Beiträge von Flavia Nigrina

    Der Hausherr war noch nicht da, und zumindest für eine kurze Zeitspanne hegte Nigrina sogar die Hoffnung, dass er gar nicht auftauchen würde. Eine Hoffnung, die sich aber bald in Nichts auflöste, als der Vescularius doch noch erschien. Sie musterte ihn, als er eintrat, vorsichtig und unschlüssig zugleich, weil sie offen gestanden keine Ahnung hatte, wie sie sich hier verhalten sollte. War sie nun eine Gefangene? Eine Geisel? Irgendwas in der Art sicher, immerhin konnte sie ja nicht mal selbst entscheiden wo sie wohnte, aber selbst da gab es noch große Unterschiede, fand sie. Und darin wie sie damit umging dann erst recht. Sollte sie trotzig sein, wütend, abweisend? Oder sollte sie nicht viel eher versuchen, sich den Mann gewogen zu machen? Immerhin lebte sie nun bei ihm, nicht wirklich freiwillig zwar, aber trotzdem. Und er würde ihr einen Ehemann aussuchen, wenn kein Wunder geschah. UND zu guter Letzt: er war der Kaiser. Oder würde es bald sein. Wäre vermutlich dumm, nicht zu versuchen sich mit ihm gut zu stellen.


    Da er sich zu ihr setzte, musste sie sich allerdings entscheiden, und vorerst beschloss sie, einen Mittelweg einzuschlagen, nicht zu freundlich, nicht zu abweisend. Ließ ihr beide Wege noch offen. Und solange sie nicht so recht wusste woran sie war, war das wohl am besten. „Salve...“ Was nun? Noch-Praefectus? Bald-Imperator? „Ja... das ist es. Deine...“ Nigrina suchte nach einem höflichen Wort, während sie sich zu einem Lächeln durchrang und in ihrem Korbstuhl etwas bequemer hinsetzte. „... Schutzbefohlenen haben einen außergewöhnlichen Geschmack. Dankenswerterweise hat mir eine ihre Kleidertruhe zur Verfügung gestellt, um etwas Passendes für heute Abend zu finden. Bis meine Sachen hier sind, dauert es offenbar noch etwas.“

    „Nein.“
    „Aber-“
    „Nein!“ Das war nun eine so kategorische Ablehnung, dass selbst Varena eingeschüchtert den Kopf einzog – und die Klappe hielt. Hinsichtlich ihres Beschlusses, sich mit dem Ding gut zu stellen, überlegte Nigrina flüchtig, ob sie ihre Aussage wenigstens etwas abschwächen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Zum einen konnte es genauso gut sein, dass Varena mit ihrer Geschwätzigkeit sie zum Reden bringen und aushorchen sollte, ein Gedanke, der ihr nach dem Bad gekommen war, als nach der langen Phase der Entspannung ihre Gedanken wieder etwas reibungsloser flossen – ein gesundes Misstrauen und eine gewisse Distanz konnten also definitiv nicht schaden. Zum anderen, und das war ihr schon während ihres Bads klar geworden, würde sie es ganz sicher nicht aushalten, dieses Plappermaul von nun an die ganze Zeit um sich zu haben – das Ziehen von ein paar klaren Grenzen war also unabdingbar, um ihre Privatsphäre und mehr noch ihre Nerven zu schützen, und je eher sie das tat, desto besser. Außerdem gab es hier keinen Verhandlungsspielraum. Das da würde sie ganz sicher nicht zum Abendessen anziehen.
    Das da war übrigens ein Stück Stoff, das mit gutem Willen auch als Kleid bezeichnet werden konnte... mit viel gutem Willen. Ein paar Lagen aus Seide, aber gerade so nicht genug, dass wesentliche Dinge trotzdem noch sehr gut erahnbar waren. Und als wäre das nicht genug, gewährte der Schnitt darüber hinaus sehr großzügige Einblicke. Zu großzügige, für ihren Geschmack.
    Dabei war es ja nicht so, dass Nigrina prüde war. Ganz sicher nicht. Sie liebte es zu zeigen, dass sie gut aussah, und sie war stolz auf ihren Körper, in den sie auch einiges investierte an Zeit und Mühe. Ihre Kleider waren allesamt figurbetont. Und sie hatte auch ein paar von der sehr freizügigen Sorte. Allerdings waren die in ihren Augen halt nur was für bestimmte Gelegenheiten. Wenn sie die anzog, dann wollte sie nicht zum Abendessen gehen, dann wollte sie das Abendessen sein. Was mit ihrem Mann durchaus manches Mal der Fall gewesen war, aber der war eben nicht hier, und auch, wenn sie wenig Zweifel hatte was den Vescularius betraf... sie musste ihn ja nicht unbedingt auch noch herausfordern.


