Beiträge von Manius Flavius Gracchus Minor

    Rasch erreichte der Knabe das Officium seines Vaters, noch immer nicht ahnend, welche Causa ihn am heutigen Tage jene Vorladung bescherte, zu der er sich nun aufgemacht hatte. Bar jedweder Ankündigungszeichen, die ihm als Sohn des Hauses im Falle der väterlichen Räumlichkeiten erlassen waren, trat er ein und erblickte seinen Vater, dessen kummervolles Mienenspiel er aus der Ferne noch wahrzunehmen in der Lage war, das indessen, kaum hatte er wenige Schritte auf ihn zu gemacht, in seinen Konturen zu einem unscharfen Farbenspiel verschwamm. Obschon er versuchte, jenen Prozess durch mehrmaliges Zwinkern zu unterbinden, mochte es ihm auch diesmal nicht gelingen, ein völlig klares Bild zu gewinnen.


    "Salve, Vater! Du hast mich rufen lassen?"
    begrüßte er Manius Maior und harrte, beherrscht von der Hypothese unerfreulicher Novitäten, der väterlichen Replik.

    Obschon dem Knaben auch beim Spielen unterdessen die Freude versagt blieb, seine Figuren in genaueren Augenschein zu nehmen, so inspirierte jener Mangel ihn doch in weitaus stärkerem Maße, als es ohnehin einem Infanten seiner Altergruppe vergönnt war, seinen phantastischen Imaginationen freien Lauf zu lassen. Exemplarisch erleichterte es durchaus die Präsumption, bei einer höchst inhomogenen, massierten Kollektion von Tieren, hölzernen Legionären und gar kleinen Tonfigürchen, deren Proportionen mitunter in keinster Weise zu den übrigen passten, eine gleichartige Masse römischer Bürger zu vermuten, die jubelnd einen siegreichen Triumphator, möglicherweise ursprünglich jenen berühmten Scipio Africanus Maior, in den Spielen des jungen Flavius indessen selbstredend stets den strahlenden, wenn auch laut der Familientradition durchaus kautzigen Divus Vespasianus repräsentierend, ihre Referenz erwiesen.


    Inmitten jenes Geschehens nun trat Sciurius mit durchaus gravitätischer Miene, die Manius Minor Unheil erahnen ließ. In der Tat vermochte der Knabe noch immer nicht Vertrauen zu jener blassen Gestalt zu gewinnen, die seinen Vater stets umgab und gegen den er bisweilen einen stummen, unbewussten Neid hegte, da Manius Maior mit diesem weitaus mehr Zeit zu verbringen flegte als mit seiner Familie oder gar mit Manius Minor allein.
    "Ich komme sofort!"
    erwiderte er dennoch bar jeglicher Feindseligkeit, stieß einen unerfreuten Seufzer aus und ließ die Quadriga stehen, um sich aufzurichten, ein wenig Staub, der, sollte seine Mutter dessen ansichtig werden, durchaus Qualen für die zuständigen Reinigungssklaven evozieren würde, von seinen Knien zu klopfen und dem Vilicus zu folgen.

    Unendlich erschien dem Knaben die Dauer jener Prozession, sodass der führende Minister, augenscheinlich ein Aedituus des Tempels der Diana, bei der Ankunft in Nemi sich davonmachte und binnen kurzer Zeit mit einer frischen Tunica wiederkehrte, die er dem jungen Flavius hinhielt. Rasch entgürtete sich dieser, dem die Perspektive jenes von Schweiß durchtränkten Kleidungsstücks ledig zu werden, durchaus erstrebenswert erschien. Um indessen die Aufmerksamkeit der Passanten und übrigen Teilnehmer nicht zu attrahieren, zog man ihn beiseite hinter einen Baum, wo Manius Minor rasch sich umkleidete und seine alte Tunica gleich einer überflüssig gewordenen Last achtlos auf der Erde zurückließ. Doch auch dies verhinderte nicht, dass der Knabe, noch immer erhitzt von dem langen Marsche, sein Antlitz weiterhin erglänzen ließ und rasch neuerliche Flecken auf seinem neuen, rein weißen Gewande offenbahrte.


