf die Stadt zu, anstatt von ihr weg.
    Erst Patrokolos' stupende Interjektion:
    "Du weinst ja!"
    , ließ ihn die Ursache jener Dysfunktion erkennen und rasch wischte er sich einige Tränen aus den Augen, um doch zumindest den letzten Blick auf diesen Hort seines Lebensglücks so lange als möglich in bester Qualität zu degustieren. Deplorablerweise nahmen jedoch sogleich neue Tränen den Platz ihrer Präzedessoren ein, vermehrten gar ihre Zahl und traten endlich von selbst aus den glasigen Augen des jungen Flavius ihren Weg über die feisten Wangen und das Kinn hinab zur Erde an.
    "Wir werden sie niemals wieder sehen!"
    , lamentierte der Jüngling mit miserablem Timbre, tremorierte erschüttert von jenen heftigen Emotionen und warf sich endlich an die Schulter seines Freundes und Dieners, um seinen Schmerz zumindest vor den emsig die Segel setzenden Matrosen zu verbergen.

    Die Sonne hatte noch nicht den Horizont erklommen, als eine kuriose Karawane die Xenai Agorai durchzog und auf die Hafenanlage zuhielt, wo die Schiffe sich zum morgendlichen Auslaufen parat machten. Die Vorhut konstituierte Diogenes, der Ianitor und multifunktionelle Funktionär des sulpicischen Gesindes, in Händen ein gesiegeltes Schreiben seines Herrn, sodann folgten Manius Minor und Patrokolos, noch schlaftrunken und nebulös ob der in der Nacht annihilierten Opium-Vorräte, ihnen wiederum weitere Sklaven, welche die Habseligkeiten des jungen Flavius transportierten. Nachdem sie kurze Zeit zuvor waren aus dem Delirium gerissen worden, hatte Diogenes sie zum Aufbruch genötigt, ohne dass Sulpicius Cornutus den beiden nochmalig die Ehre eines Zusammentreffens hatte gewährt, was indessen dem brenolen Jüngling nicht unwillkommen war gewesen, da doch ein wenig Blümeranz seine psychisch bedingte ohnehin mäßige Konstitution trübte.


    Augenscheinlich hatte Diogenes bereits im Vorfeld sämtliche Formalitäten klarifiziert, denn anstatt auf die Hafenkommandantur zuzuhalten, führte er zügigen Schrittes die neuerlichen Exilanten (diesmalig in die konträre Direktion) zu einem der Piers, wo eine bauchige Cybaea soeben augenscheinlich die finale Ladung aufnahm.
    "Wo ist der Kapitän?"
    , befragte Diogenes einen der Matrosen, welcher stumm auf die Planke deutete, auf der die Arbeiter in langen Reihen Säcke hinauftransferierten, was der Sklave wiederum zum Anlass nahm, sich dem Jüngling und seinem Diener zuzuwenden.
    "Kommt gleich mit!"
    Im Gänsemarsch schob das Triumvirat sich an den Werktätigen vorbei nach oben, um endlich die Reling zu übersteigen und sich auf dem Deck des großen Transportschiffes wiederzufinden. Unschwer war zu deduzieren, dass jene schmale Gestalt, welche achtern über einen Plan gebeugt mit einem kräftigen Ägypter debattierte, zum leitenden Personal jenes Fahrzeuges war zu zählen, sodass man auf diesen zuhielt.
    "Chaire, Kapitän! Ich bringe dir die vereinbarte Fracht"
    , salutierte Diogenes den schmalen Seemann, während Manius Minor und Patrokolos ob der irritierenden Titulatur ihrer selbst als Frachtstücke vorerst lauernd schwiegen, zumal der vorgebliche Kapitän sie seinerseits nicht eines Wortes würdigte, sondern lediglich vorwitzig begaffte (zumindest vermeinte der junge Flavius einen derart qualifizierbaren Blick auf sich zu spüren, da das Antlitz seines Gegenübers aus jener Distanz lediglich ein Scheme war, dessen Interpretation lediglich auf Spekulation beruhen konnte) und endlich in disrespektierlicher Manier begrüßte:
    "Have, me'n Jung'!"
    Ehe ein Dialog zwischen Passagier und Kapitän sich zu evolvieren possibel wurde, mühte sich indessen Diogenes, seinen Auftrag zu vollziehen, indem er den gesiegelten Brief vorstreckte:
    "Hier ist der Brief. Du darfst ihn nur persönlich an Consular Manius Flavius Gracchus überreichen. Auf keinen Fall darf er in die Hände deiner beiden Passagiere geraten!"
    "Ajo, ke'n Problem, Mann!"
    , replizierte der Kapitän in leutseligem Singsang, was augenscheinlich Diogenes zu eindringlicheren Worten motivierte:
    "Mein Herr schickt diesen Brief zusätzlich auf anderem Wege! Wenn dieser Brief Consular Flavius nicht erreicht oder nicht mit dem übereinstimmt, was mein Herr geschrieben hat, wird dies bekannt werden. In diesem Fall wird mein Herr dir die vereinbarte Prämie nicht auszahlen!"