    Das Problem war nur: Varena schien nichts zu besitzen außer Kleidern dieser Art. „Du musst doch noch was anderes haben“, nörgelte Nigrina trotzdem in einem weiteren Versuch.
    „Tut mir wirklich leid. Salinator mag solche Kleider am liebsten“, entschuldigte Varena sich in einem treuherzig-doofen Tonfall und exakt der Miene, die dazu passte.
    Wie war das das noch mal? Ah ja. Dumm wie Stroh. Nigrina begann allerdings zu argwöhnen, dass es so viel Dummheit gar nicht geben konnte und die ihr irgendwas vorspielte. Andererseits: dass der Vescularius an seinen Betthäschen exakt solche Kleider mochte, war nicht weiter überraschend, wenn Nigrina sich daran zurück erinnerte, was diese Thalia bei ihnen getragen hatte. Und Thalia war ne ähnlich doofe Pute gewesen. „Können wir nicht jemanden zur Villa Aurelia schicken, der was von mir holt?“ In ihren eigenen Sachen würde sie sich ohnehin wohler fühlen als in einem geliehenen Kleid, das schon jemand vor ihr getragen hatte.
    Varena zuckte allerdings entschuldigend die Achseln. „Für die nächsten Tage sicher. Aber für heute Abend reicht die Zeit nicht mehr.“ Sie hob ein anderes Kleid hoch, das wenn möglich noch offenherziger war. „Wie wär’s damit?“


    Einen Augenblick starrte Nigrina sie nur an. Dann wandte sie sich wortlos ab und wühlte sich selbst durch den Kleiderstapel, den Varena nach und nach, je unzufriedener die Flavia sich gezeigt hatte, hatte herbringen lassen. Schließlich zog sie ein Kleid hervor, das sie bereits mehrmals in der Hand gehabt und auch angezogen hatte. Es war von einem kräftigen Dunkelblau, was die Farbe ihrer Augen betonen würde – und gemeinsam mit ihren schwarzen Haaren auch ihre blasse Haut. Den Vorteil immerhin hatten die letzten Tage gehabt: sie war blass wie selten, und das ohne irgendwelche kosmetischen Hilfsmittel.
    Das Kleid war darüber hinaus auch aus Seide, ein Stoff, den Nigrina mochte – genauer gesagt bestand es aus mehreren fließenden Lagen, zwar sehr figurbetont, aber blickdicht. Und mit ein paar richtig platzierten Fibeln konnten die Stellen raffiniert zusammengehalten werden, wo der Stoff eigentlich immer wieder auseinanderklaffen sollte, um freien Blick auf nackte Haut zu gewähren.
    Mit diesem Kleid also, bereichert um ein paar zusätzliche Fibeln, die wie gewollter Schmuck wirkten, aber verhinderten, dass zu viel gesehen werden konnte, dazu geschminkt und ihre Haare in einer komplizierten Hochsteckfrisur zurückgehalten, aus der ein Teil wieder lang auf ihren Rücken hinunter fiel, erschien Nigrina zur Cena.

    Dumm wie Stroh, wie Nigrina zusammenfassend über das Ding feststellte. Aber ihr gegenüber scheinbar recht aufgeschlossen, was so ziemlich das Positivste war, das ihr seit längerem passierte. Es war nützlich, hier jemanden zu haben, der ihr wohlgesonnen war – gerade jemand, der dumm wie Stroh war, denn je dümmer, desto manipulierbarer. Und es tat gut, jemanden zu haben, der ihr wohlgesonnen war... selbst wenn dieser jemand dumm war wie Stroh. Nigrina hätte es nie laut zugegeben und tat es selbst im Stillen nur bedingt – aber sie konnte jemanden gebrauchen, der zur Abwechslung mal einfach nur nett zu ihr war.


    Sie hatte ja so ihre Zweifel gehabt, ob Varena – nachdem Nigrina beschlossen hatte, dass das Ding ihr von Nutzen sein könnte, hatte sie sich auch die Mühe gemacht sich den Namen zu merken – sie wenigstens allein lassen würde, wenn sie dann zum Baden ging... Aber tatsächlich, da verabschiedete sie sich von ihr, nicht ohne ihr allerdings zu versprechen, dass sie später wieder kommen würde – mit ein paar Kleidern für sie, weil sie ja selbst keine hier hatte und sie den alten Fetzen doch sicher nicht mehr würde anziehen wollen.


    Im Bad hatte sie sich ausgiebig Zeit gelassen. Zeit hatte sie ja auch immerhin, den ganzen Nachmittag, und genau das nutzte sie auch. Sie ließ sich zuerst einweichen im Wasser, dann einschäumen mit irgendwelchen wohlriechenden Waschsubstanzen, abreiben mit gröberen und feineren Schwämmen, bis auch gefühlt der letzte Schmutz verschwunden war, die Haare waschen und die Kopfhaut massieren, sich enthaaren, noch mal waschen und schließlich einölen. Nur um eine ausgiebige Massage folgen zu lassen, nach der sie von Kopf bis Fuß eingehüllt wurde in aufgewärmte Decken, die wunderbar entspannend wirkten – so sehr, dass Nigrina ziemlich bald einschlief. Als sie aufwachte, waren die Decken immer noch warm, also hatten die Sklaven sie offenbar regelmäßig gewechselt... und sie selbst fühlte sich so wohl wie seit ihrer hastigen Abreise aus Rom nicht mehr. Mehr noch: endlich fühlte sie sich wieder wie ein Mensch, ein richtiger, wie eine Patrizierin.
    Eins musste man dem Vescularius lassen: er verstand es wirklich zu leben.