    Einer der Sklaven der Flaviae, der ebenfalls bei der Prozession mitgeschritten war, um seinen Herrschaften überflüssige Gegenstände, namentlich die Toga des Manius Maior zu transportieren, reichte Manius Minor, als er dessen ansichtig wurde, zumindest ein Sudarium, das ihn zumindest der größten Humidität entledigte.


    So erfrischt trat der Knabe, dessen Antlitz indessen seine Unwilligkeit zu weiterer Fortbewegung unmittelbar widerspiegelte, da die Strapazen des Weges seinen Vorsatz, stets eingedenk der Gravitas und Dignitas seines Standes sich zu präsentieren, gänzlich hinweggewischt hatte. So stolperte mehr denn schritt er weiter voran, erfreulicherweise in den weiter zurückliegenden Rängen der Ministri, da seine Darreichung des Culter keine Notwendigkeit mehr finden würde, immer wieder vorwärtsgeschoben von einem der älteren Ministri, sodass er auch den Rundgang der Lustratio überstand und vor der Tempelanlage zum Halten kam, wo weitere Zeremonien, deren Dauer angesichts der Präskription, diesen stehend zu attendieren, ihn weidlich schreckte.

    Wie so häufig nach dem täglichen Unterricht, so ergötzte sich der junge Flavius auch heute an seinem Spiel, mit dem er den Tag abzurunden pflegte. An diesem Tage nun beliebte es ihm mit einer Novität in seiner Kollektion, einem berittenen Soldaten zu spielen, der in der Phantasie des Knaben zweifelsohne die Rolle eines Kommandeurs seiner bisherigen Truppen zu übernehmen angedacht war. Zuvor indessen war er bemüht, die Formen jenes Gegenstandes zu erkunden, was ihm durch eine visuelle Inspektion zu große Mühen bereitete oder mithin gar impossibel erschien, da sämtliche Realien vor seinem Auge gleichsam zu verschwimmen schienen, weshalb er sich seiner haptischen Fähigkeiten bediente und jenen Reiter durch seine Finger gleiten ließ, die fein ziselierten Schnitzarbeiten im Bereich der Pferdemähne, aber auch das kantige Antlitz des Soldaten sorgsam betastete und so ein Ganzes jenes Spielzeuges imaginierte, das ihm durchaus gefällig erschien.
    "Ein schönes Geschenk, durchaus!"
    lobte er die Arbeit schlussendlich gegenüber jenem Sklaven, der ihm zu attendieren eingeteilt war und dank der längeren Experienzien mit seinem jungen Herrn, den die Hypermetropie seit geraumer Zeit plagte, keine Verwirrung evozierte, wobei er sich dennoch schmerzlich bewusst wurde, dass es geradezu impossibel war, dass jener Makel vor den Eltern zu verbergen war, selbst wenn der Knabe wiederholt und eindringlich gemahnt hatte, diese unter keinen Umständen darüber zu informieren.

    Selbstredend hatte auch der Knabe jenen Weg eingeschlagen, den die versammelte Kultgemeinde der Quiriten gewählt hatte, um der Diana Nemorensis ihre Satisfaktion zu verschaffen, sodass er in der Schar der Ministri den Aventinus hinab und auf die Via Appia marschiert war. Nachdem ihm bereits jene Distanz, insonderheit ob der Steigung des plebejischen Hügels Roms durchaus strapaziös erschienen war, steigerte vor den Toren der Stadt der Anblick des erbarmungswürdigen Leichnams, den man an das gräuliche Marterwerkzeug, dessen Funktion ihm lediglich aus horriblen Geschichten flavischer Vernae bekannt war, gebunden hatte, sein Missbehagen. Nur einen Augenschlag vermochte er jene Szenerie zu begutachten, ehe er sich angewidert abwandte, um seine vor dem durchaus nicht zu übergehenden Bauch gefalteten Hände zu fixieren, während er nun lediglich auditiv die Unmutsbekundungen des gemeinen Pöbels vernahm, deren Reaktion ihm angesichts des Ausmaßes des Frevels, den ihm sein Vater mitgeteilt hatte, durchaus adäquat sich gebar.