    Die raschen Blicke, welche Diogenes bei diesen Worten auch ihm zuwandte, ließ Manius Minor vermuten, dass selbige nicht lediglich an die Adresse des Kapitäns, sondern ebenso an ihn selbst gerichtet waren, um ihm jedwede Hoffnung zu rauben, vor Manius Maior den zweifelsohne wenig charmanten Inhalt jenes Schreibens in Erfahrung zu bringen oder gar zu manipulieren. Indessen verspürte der Jüngling zu jenem Zeitpunkt ohnehin keine Motivation, durch Betrügereien um das eigene Schicksal zu feilschen, weshalb er gleichmütig den Blick zu Boden senkte.
    "Jou, jou, is' klar!"
    , konfirmierte der Kapitän ein finales Mal, ehe Diogenes augenscheinlich saturiert sich verabschiedete und das Schiff ohne ein einziges Wort des Abschieds an den jungen Flavius oder seinen temporären Gesindegenossen Patrokolos verließ. Zurück blieben selbige, betreten sich anblickend und dabei von einem unerquicklichen Gefühl der Desillusion bewegt, da doch augenscheinlich die Freundlichkeit und Cordialität jenes Sklaven, welcher Tag um Tag sie in die Domus Sulpicia hatte eingelassen, bisweilen gar ein vergnüglichen Scherzlein hatte gerissen, auf keinerlei personaler Zuneigung, sondern vielmehr in nackten Pflichtgefühl hatte bestanden, sodass nun, da sein Herr den Gästen die Gunst hatte entzogen, lediglich geschäftsmäßige Ignoranz verblieb.


    "Na denn woll'nwer mal euer Gepäck verstau'n, nich' wahr?"
    , riss endlich der Kapitän Manius Minor aus der Lethargie.
    "'Ne Kajüte ha'm wir nich' so richtig hier an Bord, muss ich sag'n. Aber ich sach' ma', wir stell'n euch zwei Landraddn 'n kleenen Unterstand auf Deck, nich' wahr?"
    Jene Cybaea, welche sie nach Italia würde transferieren, war offenbar keineswegs für den Transport von Passagieren präpariert, was nahe legte, dass in der Tat es sich um das erstbeste Schiff mit der passenden Destination handelte, zugleich jedoch implizierte, dass es keinerlei Annehmlichkeiten für die Passage würde bieten.
    Manius Minor ließ einen langgezogenen Seufzer vernehmen.

    Kurz darauf saß der junge Flavius, sichtlich kalmiert, auf seiner Bettstatt und spintisierte über die vorliegende Situation. Mehr denn offensichtlich war ihm die Absurdität jener sulpicischen Hyperreaktion, welche mitnichten in Relation zu seinen vorgeblichen Vergehen stand, zumal selbiges in keinster Weise justitiabel ihm erschien, da doch nicht er, sondern Cornutus jener war, der leeren Meinungen hinterher eilte, anstatt das einzig Rationale zu tun und seinen Begierden zu folgen, wie Manius Minor und die Myrmidonen dies erkannt hatten. Insofern glaubte der junge Flavius sehr viel legitimer in der Position, den Klienten seines Oheims ob jener sinnlosen Okkupationen zu schelten.


    Dessenungeachtet befand Sulpicius sich hiesig jedoch in einer Position, welche es ihm gestattete, nach Gutdünken mit seinem Gaste zu verfahren, da der flavische Jüngling doch in dieser Stadt über keinerlei Kontakte von Potential verfügte, da die politisch-gesellschaftliche Abstinenz des Myrmidonenkreis es ja geradehin untersagte, den politischen Potentaten der Polis gefällig zu sein und sich auf das abstruse Spiel von Gabe und Gegengabe einzulassen. Obschon es Manius Minor bis zu diesem Tage war misslungen, die genaue Beschäftigung seines Gastgebers zu erfahren, welche selbiger zu einem sonderbaren Mysterium erklärte und bei jedweder Thematisierung dieser Frage das Sujet abrupt wechselte, so stand doch außerfrage, dass selbiger über fabulöse Relationen in die innersten Zirkel des alexandrinischen Machtsystemes verfügte, ja die großen Demagogen der Ekklesia nicht selten in sein bescheidenes Heim zum Trinkgelage lud und bisweilen gar den Palast des Eparchos frequentierte, sodass die nebulösen Warnungen Diogenes' zweifelsohne von Substanz waren.