    Endlich. Nigrina schloss für einen Moment die Augen, erschöpft und erleichtert zugleich. Endlich war sie angekommen. Zwar nicht da, wo sie sein wollte, aber immerhin. Sie war schon froh, dass sie diese Irrfahrt überhaupt erst mal hinter sich hatte und wieder in einem Haus schlafen konnte, mit einem Dach über dem Kopf, in einem vernünftigen Zimmer, mit Bademöglichkeiten und geregelten Mahlzeiten.
    Nur dass es das Haus des Vescularius war.


    Angemessen genug wurde sie immerhin empfangen. Sklaven kümmerten sich um sie, brachten sie zu einem Raum, in dem sie schlafen konnte, richteten ihn her und erkundigten sich nach ihren Wünschen, und kaum waren sie verschwunden, tauchte auch schon eine weitere Frau auf, ein Mädchen fast noch, 16 Jahre alt vielleicht. Mit einem glockenhellen Lachen kam sie auf Nigrina zu und machte Anstalten, sie zu umarmen – dann allerdings fiel ihr auf, wie die Flavia aussah. Und machte wieder einen Schritt zurück. Ohne mit dem Strahlen aufzuhören. Und ohne auch nur im Mindesten peinlich berührt zu sein. „Vielleicht solltest du dich besser erst frisch machen.“ Das kam in einem unangemessen fröhlichen Tonfall, fand Nigrina – und noch schlimmer: der schien völlig ernst gemeint zu sein. Mit einem hinterfotzigen Kommentar hätte sie ja umgehen können, mehr noch, das hatte sie erwartet – aber was bitte war das?
    „Ja... sollte ich wohl“, antwortete Nigrina etwas verzögert. Den Sklaven gerade eben hatte sie bereits aufgetragen, ein Bad für sie herzurichten – und ihr schleunigst etwas zu essen kommen zu lassen, denn mittlerweile machte sich ihr Magen schmerzhaft bemerkbar.
    Bevor sie noch etwas anfügen konnte, plapperte das Ding schon wieder. „Oh, ich bin ja so aufgeregt dass du hier bist, eine Flavia, ich glaube wirklich dass das das erste Mal ist, nicht dass ich schon so lang hier bin, du wirst dich sicher wohl fühlen, wusstest du übrigens schon dass...“ Nein, wusste sie nicht. Wie auch.
    Und so ging das in einer Tour. Nigrina wurde überhäuft mit Nichtigkeiten, die allerdings nach und nach gespickt wurden mit relevanteren Informationen, vor allem dann, wenn sie die ein oder andere Frage einstreute. Musste halt nur herausgefiltert werden, was sie wirklich interessierte. Dass das Ding beispielsweise eins der aktuellen Betthäschen war, keine Sklavin, auch keine Lupa im eigentlichen Sinne – jedenfalls behauptete es das, aber was es genau war, konnte oder wollte es dann auch nicht sagen.
    Oder was in Rom passiert war in der letzten Zeit, wobei auch hier die wichtigen Dinge versteckt waren zwischen zahllosen unnützen Informationen. Nigrina zwang sich einfach, zuzuhören, manchmal gezielt nachzufragen, es aber größtenteils einfach reden zu lassen. So erschöpft wie sie gerade war, fiel ihr das nicht wirklich leicht, aber ihr Wissen über die aktuellen Geschehnisse war erschreckend dürftig. Und das Ding plapperte tatsächlich ohne Punkt und Komma und blieb auch noch, als das Essen kam, redete weiter, während Nigrina sich darauf stürzte, und störte sich nicht im Mindesten daran, wie schnell die Flavia aß.

    Nigrina zweifelte nicht daran, dass Vescularius' Leute auf sie aufpassen würden. In mehr als nur einer Hinsicht. Aber obwohl es sie gefreut hätte, wenn sie wenigstens einen Vertrauten hätte um sich haben können, hatte sie damit nicht wirklich gerechnet. Sie hatte erreichen wollen, dass sie den Parther nicht verlor... und das immerhin schloss sie aus den Worten des Vescularius, dass die Banditen auch ihn hier würden lassen müssen und nicht wieder mitnehmen konnten.