    Nachdem nun jenes unwürdige Schauspiel vollendet war, setzte sich die Prozession neuerlich in Bewegung und auch der Knabe hatte seinen Amtcollegae zu folgen, deren überaus gravitätische Mienen zumeist einer heiteren Spannung gewichen waren, die sich auch in gelegentlichen, wenn auch gedämpften Gesprächen manifestierte. Augenscheinlich erschien es den meisten als erbauliches Spektakel, an dem sie zu partizipieren die Ehre hatten. Manius Minor indessen wünschte sich nach einigen Meilen inständig, niemals Teil jenes Dienstes zu sein, während er bisweilen den Schweiß von der Stirn zu wischen hatte, während seine Tunica insonderheit in der Gegend seines Rückens den kühlenden Schweiß seines Leibes aufsog und damit neutralisierte.

    Seinem aufmerksamen Lauschen verdankte der Knabe, dass er just im rechten Augenblick sich in Bewegung setzte, das Culter aufgerichtet wie eine Standarte und mit beiden Händen haltend. Sein Antlitz war unterdessen eine starre Maske, deren Blick zwischen höchster Konzentration und größter Furcht sich vermischte, während eine einzelne Schweißperle ihren Weg unter dem Lorbeerkranz und den Haaransatz hinab auf seine rechte Augenbraue antrat.


    Trotz jener Furcht überreichte Manius Minor Manius Maior das Messer bar jeden Fehltritts und kehrte, den durch seinen Leib wehenden Geist der Erleichterung verspürend, in die Reihen der übrigen Ministri zurück.

    Bereits zum wiederholten Male erschien der junge Flavius mit tränenden Augen in seinem Zimmer, sich den Kopf haltend und dreinblickend, als habe man ihn gleich einem Hunde geprügelt. Doch der Grund für sein vormittägliches Erscheinen war vielmehr der, dass er zum wiederholten Male an Kopfschmerzen laborierte, die sich bis zu seinen Augen hin zogen und ihm das Verfolgen des Unterrichtes verunmöglichten. Niedergeschlagen warf er sich aufs Bett, während ein Sklave hilflos an seiner Seite stand, unschlüssig wie er das Leiden seines jungen Herrn zu lindern vermochte.


    Manius Minor indessen war an diesem Tage nicht nur traurig, sondern geradezu wütend auf seinen Körper, vielmehr auf sein Sehvermögen, das augenscheinlich nicht geneigt war, sich seinem Willen zu unterwerfen. Jene Buchstabenreihen und Karten, die Artaxias während seines Unterrichts verwendete und am Ende des Raumes an die Wand hängte, waren für den Knaben problemlos zu erkennen, doch reichte man ihm eine Tabula, so schien es seit geraumer Zeit, als verschwimme die Realität vor seinem Antlitz immer stärker, sodass es ihm nun nicht mehr möglich war, die Zeichen, die man ihm ins Wachs ritzte, zu erkennen. Je mehr er sich bemühte, desto größer wurden indessen die Kopfschmerzen, die sich seither aber augenscheinlich prinzipiell nach längerem Schulbesuch einstellten, sodass Manius Minor immer häufiger genötigt war, die Ludus zu verlassen und sein Schlafzimmer aufzusuchen. Zu Trauer und Verärgerung angesichts dieser Unpässlichkeit mischte sich allerdings auch eine Furcht, ob dessen für den Besuch eines angesehenen Grammaticus auf dem Forum nicht geeignet zu sein und seiner Familie sein Unvermögen beichten zu müssen.