    In keinem Falle würde es ihm bei einem der Myrmidonen, sei es dem schillernden Dionysios, sei es dem stillen Epimenides, in Sekurität zu leben gestattet sein, da doch stets jene alexandrinische Version der Vigiles, welche am ersten Tage seiner Lebens in dieser Stadt ihm gar das Geleit zum Hause des Sulpicius hatten gegeben, drohte, in Erfüllung einer winzigen Gefälligkeit für ihren augenscheinlichen Gönner sämtliche Oikoi seiner Freunde zu verwüsten und seiner wieder habhaft zu werden, was wiederum nicht nur ihm selbst, sondern zweifelsohne auch seinem Gastgeber zum Schaden würde gereichen.
    Vielweniger erschien es ratsam, auf eigene Faust sein Glück zu versuchen, da es ihm zum einen an Geld, zum andern an praktischen Fähigkeiten zu dessen Erwerb fehlte, zumal selbst die Perspektive einer Okkupation als Lustknabe, wollte man von seinem Widerstreben, eine derart ehrlose Beschäftigung aufzunehmen, absehen, in Anbetracht seiner Unansehnlichkeit wenig Erfolg versprach. Ohne finanziellen Spielraum würde indessen auch sein spatialer Spielraum begrenzt bleiben, zumal ihm, sollte Sulpicius, was zweifellos würde geschehen, seine Drohungen wahr machen und an seine Familia schreiben, das Netzwerk der Flavii würde verschlossen bleiben, welches selbst in dieser dem Senat theoretisch verschlossenen Provinz eine basale Infrastruktur hätte geboten. Gedankenverloren ertastete er seinen Siegelring, welchen Manius Maior ihm anlässlich seiner Liberalia hatte gereicht und der ihm mit größter Sekurität Zugang zur Villa Flavia vor den Toren der Stadt, wo, wie ihn deuchte, sein Vetter Serenus während seiner Studien hatte gelebt, würde gewähren.
    Doch was sollte er dort, da man auch an jenem Ort zuallererst ihn würde suchen? Keineswegs würde Cornutus ruhen, ehe er seinen Gast wohlbehalten an die Familia überstellt würde haben, da er doch Gracchus Maior hatte gelobt, Gracchus Minor zu hüten wie seinen Augapfel.


    Die unumstößliche Faktizität jener Überlegungen hingegen klarifizierte im ganzen Manius Minors Lage als überaus misslich, ja besiegelte geradehin die singuläre Option, sich dem Schicksal schlichtweg zu ergeben und der Dinge zu harren, die da mochten kommen.
    Resigniert nahm Manius Minor einen weiteren Schluck aus dem Thanatos-Becher.
    Mitnichten verspürte er Lust, in den irrsinnigen Moloch Roms zurückzukehren, wo nichts denn Schmerz ihn erwartete: So würde er seine ersten wahren Freunde (so man von Diarmuid, Iullus, Vindex und dem guten Lucretius, deren Kontakt er sträflich hatte vernachlässigt, mochte absehen) niemals wieder sehen, ja selbst außerstande sein, ihnen eine Nachricht zukommen zu lassen und damit ihnen die Sorge um das Schicksal ihres Achilleus ersparen, würde jener vortrefflichen Polis, welche zwar objektiv kaum besser mochte sein als Rom, jedoch mit weitaus plaisierlicheren Remineszenzen war verbunden, den Rücken kehren müssen. Neben jenen Abschieden bot indessen auch die Urbs nichts denn Unlust, begonnen bei seiner zweifelhaften Familia, zweifelsohne bereits geknechtet unter der Knute seiner Natter von Schwiegermutter, sodass ihm geliebte Anverwandte sämtlich das Weite hatten gesucht. Dann all jene Zwänge aristokratischer Existenz, jene sinnlose Selbstentsagung gegen alles Schöne und Gute, um eine strahlende Fassade der Anständigkeit und Tugend zu wahren, hinter welcher hingegen doch nur Faulheit und Niedertracht lauerten und jenen Koloss der Familia Flavia Romae langsam, doch beständig von innen zerfraßen. Endlich seine familiar bereits vorausbestimmte Zukunft, angefüllt mit der Reproduktion jenes Irrsinns, indem auch er würde genötigt sein, den Lauf der Ehren anzutreten, welcher ihm noch unerstreblicher erschien denn der Stadionlauf im Gymnasion, und um die Gunst jener zu buhlen, die noch potenter waren als man selbst, um Ehren und Ländereien und Posten zu erringen, obschon sie doch als consulare Familie respektablen Wohlstands über mehr als genug von all jenem verfügten.
    "Vielleicht sollte ich den Schierlingsbecher wählen."
    , konstatierte der junge Flavius endlich, als ihm jene Situiertheit zur Gänze wurde gewahr.
    Patrokolos, inzwischen ein wenig besser zu sich selbst gelangt, blickte aus der eigenen Lethargie wie der Position am Fuße des Bettes hinauf zu seinem Herrn.
    "Und ich?"
    Manius Minor seufzte. Zweifelsohne würde Patrokolos, sollte sein Herr sich das Leben nehmen, den Zorn der Flavii auf sich ziehen, womöglich gar selbst den Tod finden, was indessen in epikureischer Weltsicht ebenso gut mochte antizipiert werden:
    "Du trinkst selbstredend nach mir!"