    Sie nickte also nur auf seine Anweisung hin, murmelte noch ein „Vale“, und wandte sich dann endgültig den Urbanern zu. Und schwieg, als die sie in die Mitte nahmen, als wäre sie eine Schwerverbrecherin. Das Gespräch mit dem Vescularius hatte noch dafür gesorgt, dass Adrenalin durch ihren Körper schoss und sie aufmerksam hielt, aber nun... fühlte sie sich nur noch ausgelaugt, so sehr, dass sie nicht mal mehr genug Energie in sich zu finden schien, sich darüber aufzuregen, wie die Urbaner sich positionierten. Sie folgte ihnen nur widerspruchslos hinaus, und sagte dann, bevor sie sich endgültig auf den Weg machen konnten: „Wir müssen erst sehen, wo mein Sklave abgeblieben ist.“

    Nigrina versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen – aber sie war erleichtert als der Vescularius sagte, dass sie zumindest jetzt noch nicht zur Garde musste. Dass sie ihre Ruhe haben würde... vorerst. Sie erwiderte darauf nichts, sondern nickte nur, insgeheim schon wieder mit der Hoffnung, dass er sie vielleicht nur hatte erschrecken wollen. Was ihm zwar leider gelungen war, aber der Preis war gering, wenn sie nur tatsächlich um ein Verhör herum kam. Und wie es schien, war sie hier auch endlich fertig und konnte gehen. Konnte endlich gehen, und würde hoffentlich endlich bald irgendwo ankommen. Eine Sache war da allerdings noch: „Mein Leibwächter.“ Nicht dass Nigrina aus Anstand oder Mitgefühl um dessen Wohlergehen besorgt war... die beiden anderen, die wohl noch vor Rom mit dem Rest der Gruppe waren, waren ihr auch ziemlich egal, vor allem diese Schlampe, die getratscht hatte. Aber dieser spezielle Sklave war zu wertvoll. Sie hatte keine Ahnung, was ihr Bruder damals für ihn gezahlt hatte, aber sie wusste, was ihr Vater investiert hatte, um den Burschen zu einem Gladiator ausbilden zu lassen, und das war happig gewesen, happig genug, dass es sogar jemandem in Erinnerung blieb, für den Geld keine Rolle spielte. Ein Parther also, ein ausgebildeter Gladiator, aber das allein war es noch nicht, was ihn so wertvoll machte. Es war mehr noch der Fakt, dass er gerade in letzter Zeit bewiesen hatte, dass er ein guter Leibwächter war, vor allem in dem Sinn, dass er loyal war, dass sie ihm vertrauen konnte – und so einer, in dieser Kombination, war nahezu unbezahlbar. „Er ist auch hier. Und er ist ausgebildeter Gladiator. Ich möchte ihn behalten.“ Falls der Vescularius nicht wollte, dass sie von einem ihrer Sklaven begleitet wurde, konnte sie ihn vorläufig immer noch Vollzeit in den Ludus geben, aber sie hatte nicht vor, ihn einfach den Banditen zu überlassen.


    Bevor der Vescularius antworten konnte, traten ein paar Urbaner ein – aber Nigrina warf ihnen erst einen kurzen Blick zu, als einer von ihnen fragte, wo sie hingebracht werden sollte. Flüchtig runzelte sie die Stirn, hatte der Vescularius doch vorhin noch gesagt, dass die Inthronisation sich noch in Vorbereitung befand – er also offiziell noch gar nicht Kaiser war und damit auch offiziell wohl noch gar nicht im Palast wohnte. Aber sie schwieg. Sie wollte das hier nicht noch unnötig in die Länge ziehen, jetzt, wo endlich das Ende in Sicht war.

    Auch zu dieser Veranstaltung kam Nigrina. Und wieder nicht ganz freiwillig. Gut, Valerianus die letzte Ehre zu erweisen, das hätte sie vermutlich so oder so getan, aber es war ohnehin müßig darüber nachzudenken was sie wohl getan hätte oder nicht. Es wurde erwartet, dass sie erschien, also erschien sie, an ihrem üblichen Platz, irgendwo bei den Leuten des Vescularius, in Begleitung von ein paar Sklaven, die nicht die ihren waren, und die genauso sehr dazu da waren ihr jeden Wunsch zu erfüllen wie auf sie aufzupassen. Nigrina presste die Lippen aufeinander. Natürlich war ihr auch schon der Gedanke gekommen, im Getümmel einfach zu verschwinden, oder es wenigstens zu versuchen. Aber selbst wenn sie das schaffte – was unwahrscheinlich war, so ganz ohne jeden vertrauenswürdige Sklaven, oder sonst eine Person, die auf ihrer Seite war –, was dann? Wo sollte sie hingehen? An wen sollte sie sich wenden? Sie traute niemandem von ihren Bekannten genug, um sich in einer derartigen Situation an sie zu wenden. Familie, das war das einzige, aber ihre Familie war ja nicht mehr da, und sie wusste nicht, wem Gracchus hier noch getraut hätte. Oder Sextus. Und es wäre Irrsinn die Villen Aurelia oder Flavia aufzusuchen, die einzigen anderen Orte, die ihr noch in den Sinn kamen, wo sie Unterstützung bekommen konnte, wenigstens die in Form von Sklaven und vielleicht etwas Geld, wenn das nicht beschlagnahmt worden war. Und selbst wenn sie wider alle Wahrscheinlichkeit es schaffen würde, sich irgendwie Unterstützung zu holen... dann wusste sie immer noch nicht, wohin dann. Ravenna? Mantua? Doch noch Tarquinia?
    Alles Blödsinn.
    Nein, so verlockend es auch war: es war sicherer, sie war sicherer, wenn sie einfach blieb wo sie war und sich mit der Situation arrangierte so gut es ging. Auch wenn ihr das schwer fiel, und in manchen Situationen schwerer als in anderen – wie jetzt beispielsweise, wo sie hörte, wie der Vescularius ihre Familie als Kaisermörder in den Dreck zog. Zwar immerhin nicht namentlich, da erwähnte er ein paar andere, aber es wusste wohl jeder, war da noch gemeint war – welch Wunder, nach der Proskription. Sie hätte zu gerne gewusst, wo Gracchus, Flaccus und Sextus jetzt wohl waren... ob sie sich wirklich auf die Seite des Corneliers geschlagen hatten. Ob sie es überhaupt geschafft hatten, sich erst mal in Sicherheit zu bringen. Von der Prima war bislang noch keine Rede, nicht offiziell und auch nicht hinter vorgehaltener Hand, jedenfalls nicht so, dass Nigrina etwas davon mitbekommen hätte – entweder hatte der Verwandte ihres Mannes sich bis jetzt also einfach noch bedeckt gehalten... oder seine Loyalität lag beim Vescularius. Und dann sah es schlecht aus.
    Nigrina jedenfalls verfolgte die Trauerrede, die mehr und mehr zu einer Kriegsrede zu mutieren schien, mit einem angemessen trauernden Gesichtsausdruck und hütete sich darüber hinaus, sich irgendeine Regung anmerken zu lassen.