    Der Begriff der "Strapazen" mochte durchaus eine Umschreibung für den Schmerz der Niederkunft darstellen, doch ließ sich für den Knaben darunter eine größte Bandbreite von Bedeutungen subsummieren: Ein Gang hinauf zum Capitolium konnte ebenso als strapaziös bezeichnet werden wie ein Marsch durch die unbarmherzigen Weiten der Wüste, die das Imperium an seiner südlichen Grenze delimitierten, ebenso erschienen dem jungen Flavius auch sämtliche Stunden, in denen Artaxias versuchte Diarmuìd und ihn in die Mysterien der Elementarmathematik einzuweihen, überaus strapaziös. Letzten Endes schloss er aus dieser Aussage folglich nur, dass es sich bei dem Prozess der Entbindung eines Säuglings um einen wenig erfreulichen, also strapaziösen Akt handelte, der seiner Mutter größte Inkommoditäten abverlangte.


    Um ihre Ruhe und die seiner neuen Schwester, die ihm noch immer wenig attraktiv erschien ob ihres Geschlechtes, nicht weiter zu stören offerierte sein Vater indessen die Possibilität bei einer Salutatio zu attendieren, die sich Manius Minor höchst selten bot und die er mit Freuden annahm, da es stets den Stolz des Sohnes auf den Vater förderte, wenn eine große Schar von Bürgern in größter Unterwürfigkeit sich diesem präsentierten und beiläufig auch ihren zukünftigen Patronus und Herrn ihre Referenz erwiesen.
    "Sehr gern! Jetzt sofort?"
    fügte er unvermittelt an, nicht eingedenk der Tatsache, dass es dem Usus entsprach, dass der Patronus seine Klienten stets warten ließ, um dann einen Auftritt vor der versammelten Grex Togata zu genießen, die um diese Uhrzeit wohl noch nicht vollzählig erschienen war, sodass noch genügend Zeit für ein kleines Prandium vorhanden war.

    Im Gegensatz zu anderen Kasus, in denen die Aufmerksamkeit des Knaben recht rasch abgeschweift war von dem Geschehen auf dem Tribunal, vermochte er diesmal die Verhandlung gänzlich zu verfolgen, was zum Einen auf ihre schlichte Kürze, zum anderen indessen auch auf ihren durchaus faszinierende Gegenstand zurückzuführen war, selbst wenn der Advocatus der Gegenseite von geringem Potential zu sein schien.


    Im Anschluss erfolgte jedoch sogleich das Opfer, bei dem auch Manius Minor attendierte, während Manius Maior die Ehre hatte, als Opferherr zu fungieren. Durchaus schwang noch eine gewisse Angst mit bei dem jungen Flavius, der sich gut erinnerte an jene durchaus beschämende Darbietung anlässlich des kaiserlichen Geburtstages. So hatte er in diesem Falle eine weitaus simplere, aber dennoch ehrenvolle Aufgabe gewählt, indem er seinem Vater zum rechten Zeitpunkt das Opfermesser darreichte. Bereits jetzt lag es schwer in seiner Hand und für einen Augenblick nahm sich der Knabe die Zeit, auf Neue die fein ziselierten Linien auf seinem Blatt zu inspizieren, die ornamentale, aber auch figürliche Motive zeigten.


    Dann gleichwohl wurde sein Interesse wieder auf die Kulthandlungen zurückbeordert, als neben ihm sein Freund Diarmuìd vortrat, um Gracchus Maior die Mola Salsa zu reichen, mit der die Kuh dem Göttin geweiht werden sollte. Rasch traf daher auch der jüngere Gracchus den Beschluss, nicht weiter seine Gedanken schweifen zu lassen, da sein Auftritt herannahte, der trotz seiner Kürze durchaus furchterregend erschien und kleine Schweißperlen auf der Stirn des Knaben erscheinen ließ.