    Nun wurde die Stimme des Sklaven ein wenig trutziger, als er die Arme auf den angezogenen Knien verschränkte und erwiderte:
    "Ich will aber nicht sterben. Ich habe noch Pläne für mein Leben!"
    Niemals hatte der junge Flavius erwogen, dass sein Diener einen autonomen Willen, ja gar separate Pläne für die Zukunft mochte hegen, da doch seine gesamte Existenz, jeder Tag und jede Stunde war lediglich auf den Zweck hin orientiert, seinem Herrn eine Hilfe zu sein. Gewiss hatte der Jüngling vor Jahren erfahren, dass Patrokolos bisweilen sich davon schlich, um auf eigene Faust sich zu vergnügen, doch erschien es doch als eine differente Lage, ob sein Diener gelegentliche Kurzweil suchte oder im Stillen derartig fundamentale Vorhaben verfolgte, dass ein spontanes Scheiden aus der irdischen Existenz sich als inakzeptabel ihm darbot.
    "Welche Pläne?"
    , fragte Manius Minor daher gänzlich naiv und voller Erstaunen. Vernehmlich enerviert erfolgte die Replik:
    "Was schon? Die Pläne eines Sklaven: Eines Tages frei zu sein, ein eigenes Haus, eine eigene Familie zu haben! Mein Leben lang musste ich stets das tun, was meine Herren von mir wollten, zuerst in Padua, dann in Cremona und seither bei dir. Verstehe mich nicht falsch, du bist mir stets ein guter Herr gewesen, sehr viel besser als der vorherige! Aber auch ich bin ein Mensch und will eines Tages frei über mein Leben bestimmen können!"
    Abrupt verstummte Patrokolos, augenscheinlich der Ungeheuerlichkeit seiner Worte gewahr werdend, welche auch seinen Herrn perplexierte, da die Existenz, ja die widerstandslose Obödienz des Gesindes im flavischen Hause eine derartige Evidenz darstellte, dass man weder sie, noch die vermeindliche Position der anderen Seite zu ihr jemals reflektierte. Doch nun, geschärft durch die Perspektive Epikurs, blieb es dem Jüngling nicht erspart, Verständnis aufzubringen für diese Position, denn nicht umsonst hatte der große Meister Sklaven und Freie gleichermaßen um sich gespart, Hierarchien der Rechtsstellung ignoriert und jedem das offene Wort gewährt, was nur konnte bedeuten, dass eben jeder ihm gleichermaßen als Mensch von Wert und Respektabilität galt.
    "Das hattest du niemals erwähnt..."
    , bemerkte der junge Flavius, beseelt von jener Einsicht und betroffen von der Offenheit seines Dieners, nein einzig wahren Freundes! Patrokolos seufzte.
    "Wie auch? Du bist mein Herr, ich bin dein Sklave! Wenn du dich nicht gerade in einem Zirkel von Epikureern bewegst, sind unsere Plätze klar verteilt. Mir steht es nicht zu, Wünsche zu haben, schon gar nicht nach meiner Freiheit!"
    Der junge Gracche musste konzedieren, dass dies durchaus der Wahrheit entsprach. Dennoch fühlte er sich schuldig, niemals auch nur den Hauch einer Sensibilität für die Wünsche seines Dieners aufgebracht zu haben, ihn auch hier in Alexandria, mit all jener philosophischen Bildung, in allem epikureischen Eifer doch ihn nicht besser behandelt zu haben als einen Schoßhund, den man bisweilen das Stöckchen ließ apportieren, bisweilen ausschalt und eben auch gelegentlich liebkoste. Stets war Patrokolos treu an seiner Seite gestanden, hatte nicht nur das getan, was ihm explizit war aufgetragen worden, sondern voller Aufopferung jede seiner Unzulänglichkeiten, Sorgen und Nöte mitgetragen, ihm freundlichen Rat erteilt oder Trost gespendet, wann immer ihm danach hatte verlangt.


    Schweigend und noch immer beseelt vom Scham jener Ignoranz erhob sich der flavische Jüngling mit mäßigem Geschick und kehrte an die Seite seines Freundes zurück, ließ sich einem Sacke gleich neben den kauernden Leib sinken und seufzte neuerlich.
    "Es tut mir leid, mein lieber Patrokolos. Ich könnte dir selbstredend testamentarisch die Freiheit schenken."
    Patrokolos schnaubte verächtlich und vermerkte in sarkastischem Tonfalle:
    "Ich wusste gar nicht, dass dein Vater dich aus der Patria potestas entlassen hat!"