    Auch Nigrina hatte sich eingefunden. Das hier war ein Großereignis von der Sorte, das sie sich normalerweise unter keinen Umständen hätte entgehen lassen wollen... normalerweise. Jetzt sah das etwas anders aus – allerdings hatte sie keine Wahl gehabt. Sie hatte zur Zeit generell nicht wirklich die Wahl, wo sie sich blicken ließ und wo nicht. Seit sie wieder nach Rom gekommen war, logierte sie als Gast in der Casa Vescularia. Und der Hausherr bestimmte ihre Schritte, vor allem dann, wenn sie vorhatte sie außerhalb seiner Mauern zu setzen. Offiziell mochte sie sein Gast sein, aber nichts täuschte darüber hinweg, dass sie das nicht wirklich war. Auch hier nicht... sie sah mehr als ein bekanntes Gesicht in der Menge, die sie umgab, und sie meinte die Blicke zu spüren, die zu ihr schweiften, auf ihr lagen, beinahe als ob sie sie körperlich berührten. Sie stand bei jenen, die zum Gefolge des Vesculariers gehörten, und allein das war schon ungewöhnlich als Patrizierin – aber wer sie, wer ihr Gesicht kannte, der wusste auch, dass sie aus einer Familie von Verrätern stammte. Und mit einem verheiratet war. Natürlich warf das Fragen auf. Solange der offizielle Akt allerdings noch nicht vorüber war, konnte ihr die keiner stellen, nicht einmal ihre sogenannten Freundinnen, die jedenfalls, die noch in Rom waren und von denen sie durchaus auch die ein oder andere entdeckt hatte. Worüber Nigrina durchaus froh war – nicht darüber, dass sie welche entdeckt hatte, sondern darüber, dass sie sie nicht löchern konnten. Sie hätte nicht gewusst, was sie hätte sagen sollen, und vermutlich hätte das nur in einem weiteren für sie unendlich beschämendem Gespräch geendet, von denen sie in den letzten Tagen gefühlt viel zu viele über sich hatte ergehen lassen müssen. Und genau das war der Grund gewesen, warum sie, völlig untypisch für sie, der Veranstaltung am liebsten fern geblieben wäre – nicht weil es sie störte, dem neuen Kaiser die Ehrerbietung zu erweisen, sondern weil sie den Blicken und später den Gesprächen aus dem Weg hatte gehen wollen. Und dem Tuscheln hinter ihrem Rücken. Und so war sie recht erleichtert, als wenigstens das hier in der Öffentlichkeit auch schon wieder sein Ende fand und sie verschwinden konnte, ohne dass sie jemand in ein Gespräch verwickelte. Auch wenn da noch diese elende Feier anstand, auf der sie zu erscheinen hatte. Was sie, selbst unter diesen Umständen, unglaublich gefreut hätte, dort hingehen zu können, Patrizierhasser hin oder her... wenn sie nicht die Aussicht vor Augen gehabt hätte dort vorgeführt zu werden wie ein Rennpferd vor ausgesuchter Kundschaft.

    „Offensichtlich ja nur eine Frage der Zeit“, murmelte sie, diesmal mehr zu sich selbst als zu ihm. Er hatte ja gesagt, dass die Vorbereitungen für seine Inthronisierung bereits liefen. „Ich bin sicher, ich werde mich dort sehr wohl fühlen.“ Das war wieder an ihn gerichtet, wenn auch wie bereits zuvor mit Anstrengung so höflich formuliert. Nigrina spürte zunehmend, wie das, was auch immer ihr bisher geholfen hatte sich so geschmeidig und unberührt wie möglich zu geben, nachließ. Sie hatte von Anfang an nicht die Beherrschung gezeigt, die sie gerne gehabt hätte – aber selbst das, was ihr möglich gewesen war, flackerte mehr und mehr.