    Als er seinen Kosenamen vernahm, wurde der Knabe sich aufs Neuerliche gewahr, dass er seit geraumer Zeit den Wunsch hegte, diesen Namen, der ja den Superlativ minderer Größe darstellte und spätestens seit heute, da diese Titulatur für ihn nicht mehr der Wahrheit entsprach (obschon er darüber hinaus noch immer weitaus weniger an Körpergröße gewonnen hatte, als er dies wünschte), abzulegen. Doch erschien ihm die Diskussion dieser Frage in jenem Augenblick als unangebracht, sodass er schwieg, die Hand auf seiner Schulter ertrug und den Erklärungen des älteren Gracchus lauschte.


    Diese traf ihn indessen durchaus überraschend, da sie sämtliche Szenerien, die Manius Minor sich imaginiert hatte und in denen er mit seinem jüngeren Bruder vergnügt durch den Park eilte, Koalitionen gegen seinen Freund Aquilianus schloss oder lediglich einhellig im Spiel vereint war, zerbarsten wie ein zu Boden fallender Glaspokal. Für ein Mädchen mochten dem jungen Flavius sich keinerlei Aktivitäten in den Sinn kommen, zumal er bisher kaum Kontakt mit solchen hegte, da die Töchter der Sklaven für gewöhnlich keinen Einlass erhielten in die Räumlichkeiten des jungen Stammhalters. So fühlte er sich geneigt, diese neuerliche Information lediglich mit einem Schulterzucken zu quittieren und dann eilig zu seinem Spiele zurückzukehren.


    Doch die weitere Offenbahrung seines Vaters konfundierte ihn aufs Neuerliche, schien sie doch erklären zu wollen, dass seine Mutter ihr Leben gegen das seines Schwesterchens einzutauschen gezwungen war. So ging sein furchtsamer Blick hinüber zu den beiden Damen der Familie, zwischen denen das Leben augenscheinlich zirkulieren würde. Da der mütterliche Blick indessen durchaus vital erschien, erkannte der Knabe augenblicklich seinen Irrtum und musste sich schelten, nicht mit jener Logik die Situation erfasst zu haben, die sein Lehrer Artaxias ihm stets einzuflößen bemüht war: Wenn sein Schluss wahr wäre, würde folgender Syllogismus zu gelten haben:
    Die Götter fordern den Tod der Mutter bei der Geburt des Kindes.
    Mama ist eine Mutter seit meiner Geburt.
    Die Götter fordern den Tod von Mama bei meiner Geburt.
    Da seine Mutter aber augenscheinlich noch dazu in der Lage war, ein weiteres Kind zu gebären, so musste der Tribut der Götter weitaus weniger fundamental sein. Folglich bestand vermutlich kein großer Grund zur Sorge, zumal auch sein Vater sich nicht genötigt fühlte, seiner Mutter zur Hilfe zu eilen. Dennoch wollte er Sicherheit gewinnen über die Unbedenklichkeit der Situation, weshalb er fragte:
    "Welchen Tribut?"

    Die Emotionen, die die innozente Frage des Knaben evozierten, stürzten jenen in tiefste Konfusion, die selbst jenes tapfere Lächeln, das seine Mutter ihm bereits im folgenden Augenblicke wieder schenkte, nicht zu klarifizeren vermochte. Augenscheinlich handelte es sich um einen Fehler seinerseits, obschon es ihm völlig uneinsichtig erschien, dass er jener knappen Zeit, in der er im Cubiculum seiner Mutter verweilte, sich bereits einen Fehltritt geleistet haben konnte oder gar von welcher Art dieser sein mochte. So trat er instinktiv einen Schritt zurück, weg von seiner Mutter, der er seiner Assumption nach neuerlichen Kummer bereitet hatte.