    Aufs Neue entwich Manius Minor ein Seufzen. Selbst in jener intimen Stunde annihilierten die Tradition und die Fakten des römischen Rechts, jener so ansehnlichen, doch ebenso bisweilen hinderlichen Konvention menschlicher Provenienz, seine Pläne. Wollte er Patrokolos nicht einem gräulichen Tode überantworten, so musste auch er am Leben bleiben, musste gar sich dem Verdikt des Sulpicius fügen.
    "Dann verspreche ich dir feierlich, dir die Freiheit zu schenken, sobald ich dazu imstande bin. Beim Stein des Iuppiter."
    , mühte er sich, zumindest einen gewissen Trost seinem Freunde zu bieten.
    "Ich dachte, Epikur ist der Meinung, die Götter vollstrecken keine Flüche und Eide."
    Diesmal sprach nicht beißender Sarkasmus, sondern versöhnliche Ironie aus den Worten seines Dieners, welche anzeigte, dass jedwede Missstimmung zwischen den beiden, so sie jemals mochte bestanden haben, als abrogiert war zu ästimieren. Dann legte der Sklave den Arm um die hängenden Schultern seines Herrn, welcher seinerseits den Kopf an die Schulter des Sklaven legte.
    "Danke."
    , hauchte Patrokolos und wischte damit für eine gewisse Spanne all jene Sorge und Furcht ob ihrer beider Zukunft hinweg.

    "Was sollen wir nur tun?"
    , sprach Manius Minor voller Desperation, kaum war die Tür seines Schlafgemaches ins Schloss gefallen, durchquerte den Raum und warf sich aufs Bett. Einem inprävisiblen Regenfalle gleich war jenes Unwetter über ihn hereingebrochen, ihn gänzlich unpräpariert ertappend und so schutzlos bis aufs Hemd durchdringend. Obschon die disrespektible Traktierung, ja jener präzeptorale Habitus, als sei er sein Pater Familias, nicht dessen Klient, den jungen Flavius nicht wenig verärgerte, die Offendierung seiner Philosophie und des ihr lediglich sich approximierenden Lebensstiles gar Empörung und Refutation evozierte, so vermochte er doch nicht zu leugnen, dass die Schroffheit und brutale Konfrontation in ihm eine irrationale Furcht erweckte, die noch immer in diesem Augenblicke, da der Donner war verhallt, sein Herz einer eisigen Klaue gleich umschloss, sodass beinahe Panik sich in ihm die Bahn brach.
    "Ich weiß nicht."
    , replizierte Patrokolos in einem Timbre, welches dem flavischen Jüngling lediglich von jenen Myrmidonen war bekannt, welche zu gierig vom Becher des Morpheus hatten gekostet, sodass zur Gänze sie ihres Willens waren erledigt und zu existierenden, halluzinierenden Marionetten mutierten.
    Keineswegs war dies die adäquate Gesellschaft, um nun rationale Pläne zu disputieren, ja selbst um jenen Sturm der Emotionen in seinem Leibe zu ordnen oder schlichten Trost zu finden, weshalb der Jüngling erbost aufsprang, zu dem sich neben der Tür auf dem Boden niedergelassenen Diener eilte, hierbei strauchelnd und beinahe in ihn stürzend zu ihm gelangte und ihm sodann eine schallende Ohrfeige zu platzieren.
    "Patrokolos, gib Acht!"
    , befahl er über seinen Freund gebeugt, nunmehr sämtliche Emotionen durch den gerechten Zorn ob der Teilnahmslosigkeit seines Gegenübers kanalisierend und somit verdrängend, in jenem Tone, der ihm von seinen Familiaren in Rom nur allzu vertraut war.
    Der Schwindel des nunmehr ihn mehr torquierenden denn inspirierenden Rausches ergriff ihn nun endgültig und riss ihn zu Boden, sodass er neben Patrokolos sich aufraffte, ehe er jeden in seinem Geiste aufblitzenden Gedanken hastig verbalisierte, als vermöge er hierdurch den zweifelsohne dazwischen sich verbergenden richtigen Handlungsweg zu isolieren:
    "Wir müssen fliehen! Zu Dionysios! Nein, dort werden sie uns suchen, meine Gesellschaft scheint ihm ja bekannt! Vielleicht besser zu Epimenides, der mag weniger prominent sein... aber leichtlich wird er ihn identifizieren...
    Oder wir verlassen schlicht die Stadt, gehen zum Hafen und mieten uns ein Schiff, fahren ihm davon, den Nilus hinab oder nach Achaia! Ja, zum Kepos nach Athen!... aber wie sollten wir dies finanzieren?
    Nein, wir kommen ihm zuvor und schreiben einen Brief an meinen Vater... oder nein, an Onkel Felix... oder nein, an Iullus, oder an Lucilius, oder an Vindex! Ja, Vindex wird uns erneut ein Exil bieten, er tat es ja bereits! Gibt es eine Schiffspassage nach Cremona?
    Nein, welch Unsinn, Cremona liegt ja inmitten der Cisalpina..."

