~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~
Der Tag des Liber wie der Libera war gekommen, wie er beständig wiederkehrte von Jahr zu Jahr, von Dekade zu Dekade und von Saeculum zu Saeculum. An der Spitze seiner Familia, gefolgt von zahllosen gesichtslosen Gestalten, welche augenscheinlich die Clientel der Gens Flavia repräsentierten, durchquerte er die engen Straßen der Urbs Aeterna, welche angefüllt war mit Tischen und Bänken, besetzt von ausgelassenen, blumenbekränzten und überaus weinseligen Quiriten, die es ebenso zu umschiffen galt wie jene ältlichen Mütterchen, die transportable Öfen vor sich schoben und Opferkuchen feilboten, welche bei Kauf umgehend in ihr Gefährt wanderten um die Götter milde zu stimmen. Eben Götter waren es auch, welche zu keinem Zeitpunkt von seiner Seite wichen, welche ihn in der Gestalt der Antlitze von den Büsten im flavischen Atrium betrachteten, ihm wohlwollend zulächelten, sowohl Divus Vespasianus als Divus Titus, die Laren der Villa Flavia Felix, dazu aber auch die Wächter der Infantilität: Bacchus und Pater Liber, Libera, Pilumnus, Picumnus, Sentia, Voleta und Volumna und Agerona umschwirrten ihn körperlos, hielten inne und formten einen Schutzschild, welchen nichts Böses zu durchdringen vermochte.
Endlich erreichte er die freie Fläche des Forum Romanum, welche kurioserweise in keinster Weise der Festivität gemäß herausgeputzt, sondern einsam und verlassen gleich seinem nokturnen Status vor ihm lag, umstellt von hochragenden Tempeln und Basilicae, denen er indessen keinerlei Attention zukommen ließ, sondern sich zielstrebig der Rostra näherte, sie festen Schrittes bestieg und dabei einem Consul gleichen mochte, dessen purpurverbrämtes Staatskleid er auch vorerst noch teilte. Ihm folgte sein Vater, gravitätisch dreinblickend und doch gänzlich absent erscheinend, postierte sich direkt vor ihm und hielt inne. Ihn fixierte er nun, unschlüssig des weiteren Handelns, blickte neuerlich beiseite, wo Volumna ihm ein couragierendes Lächeln schenkte, wandte den Kopf hin zum vielschrötigen Antlitz des Divus Vespasianus, zum bärtigen Bacchus und zum vergnüglichen Liber Pater, während der Vater die Hand schwer auf seiner Schulter platzierte.
Dann eilten die Geschehnisse blitzartig voran: Die Hand auf seiner Schulter löste sich, riss an seiner Bulla, sodass das güldene Kettchen barst und das Medaillon stumm zu Boden sauste, wo es in tausend Teile zerbarst, worauf im selben Augenblicke die Götter gleich einem Rudel Tauben, welches man durch lärmendes Toben in Schrecken versetzte, in sämtliche Richtungen hinfortschossen und ihn selbst bar jedweder Protektion zurückließen. Doch war damit dem Entsetzen nicht Genüge getan, denn die Hände des Vaters verweilten keinesfalls, sondern ergriffen nun recht unsanft seine Tunica, rupften neuerlich und mit ratterndem Ratschen rissen sie das Unterkleid, die Toga Praetexta und selbst die Subligares entzwei, sodass er vollkommen entblößt sich vor dem nunmehr gewaltigen Publikum präsentierte, gleich einem Sklaven, welcher der Löwung harrte. Bizarrerweise vermochte er die starrenden Blicke indessen direkt zu erwidern, denn keinesfalls mehr stand der Vater nun schützend vor ihm, sondern hatte er sich ins hinterste Eck der Rostra verzogen, kauerte dort einem Embryo gleich und würdigte ihn keines Blickes.
Stattdessen nahm nun eine differente Gestalt den parentalen Platz ein, eine bärtige Gestalt mit leblosem Antlitz und stechendem Blick formte die geborstenen Lippen zu einem gräulichen Grinsen, während ihre knöchernen Arme eine silbrig glänzende Toga emporhoben und ihm auf die Schulter legten. Panisch wandte er sich zur anderen Seite, doch hier erwartete ihn ein ebenso lebloses Paar, ein ergrauter Leichnam, dessen Hemd mit schwarz getrocknetem Blut benetzt war, sowie ein Weib mit wirrem Haar, welches nun nach dem stahlharten und eisigen Staatskleid griff, welches trotz seiner metallenen Qualität und Schwere sich gleich einer Version von edler Wolle in Falten legte und dem Körper anschmiegte, wobei ihm durch die Kälte der Kleidungsstückes schlagartige gewahr wurde, dass man seine Arme keinesfalls freigehalten hatte, was nun nicht mehr zu revidieren war, denn obschon die Toga soeben noch formbar sich erwiesen hatte, so besaß sie nun jene Härte und Starre, die einem bleiernen Kleid adäquat war, die damit aber jedwede seiner Regungen hinderte.
"Vater! Hilf mir!"
, rief er furchtsam hinüber zu jener sich unter seiner eigenen, keinesfalls metallenen Toga verkriechenden Gestalt am Rande der Rostra, welche einem Tier gleich unter dem Stoff hervorlugte und mit arglosem Tonfall replizierte:
"Du bist längst kein Kind mehr, Minimus. I'h bin jeder Responsibilität für di'h ledig! Du musst di'h nun selbst zur Wehr setzen!"
Die Toten um ihn feixten grausig und umzogen ihn, während er selbst, jedweder Beweglichkeit beraubt, in ihrer Mitte sich regte und schob, um sich von seinem bleiernen Kleid zu liberieren.
"Mühe dich nicht, kleiner Flavius! Spar dir deine Kräfte für den Flug!"
, rief dann endlich der bärtige Untote, postierte sich hinter ihm, sodass es ihm keinesfalls gelang, sich diesem zuzuwenden, gab ihm einen Ruck und stieß ihn über die Brüstung der Rostra. Vor ihm tat sich bodenlose Leere auf, er stürzte hinab, immer tiefer und tiefer...
... und erwachte, gebadet im eigenen Sude, in seinem vertrauten Cubiculum. Unwillkürlich fuhr seine Hand zur Brust, wo sie erfreulicherweise die Bulla ertastete, während er benommen um sich blickte, wo er trotz des protegierenden Medaillons keinerlei Schutzgötter ansichtig wurde, zumindest aber ebensowenig jener lebender Leichname, welche ihn nur allzu häufig verfolgten, sodass er sich endlich ermahnte, es habe sich bei jener schrecklichen Kognition lediglich um einen bösen Traum gehandelt. Dennoch vernahm er deutlich das Zittern seiner Hand, als er nach dem Becher mit Wasser griff, welcher neben seinem Bett parat stand, um ihm bei Bedarf, welchen er soeben verspürte, die Lippen zu benetzen. Nach jener Erfrischung sank er neuerlich ins Bett zurück und starrte auf die kassetierte Decke, welche er im Dunkel des Raumes mehr erahnen denn visuell erfassen konnte, während er sich im Geiste attestierte, dass er in keinster Weise die herannahende Mannbarkeit freudig antizipierte.
Für eine Weile verharrte er noch, lauschte dem harmonischen Atem seines geschätzten Patrokolos, welcher seit seiner Rückkehr den Platz des Leibsklaven unmittelbar unterhalb seines Bettes eingenommen hatte, und entschwand endlich erneut in Morpheus' Reich, wo diesmal Erquicklicheres ihn erwartete...