    Aus jener weiter entfernten Perspektive hingegen erschien ein neuerlicher Gedanke am mentalen Horizont des jungen Flavius, der ebenso eine plausible Erklärung jener Umstände darstellte wie auch ihn von der Schuld am Gefühlsausbruch seiner Mutter absolvierte: Mochte seinem neuen Bruder schlichtweg etwas fehlen? Noch war es dem Knaben impossibel zu erwägen, welche Problematik die Geburt eines Kindes zu bieten vermochte, dennoch keimte eine Ahnung möglicher Inzidenzien eines derartigen Eingriffs auf, welche einen betretenen Gesichtsausdruck auf das Antlitz Manius Minors zauberten, wie er ihn auch angesichts unerfreulicher Ereignisse wie Beisetzungen oder schlichtweg schuldzuweisenden Konflikten bei Erwachsenen, insonderheit seinem Vater, wahrgenommen hatte. Eben zu letzterem wandte sich nun auch sein fragender Blick, da es wohl lediglich diesem möglich schien, Klarheit in den interpretativen Nebel des Erlebten zu bringen.

    Im vollen Ornat eines Minister, als der er heute aufs Neue zu fungieren die Ehre hatte, wurde heute auch der Manius Minor an diesem Tage aufgeboten um seinen Dienst zu leisten für die Res Publica und die Pax Deorum, wie es seit jeher die Pflicht und Ehre seines edlen Geschlechtes gewesen war. Mit einer Mimik, die die väterliche zu kopieren suchte und die durch die inzwischen durchaus häufige Übung in der Tat als dessen infantile Edition zu betrachten war, stand der Knabe daher ein wenig abseits der Tribüne, auf der Manius Maior heute zuerst seinen jurisdiktionellen Pflichten nachkam, ehe er kurz darauf auch die kultischen auszuführen gedachte. Obschon dem jungen Flavius durch den Fortgang des Jahres die Liktoren, die seinem Vater assistierten, bereits vertraut waren, erfüllte es ihn heute neuerlich mit Stolz, dass eben jener Vater durch das Volk und die Unsterblichen die Macht gegeben worden war zu richten über Leben und Tod.

    Obschon der Knabe bereits seit geraumer Zeit Kenntnis von den differenten Umständen hatte, in denen sich seine Mutter befand, erfüllte es ihn dennoch mit Erstaunen, als die Sklaven ihn über den Eintritt seines Geschwisterchens in die Welt der Lebenden informierten. Eine Schilderung näherer Umstände verweigernd hatte man ihn indessen encouragiert, selbst jenes zarten Geschöpfes ansichtig zu werden, sodass er trotz seines Leibesumfangs, der geradezu eine Redition zurück zu jenem infantilen Phänomen, welches gemeinhin als "Babyspeck" tituliert wurde, darstellte, herbeieilte in das Cubiculum seiner Mutter, um seines erhofften Brüderchens ansichtig zu werden.


    Voller Elation stürzte er durch die Porta und wurde sich der Situation gewahr: Im dämmrigen Licht des erstehenden Tages lag seine claudische Mutter matt glänzend und zugleich ermattet wirkend auf ihrem Bett, sein Vater stand neben ihr, ebenso zahllose Sklaven und Diener, unter welchen sich zweifelsohne die Hebamme befand.
    Und an der Seite Antonias lag ein winziges Bündel, wessen der junge Flavius erst auf den zweiten Blick ansichtig wurde. Ohne Verzögerung verbreitete sich in Manius Minor ein Gefühl, welches schwerlich zu beschreiben war, da es zwischen Ehrfurcht, wie sie angesichts jener uralten Rituale des Staates sich in den Geist jedes Römers drängten, aber auch Freude und Neugierde, wie sie sich bei der Überreichung eines Präsents bei dem jungen Flavius auftraten, zu schweben schien. Erfüllt von jenen Regungen machte der Knabe daher einen vorsichtigen Schritt, als prüften seine Beine die Festigkeit einer Eisdecke, auf seine Mutter hin, ehe er, da er augenscheinlich während der vorhergehenden Worte das Zimmer noch nicht betreten hatte, demütig und mit gedämpfter Stimme zu fragen wagte:
    "Wie lautet sein Name?"