    Plan um Plan taufte auch, verpuffte indessen, kaum war er genannt, erwies sich stets absurder denn der vorherige, weshalb Manius Minor, einen mysteriösen, aszendierenden Druck auf seine Schläfen, verbunden mit einem drohenden Hyperventilieren verspürend, endlich verstummte.
    "Ich benötige einen Schluck Opium!"
    , konstatierte er das Augenscheinliche, als endlich er ihm wurde gewahr, dass lediglich die Droge ihn würde in jenem erforderlichen Maße kalmieren, um generell zur Fassung eines klaren Gedankens imstande zu sein. Kaum war jene Einsicht formuliert, stieß der Jüngling heftig gegen seinen Diener, welcher seine Gedankenströme bisherig durch keinen Laut hatte disturbiert.
    "Auf, du tumber Narr, hole mir einen Becher Opium!"
    , kommandierte er scharf und erweckte tatsächlich Patrokolos aus jener Lethargie, in welcher Sulpicius ihn hatte auf mysteriöse Weise gestoßen. Ungelenk rappelte er sich auf, lehnte sich gegen die Wand und murmelte
    "Ja, Domine..."
    , womit er zu jener Truhe schwankte, in welcher der junge Flavius seit geraumer Zeit einen privaten Vorrat des Mohnsaftes aufbewahrte, um des Morgens, wenn der Konsum des vorigen Abends ihm die Glieder lähmte, das Verlassen der Bettstatt zu erleichtern.

    Wie so oft hatte der junge Flavius es versäumt, sich des Abends noch vom Hause des Dionysios in sein angestammtes Bett zu transferieren, sondern war auf der Kline vom Opiumrausch direkt in den Schlaf hinübergeglitten. Die Sonne hatte die uniformen Dächer Alexandreias somit bereits überschritten, als er, noch immer leicht berauscht, endlich die Domus unweit des Paneion erreichte, wo Diogenes wie so oft ihm schweigend öffnete und er die wohltuende Kühle des Hauses als scharfen Kontrast zur morgendlichen, doch konstant schwülen Hitze der Straßen verspürte. Indessen war es ihm an diesem Morgen mitnichten vergönnt, schlicht in seine Kammer zu schleichen, um dort sich ein weiteres Mal dem Schlafe zu ergeben, denn just in jenem Augenblicke, da er gen Heimat strebte, hatte Sulpicius Cornutus sich aufgemacht, eben jene zu verlassen, sodass beide sich immediaterweise hinter der Pforte begegneten. Obschon der junge Flavius selbstredend außerstande sich sah, im Halbdunkel des Schattens die Mimik seines Kontrahenten zu identifizieren, so kommunizierte doch eine steife Haltung, verbunden mit dem Stemmen beider Fäuste in die Hüfte des ältlichen Rhomäers dessen Missbilligung angesichts jenes Anblicks, welcher sich ihm erbot: Ein trunkener Jüngling, einen Odeur aus süßlichem Parfum, Wein, Schweiß und Opium verströmend, gehüllt in ein ägyptisches Gewand, dessen Schnitt einer Stola glich, dessen Stoff jedoch in überaus unzüchtiger Weise transparent den dicklichen Leib des Flavius offenbarte. Dessenungeachtet, da doch jener Aufmachung keineswegs mehr gewahr und benebelt vom Opium, salutierte Manius Minor seinen Gastgeber mit einem vergnügten
    "Chaire, Sulpikios!"
    , soeben noch sich kontrollierend, um selbigem nicht dem Usus der Myrmidonen gemäß um den Hals zu fallen und innig zu küssen. Sämtliche Heiterkeit wich hingegen mit einem Male, als Cornutus lediglich ein Wort formulierte, in welches er sämtliche Abscheu, den Degout langer, doch untätiger Observation jenes unsteten Wandels und daraus resultierender eisiger Verachtung legte, derer seine Stimme kapabel war:
    "Flavius."
    Ein Schweigen entsprang jener winzigen Impuls und breitete sich mir rasender Velozität, gleich dem Ascheregen über dem verdammten Pompeii, über die gesamte Domus aus. Zumindest erschien es dem flavischen Jüngling so, denn der ihn geleitende Patrokolos wie auch Diogenes pointierten ihr timides Schweigen durch ein betretenes Senken der Häupter, stiller Wind regte kein Blatt in dem beschaulichen Garten und es deuchte ihm, dass selbst die Vögel schienen die Gravität jener Konfrontation ahnten und ihren unbeschwerten Gesang interrumpierten.