    Erst recht, als der Vescularius von den Praetorianern sprach. Und das in einer Art und Weise, bei der es ihr kalt den Rücken hinunter lief. Brennen vor Hass auf den Mörder. Nicht vorenthalten. Eigenhändig prüfen. Das waren alles irgendwie Formulierungen, die nicht gerade darauf schließen ließen, dass die Garde mit ihr nur ein kleines Plauderstündchen abhalten wollte – ähnlich unangenehm wie ihr Gespräch mit dem Vescularius vielleicht, aber letztlich nicht mehr als ein Gespräch. Es klang mehr danach, als ging er davon aus, dass die Schwarzröcke tatsächlich Hand anlegen würden, um herauszufinden was sie wohl wissen mochte. Sie presste die Lippen aufeinander und wich seinem Blick für Momente aus, bevor sie ihn wieder ansah und etwas erwiderte. Und obwohl sie dabei trotzig klingen wollte, hörte sich ihr Tonfall für sie eher erbärmlich an. „Ich weiß nicht mehr als das, was ich dir gerade erzählt habe. Die Garde wird auch nichts anderes herausfinden.“ Ein Kommentar, der eigentlich verdeutlichen sollte, wie unglaublich egal ihr das war, ob nun auch noch die Praetorianer mit ihr sprachen. Wenn sie es nur geschafft hätte, ihre Stimme trotzig klingen zu lassen. Oder arrogant. So allerdings klang es vermutlich mehr nach einem weiteren Versuch, sich aus der Befragung herauszuwinden. Nigrina schluckte mühsam. „Soll ich... gleich mit ihnen sprechen?“

    Hatte sie sich gerade ernsthaft Hoffnungen gemacht, er könnte sie in der Villa Flavia leben lassen? Hatte sie wohl. Es musste die Erschöpfung sein, die dazu führte, dass sie einfach nicht mehr klar denken konnte – sonst wäre ihr wohl klar gewesen, dass sie darauf gar nicht erst hätte hoffen dürfen. Wieder lag dieser angespannte, angestrengte Zug um ihre Mundwinkel, und das Lächeln, das sie diesmal auf ihre Lippen mühte, wirkte eindeutig gezwungen. „Natürlich lebt es sich in Gesellschaft viel angenehmer.“ Sklaven zählten ja nicht... allerdings wäre sie doch lieber allein gewesen – allein unter Sklaven – als die Gesellschaft des Vescularius' zu haben. Und zum ersten Mal erlaubte sie sich flüchtig die Frage, wann sie wohl in seinem Bett landen würde – gleich heute Abend, oder würde er sich damit noch etwas Zeit lassen? Denn ob sie in seinem Bett landen würde, stand in ihren Augen gar nicht mehr zur Debatte, immerhin war es nicht gerade unbekannt, dass der Vescularius sich gerne Frauen nahm. Und ihr war auch aufgefallen, wie er sie gemustert hatte – sowohl bei jenem Abendessen als auch zeitweise bei diesem Gespräch. Er fand sie anziehend, davon war sie überzeugt. Und dazu war sie eine Flavia. Ein Teil von ihr würde wohl sogar beleidigt sein, wenn er gar kein Interesse an ihr zeigen würde...
    Was allerdings nicht hieß, dass sie die Aussicht eine seiner Gespielinnen zu werden sonderlich erfreulich fand. Allerdings war es ihr immer noch lieber mit ihm zu schlafen, als im Carcer zu verrotten. Oder sich von irgendwem sonst begrabschen zu lassen, der sie für Freiwild halten mochte hier. Da stand sie lieber unter dem Schutz des Vescularius, auch wenn das hieß, ihm näher zu kommen als sie freiwillig jemals in Betracht gezogen hätte... und immerhin: der Mann war jetzt Kaiser. Er war beileibe keine Schönheit, und seine Umgangsformen ließen zu wünschen übrig... aber er war Kaiser, und Macht machte anziehend. Selbst einen Kerl wie ihn. Und wenn der Gedanke nicht half, konnte sie ihn sich immer noch schön trinken.


    „Ich wäre nur nie so vermessen gewesen zu denken, dass mir der Kaiser selbst seine Gastfreundschaft anbieten würde. Es ehrt mich, dein Gast sein zu dürfen.“ Jahrelanger Schliff in gesellschaftlichen Konversationen half dann letztlich doch, obwohl ihr eher danach zumute war auszuflippen. Oder wahlweise zu heulen. Oder ihn wenigstens doch noch zu überzeugen, sie einfach gehen zu lassen, bis er das mit Scheidung und Hochzeit arrangiert hatte.
    Als er dann allerdings die Praetorianer ins Spiel brachte, wurde sie wieder ein wenig bleicher. Er hatte sie doch gerade mehr oder weniger verhört! Und sie hatte in all seine Wünsche eingewilligt, hatte mitgespielt, hatte nachgegeben. War das nicht wenigstens genug Wert, dass er verhinderte, dass sie von den Praetorianern in die Mangel genommen wurde? „Reicht es nicht, dass ich dir deine Fragen beantwortet habe?“ Ohne es zu wollen, war in ihrer Stimme ganz schwach ein beinahe flehender Unterton zu hören. Sie hasste sich selbst dafür, aber sie konnte es auch nicht verhindern – und sie wollte endlich wieder in Sicherheit sein. Oder sich wenigstens in Sicherheit fühlen, so gut es möglich war unter den Umständen.