    Im Orbit der Gedanken des Knaben schwebten jene Begrifflichkeiten, welcher Onkel Piso sich bediente, fortwährend umher. Eine eheliche Vereinigung "ohne Hand" und "durch Gebrauch" evozierte bei ihm die Imagination einer Freiheit körperlicher Gewalt, da er die Hand aus seiner infantilen Perspektive prinzipiell mit der elterlichen Gewalt zu strafen asoziierte, obschon dies in seinem Falle freilich niemals geschah, sondern die Strafen auf weitaus subtilere Art und Weise erfolgten.


    Erfreulicherweise sparte sein Lehrer indessen diesen jurisprudenziellen Teil des Eherechts vorerst aus, sondern schien sein Interesse jenen Sitten und Gebräuchen zuzuwenden, welche eine Hochzeit zu umgeben pflegten.
    "Durchaus. Ich war schon auf einigen Hochzeiten!"
    Dank der weiten Verzweigung der Gens Flavia, die in zahlreiche nobilitäre Familien Roms hineinragten, hatte der junge Flavius durchaus nicht selten die Ehre gehabt, an derartigen Feierlichkeiten zu partizipieren. Insbesondere vermochte er sich dessenungeachtet eines Anlasses zu erinnern, der durchaus lange Zeit zurücklag, sogar bar jedweder flavischer Brautleute durchgeführt worden war, dennoch aber spezielle Remineszensen erzeugten:
    "Bei der Hochzeit des Tiberius Durus durfte ich gar die Hochzeitsfackel tragen!"
    Noch immer vermochte er sich an jenen warmen Schein erinnern, welcher an jenem Abend vor seinem Antlitz geleuchtet hatte.

    Erst jene Expression offenbarte dem Knaben die Intention des Themenwechsels, den Onkel Piso initiiert hatte. Selbstredend evozierte es neuerlichen Gram und Disturbation bei dem jungen Flavius, der sich bereits in seichteren Themengefilden gewähnt hatte und nun aufs Neue hart auf dem Boden der jurisprudenziellen Faktizität aufgeschlagen war. In der Tat trat bereits der Introitus jenes familienrechtlichen Arbeitsbereiches mit einer Fülle an Fachtermini auf, die zu neuerlicher Konfusion bei Manius Minor führten. Lediglich der Wortlaut der Begrifflichkeiten, die wohl mit 'ohne Hand' und 'durch Gebrauch' zu transferrieren waren, vermochte möglicherweise einen Hinweis zu bieten, sodass er mit größter Vorsicht und Insekurität seine Assumption formulierte.
    "So, wie es unsere Väter taten?"
    Eine derartige Begründung eines gemeinhin geübten Brauches erschien dem Knaben stets als agreabel, weshalb er auch bei diesem Kasus auf einen Erfolg zu hoffen wagte.

    Die avunkuläre Perspektive einer weiteren Verwandten vermochte den Knaben nicht in sonderlich große Freude zu versetzen, da er bereits über eine schier unüberblickliche Schar von Onkeln und Tanten verfügte, deren differente Kohäsionen mit ihm sich bereits unter diesen Umständen seiner Kenntnis oftmals entzogen. Da indessen ein Gespräch über ein derartiges Thema augenscheinlich versprach, jenes diskonzertierenden Stoffkonvolut der Iurisprudenz zu verlassen, wirkte die Miene des jungen Flavius dennoch erfreut, um nicht zu sagen erleichtert. Dass letztere Frage dabei aufs neuerliche durchaus auf die trockene Materie zurückverwies, ahnte er nicht, sodass er bar jeder Suspektion ein inculpables
    "Wie?"
    erwiderte.