    Erst nach infinit lange sich ziehenden Herzschlägen sog Sulpicius beschwert als laste ein Koloss auf seiner Brust, neuerlich Luft in seine Lungen und setzte zu weiteren Worten an, welche ob ihrer schieren Vielzahl dem Effekt jenes ersten nachstanden, ob ihres Inhalts jedoch kaum eine Novität addierten und somit lediglich der Explikation dessen dienten, was Manius Minor bereits aus jener primären Adressierung hatte deduziert:
    "Ich bin enttäuscht. Ich habe dir stets alle Freiheit gelassen, der sich ein junger Alexandriner nur erfreuen kann. Du hattest hier alle Möglichkeiten, die ein Knabe deines Standes sich nur wünschen kann: Ein vertrautes Dach über dem Kopf, einen wohlwollenden, deiner Familie ergebenen Klienten zum Patron, den größten Schatz an Wissen und Weisheit, den die Welt je gesehen hat, keine einzige Verpflichtung und keine Vorschriften, denen du dich beugen musstest. Und was hast du daraus gemacht?"
    Der klagende Zeigefinger, in seiner Wirkung einer Manus Cornuta gleichkommend, eilte nach vorn und punktierte den jungen Flavius schier.
    "Du hattest nichts besseres zu tun, als dir die schlechteste Gesellschaft Alexandrias zu suchen, Fresser und Weinsäufer, Lustknaben, die es durch irgendeinen grausamen Scherz der Tyche zu Geld gebracht haben, um es jetzt sinnlos herauszupulvern! Von allen Philosophen, die es hier zu studieren gibt, hast du dir den unnützesten und schädlichsten herausgesucht, um selbst seine Lehre noch zum schlechteren zu führen!"
    Jene Worte elongierten die Punktion des Zeigefinger im Geiste des Jünglings zu einem scharfen Spieß, welcher nun inmitten seines Herzens stieß und ihn im Innersten verletzte. Mochte er mit Missinterpretation, ja Unverständnis seines Lebenswandels gerechnet haben, so lädierte ihn die Beleidigung seines Idols, des großen Weisen, den so eifrig er studiert und verstanden zu haben er vermutete, zutiefst und evozierte trutzigen Widerstand, welcher ihn seinerseits die Arme, einem symbolischen Bollwerke gleich, vor der Brust ließ verschränken.
    "Und was bist du nun?"
    Voll Desperation warf Cornutus die Arme in die Luft, in hilflosem Gestus zu den Himmlischen gleichsam eine überdimensionierte Manus Cornuta formierend und die Stimme nun merklich hebend:
    "Ein parfümierter Kinäde, schlimmer gekleidet als die schamloseste Straßenhure Alexandrias! Du kannst dich glücklich schätzen, so schlecht zu sehen, dann musst du wenigstens nicht deinen Anblick im Spiegel ertragen!"
    Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken und begann, die Exzitation in jeder Regung transportierend, beherzt auf- und abzuschreiten.
    "Ich habe viel zu lange tatenlos zugesehen, ich dachte, das wäre eine Phase, die schnell vorbei gehen würde, glaubte an deine gute Erziehung und deine noble Abkunft, dachte 'Was soll schon geschehen?'! Aber ich war naiv, ja habe die Dummheit der Jugend sträflich unterschätzt, mich viel zu wenig eingemischt! Und jetzt ist es so weit gekommen, dass es fast zu spät ist, ja nicht nur du, sondern durch dich auch mein Haus zum Gespött von ganz Alexandria geworden ist, dass sie dem tollen Flavius, dieser Karrikatur eines Achilles nachsehen und über seinen närrischen, pflichtvergessenen Gastgeber lachen!"
    Er erstarrte und wandte sich mit einem Ruck dem Jüngling zu.
    "Aber damit ist jetzt Schluss, junger Mann!
    Wäre ich deiner Familie nicht aufs Engste verbunden, wäre dein Onkel Flavius nicht mein geschätzter Patron und dein Vater nicht Consular der römischen Republik, dann würde ich dich halbtot prügeln und im finstersten Rhakotis aussetzen lassen, damit du dort deinen Lebensunterhalt so verdienen kannst, wie deine Aufmachung es nahelegt!"

    Manius Minor erstarrte angesichts so großer Offenheit und sog unwillkürlich Luft ein, ohne sie wieder entweichen zu lassen.
    "Aber das wäre wohl selbst angesichts deiner Missratenheit ein Affront gegen deine Familie, die ja immerhin auch ein paar sehr anständige Persönlichkeiten hervorgebracht hat! Ich muss mich also wohl darauf beschränken, den Schaden zu begrenzen und dich ihrer Bestrafung zu überlassen!"
    Der Sulpicius trat ganz nahe an den Jüngling heran, sodass dieser jenes Odem auf der schweißverklebten Haut konnte spüren.
    "Ich will dich hier nicht mehr in meinem Haus haben, nicht in meiner Stadt, nicht in meiner Provinz! Das nächste Schiff nach Italia wird dich hier fortschaffen, das schwöre ich beim Stein des Iuppiter! Und glaube nicht, dass du mich mit irgendwelchen Lügengeschichten bei deiner Familie anschwärzen kannst: Ich werde einen Brief an deinen Vater schicken und an meinen Patron, der den deinen klar vor Augen führen wird, warum ich dich hier nicht mehr dulden kann!"