    „Ob mich...“ Nigrina rang nach Luft. Ob sie jemand haben wollte?!? War der Mann irre? Sie war eine FLAVIA, jeder einzelne seiner minderwertigen Gefolgsleute würde sich die Finger nach ihr lecken! Selbst mit dem kleinen Makel, dass zur Zeit sowohl ihre Familie als auch ihr Noch-Ehemann entweder wegen Hochverrats gesucht wurden oder schon verbannt worden waren.


    Wieder dauerte es einige Momente, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte, aber es fiel ihr zunehmend schwerer. Langsam, aber unaufhaltbar brach die Schutzschicht, die ihr Geist um sich selbst herum aufgebaut hatte. Jetzt, wo zumindest für den Moment klar zu sein schien, dass sie sicher war – dass ihr weder die Banditen noch der Vescularius und seine Männer etwas antun würden –, wo die unmittelbare Gefahr nachließ, ließ auch ihr Selbstschutz nach. Und es war auch nicht mehr viel von ihrer Selbstbeherrschung vorhanden. Sie war erschöpft, zutiefst erschöpft nach den vergangenen Tagen.... und dazu kam, dass sie die Ereignisse noch nicht einmal ansatzweise verarbeitet hatte, sondern sich nur in einer Art Überlebensmodus befand. Der jetzt allerdings nicht mehr nötig war, und mit ihm schwand auch der Halt, den er ihr gegeben hatte. Und dazu jetzt dieser Kommentar des Vescularius, als ob es auch nur den geringsten Zweifel daran geben könnte, dass sie jemand haben wollte... Von einem Moment zum anderen hätte sie am liebsten geheult, aber immerhin dafür reichte ihre Selbstbeherrschung, dass sie das verhinderte. Diese... ganze... Situation war so... so... Sie fand keine Worte dafür. Sie wollte... sie wollte nur noch weg hier. „Tu das“, murmelte sie endlich, ohne den begonnenen Ausruf von vorhin zu beenden. „Gibt es... noch etwas, das du von mir möchtest?“ Sie wollte dieses Gespräch beenden. Sie wollte nach Hause. Aber beides lag nicht in ihrer Hand... und sie bezweifelte, dass der Vescularius sie in der Villa Flavia wohnen lassen würde. Oder doch? Sie hoffte es. Wenn er das tat, würde sich vielleicht sogar eine Chance zur Flucht ergeben, denn selbst wenn er die Villa beobachten lassen würde – es wären ihre Sklaven, ihre und die ihrer Familie, die dort waren, und sie kannten die Villa. Irgendeine Möglichkeit würde sich dort sicher ergeben. Allein der Gedanke an diese vage Möglichkeit half ihr, sich wieder ein wenig mehr zu fassen. Und erneut etwas arroganter zu wirken. „Oder kann ich dann nach Hause gehen?“

    Es hätte sie vermutlich nicht überraschen sollen... Nein, nicht vermutlich. Es hätte sie definitiv nicht überraschen sollen. Trotzdem tat es genau das. Und zu ihrem eigenen Leidwesen brauchte sie noch ein paar Momente, bevor sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte. Hatte dieser ganze beschissene Plan nicht eigentlich zum Ziel haben sollen, dass am Ende der Vescularius als großer Verlierer da stand? Sie konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, was Sextus ihr erzählt hatte, aber dass der Mann vor ihr dabei NICHT hatte gewinnen sollen, war eigentlich klar gewesen. Warum war der Mann jetzt Kaiser, oder würde es bald sein? WARUM?
    Nigrina sah seitlich zu Boden, schloss die Augen, versteifte ihre Kiefermuskulatur. Es war klar gewesen, hämmerte sie sich selbst ein, sie hätte damit rechnen müssen. Natürlich griff der Vescularius nach dem Kaiserthron. Warum auch nicht? Er wäre blöd, wenn er es nicht tun würde, und hätte Nigrina nicht von vornherein eine Abneigung gegen alles, was unterhalb ihres Standes war, und erst recht gegen alles, was so weit unter ihrem Stand war wie ein Homo novus, und pauschal eine Abneigung gegen den Vescularius persönlich, weil er einfach er war und Patrizier benachteiligte, hätte sie ihn vermutlich bewundert. Ein Teil von ihr tat das sogar, auch wenn sie sich das nicht mal selbst eingestand.