    Obschon der Knabe dank seiner bisherigen Impressionen, die sämtlich aus den besten Küchen Roms stammten, niemals gravierende Differenzen qualitativer Art zwischen unterschiedlichen Speisegelegenheiten hatte konstatieren können, erfreute ihn doch die Perspektive eines köstlichen Lammbratens durchaus, selbst wenn er doch Geflügel ob seiner Weichheit präferierte.
    "Dann gehe ich mich umziehen!"
    verkündete er daher und machte sich eiligst auf, sein Opfergewand gegen ein für die Cenatio geeignetes Kleidungsstück zu tauschen, das seine Sklaven ihm zweifelsohne bereits sorgsam präpariert hatten.

    Nachdem der Knabe für wenige Herzschläge die Geborgenheit und bedingungslose Zuneigung, die sich in einem derartigen Gestus manifestierte, genossen hatte, brach sein Vater jenen behaglichen Bann und rekurrierte neuerlich auf den Anlass des Zusammentreffens wie auch dessen Resultate. Ein wenig zögerlich zog der junge Flavius ob dessen seine Hände zurück und blickte wieder hinauf zu Manius Maior, dessen niemals müßiger Geist stets bereits die Zukunft im Sinn hatte.
    "Gut, dann essen wir heute Abend zu Hause?"
    richtete er ob dessen sogleich eine Frage an Manius Maior, da ihm auch in seinen noch jungen Jahren nicht selten die Pflicht oblag, seine Eltern zu gesellschaftlichen Anlässen, insonderheit Convivia, zu geleiten, was ihm stets ein hohes Maß an Geduld, sei es in Erwartung der kredenzten Speisenfolge, sei es bis zur Vollendung der parentalen Gespräche, abverlangte. In der Villa Flavia hingegen und im engsten Kreise der Familie pflegte der Knabe hingegen mit größter Freude sein Nachtmahl einzunehmen, woraufhin ihm nicht selten gestattet wurde, einfach zu seinem Spiel zurückzukehren.

    Der geradezu feierliche Tonfall, mit der sein Vater nun zu dem Knaben zu sprechen begann, evozierte in diesem eine unbestimmte Ahnung der Gravität jener neuerlichen Bürde, die sich zu jener ohnehin bereits als durchaus bedeutend empfundenen Pflicht der Erwartungen seiner Familie addierte. Noch mochte jene Zeit, in der er die Ehre und Pflicht haben würde das Haupt der Familia Flavia Graccha zu sein, noch in weiter Ferne liegen, dennoch ließ diese Perspektive Manius Minor in nicht geringem Maße befangen werden, erschien ihm doch die Nicht-Existenz seines Vaters gänzlich inimmaginabel.
    "Ich liebe dich und Mama auch!"
    replizierte er schließlich dennoch die erbaulichen Worte Manius Maiors, die dennoch wohl auch weiterhin jene Erwartung transportierten, mit deren Erfüllung der Knabe hoffte all jene parentale Zuneigung gewissermaßen zurückzahlen zu können. Zur Bekräftigung jener tiefen Liebe, die er gegenüber seinem überaus geschätzten Vater empfand, schien es ihm geraten auf diesen zuzutreten und ihn herzlich zu umarmen. Diesem Drang gab er sogleich nach und lag somit bereits einen Augenblick später in den väterlichen Armen.

    Der Knabe kam zu dem Schluss, dass Integrität schlichtweg mit einem positivem Verhalten zu äqualisieren war, was zweifelsohne für eine infantile Imaginationskraft eine überaus adäquate Definition darstellte. Dass dieses Faktum indessen dazu geeignet war, den Paragraphen oder gar den vollständigen Codex Iuridicialis in seine Gänze zu erfassen, war selbstredend ein Irrtum, dessen Wahrhaftigkeit sich für einen kurzen Augenblick im Antlitz des jungen Flavius manifestierte. Dennoch gelang es ihm im sofortigen Anschluss eine saturiert wirkende Miene aufzusetzen, während er, bemüht die Erwartungen seines Onkels zu erfüllen, mit fester Stimme ein
    "Ja!"
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