    Ruckartig zog er sich zurück und wandte sich um.
    "Ab auf dein Zimmer! Pack deine Sachen zusammen!"
    Mit jenen Worten rauschte er davon, den jungen Flavius, welcher angesichts jener vernichtenden Philippica gänzlich perturbiert noch nach Worten rang, links beiseite lassend und durch die Pforte dem Anwesen entschlüpfend ihrem Blicke sich entziehend.


    Zurück blieb Manius Minor, gänzlich konfundiert zwischen traumatischem Erschrecken, revoltierlicher Refutation jener konzentrierten Personifikation der von Epikur gegeißelten leeren Meinung und Beschämung ob einer derartigen Traktierung durch einen Klienten der Familie. Ratlos blickte er zu Patrokolos, welcher ebenso, vom Wein benebelten Sinnes, seinen Blick erwiderte, dann zu Diogenes, dessen Habitus ebenso Irritation offenbarte, doch bereits der ersten Erstarrung entronnen war.
    "Tut, was er sagt. Denkt nicht einmal daran zu fliehen. Mein Herr wird euch finden, egal ob in Neapolis, Alexandria oder der ganzen Provinz."
    Mit der Hand deutete er hinauf zur Treppe, welche zum Schlafgemach des jungen Gastes führte. Und benommen ob jener bedrohlichen Prognose und einer absoluten Insekurität, welche Maßnahme nun adäquat mochte erscheinen, folgte Manius Minor jenem Ratschlusse und begab sich, gefolgt von Patrokolos und sogleich an der ersten Stufe strauchelnd, aufwärts.

    Es verstrichen nur wenige Tage, ehe die Myrmidonen sämtlich sich neuer Kleider, welche wohl dem gemeinen Rhomäer und selbst hier im multikulturellen, aegyptischer Freizügigkeit nicht abholden Alexandria als überaus extravagant, ja geradehin obszön mussten erscheinen, erfreuten und in selbigen zum Gastmahle erschienen, aber ebenso bisweilen auf den Straßen sich präsentierten. Die Stoffe waren von hauchdünner Machart, welche in ihrer Transparenz die mehr oder minder virilen Körper der Jünglinge dem Passanten weniger imaginabel denn schlicht visibel sich erboten und damit ihre Funktion beinahe ad absurdum führten. Manius Minor, respektive Achilleus, dessen Korpulenz ihm in dergestalter Tracht insonders deplaisierlich erschien, weshalb er nicht geringe Genanz an den Tag legte, als erstmalig sie es wagten, in ihren femininen Gewändern das Haus des Dionysios zu verlassen, hatte ebenfalls dem Schwunge juvenilen Übermutes sich ergeben, zumal vornehmlich Anaximander und Dionysios darauf bestanden, dass dem Urheber jener grandiosen Eingebung es wohlanstand, sich als erster unter ihnen auch in derartiger Montur zu präsentieren.
    Zumindest hatte der junge Flavius sich für ein in aegyptischer Manier plissiertes, weites Kleid entschieden, welches ihn bisweilen an jene matronenhafte Art von Stola gewahrte, die seine Mutter zu staatstragenden Anlässen hatte präferiert, und dank der Falten zumindest eines Mindestmaßes an Kreativität bedurfte, um darunter den wenig ansehnlichen, adipösen Leib zu erahnen, obschon selbiger dank des Opiumkonsumes, welcher seinen Appetit doch signifikant hemmte, an Umfang zuletzt ein wenig hatte eingebüßt. Das Selbstbewusstsein, mit welchem er in jenem Aufzuge sich seinen Freunden oder gar auf der Straße präsentierte, oszillierte hingegen stets zwischen kleinmütigem Scham, in dem er bei jeglicher günstiger Situation sich hinter den ansehnlicheren Exemplaren des Myrmidonenkreises verbarg, bis hin zu übermütigem Stolz, der ihn bisweilen, meliorisiert durch Zuspruch von Wein und Opiaten, gar, dem Exempel seines Namensvetters gleich, voll von Vorwitz an der Spitze seiner Getreuen durch die Straßen ließ paradieren, die irritierten Blicke (obschon er selbige selbstredend nicht zu identifizieren imstande war) trutzig erwidernd und sich von etwaigem Straucheln ob übersehener Hindernisse nicht im mindersten discouragieren lassend.
    In jenen Tagen war es insonderheit Epimenides, welcher durch eindringliche Referate die Jünglinge immer wieder aufs Neue in ihrer Haltung von Opposition und Resistenz gegen vermeintlich gute Sitten und ehrwürdige Tugenden, die doch in allem nichts anderes blieben als jene von Epikur so eifrig gescholtenen leeren Meinungen, zu affirmieren und durch Zitate aus dem Kepos, aber auch diverser weiterer konsentierender Weiser, jenem Treiben philosophische Weihen zu verleihen.