    Nach einer für sie gefühlten Ewigkeit, in Wahrheit aber wohl bloß ein paar Augenblicke, hob sie wieder den Kopf und setzte ein Lächeln auf. „Ein Glückwunsch ist dann wohl angebracht... Imperator. Oder soll ich damit noch warten bis nach deiner Inthronisierung?“ Sie versuchte ihre Stimme neutral und fest klingen zu lassen, aber so ganz gelang ihr das nicht. Sie räusperte sich und fuhr fort: „Meiner... Scheidung steht dann wohl nichts im Weg. Ich erwähnte ja schon, dass mein Vater in Ravenna lebt.“ Auch wenn sie hoffte, dass sie ihn dort nicht mehr finden würden. Immerhin hatte sie ihm ja eine Nachricht zukommen lassen. Und wenn ihr Vater nicht aufzutreiben war, würde das Ganze hoffentlich doch platzen, oder sich zumindest aufschieben lassen. Oder würde der Vescularius dann einfach einen Vormund bestimmen, der für sie entschied?
    Nigrina schob diese Gedanken weg und beschloss, sich später damit zu beschäftigen. Erst mal musste jemand nach Ravenna geschickt werden und wieder zurück kommen, was einige Zeit dauern würde, und dann... sahen sie weiter. Stattdessen stellte sie nach einem kurzen Zögern eine andere Frage: „Hast du schon... jemanden im Sinn?“

    Nigrina presste wieder die Lippen aufeinander. Es reichte ihm nicht. Natürlich nicht. Hätte sie das geglaubt an seiner Stelle? Vermutlich nicht, gestand sie sich ein, schon allein deshalb nicht, weil sie davon ausgegangen wäre, dass sie gefragt hätte, wo ihr Mann denn hin wollte. Erneut überlegte sie, was sie sagen sollte. Sie könnte sagen, dass er zu seinen alten Ausbildungsstätten in Etrurien gewollt hatte, oder dass er ihr das zumindest gesagt hatte. Nur... falls der Vescularius auf ihre Worte hin jemanden dorthin schickte... falls er jemanden nach Tarquinia schickte, zu Sextus' altem Lehrer... Nein. Sie hatte keine Ahnung, was mit ihrem Sohn geschehen war, aber falls es einer von Velanius' Männern geschafft hatte, mit dem Knirps zu fliehen, dann würde er wohl seinen Auftrag erfüllt und ihn nach Tarquinia gebracht haben. Und falls auch nur die geringste Chance bestand, dass ihr Sohn dort war, würde sie ganz sicher nicht die Männer des Vescularius dorthin führen. Also blieb als Alternative nur, sich entweder weiter dumm zu stellen oder doch... Mantua zu erwähnen...
    „Nein“, entschied sie sich für die erste Variante. Mit einer wie sie hoffte guten Begründung, die sie versuchte angemessen zerknirscht vorzutragen: „Ich hab ihn gefragt, aber er wollte es mir nicht sagen. Er... meinte, es sei besser, wenn ich nichts wüsste. Ich sollte nur zu meinem Vater, und er würde sich bei mir melden.“ Womit sie zwar zugab, dass Sextus Geheimnisse gehabt hatte vor ihr, und der Wortwahl nach zu schließen solche, die zu gefährlich waren um sie mit ihr zu teilen, aber ihre Unwissenheit war damit auch erklärt. Und so ungewöhnlich war das gar nicht mal. Sextus hatte ihr sowieso immer nur das gesagt, was notwendig gewesen war, und es sonst kaum für nötig gehalten, sie in irgendwas einzuweihen... oder sie um Rat zu bitten, wie sie sich etwas säuerlich erinnerte. Nur wenn ihre Verbindungen ihm irgendwas gebracht hatten, dann hatte er sie freilich gerne in Anspruch genommen.


    Trotz dieser Erinnerung wollte sie sich allerdings eigentlich nicht von ihm scheiden lassen. Schon allein weil sie sich denken konnte, dass der Vescularius garantiert keinen Patrizier für sie aussuchen würde, aber auch, weil sie... nun ja. Sie hatte sich an Sextus gewöhnt. Aber sie wusste, dass sie keinen Verhandlungsspielraum hatte. Sie konnte ja schon froh sein, dass ihr Name genug Wert war, dass es für den Vescularius nützlich sein würde sie weiter zu verheiraten... sie wollte sich nicht wirklich vorstellen, wo sie sonst gelandet wäre, wenn er keinen Nutzen mehr für sie gehabt hätte, nachdem er von ihr erfahren hatte was er wissen wollte.
    Bevor sie allerdings etwas erwidern konnte, sagte der Vescularius etwas, was sie innehalten ließ. Ihre Augen weiteten sich ein wenig, und ihr Mund öffnete sich leicht. Kaiser. Kaiser? Hatte der gerade KAISER gesagt?!? „Du... bist inthronisiert worden?“ entfuhr es ihr, teils ungläubig, teils beinahe entsetzt.

    Da war es wieder, das genüssliche Grinsen. Und obwohl Nigrina gerade eben noch gedacht hatte, dass ihr dieses lieber wäre, war sie sich jetzt wieder unsicher. Aber vermutlich gab sich da einfach nicht viel. Es war nur eine andere Art von unangenehmem Grinsen, von... unangenehmer Ausstrahlung, aber in ihrer jeweiligen Art waren beide gleich. Und sie stand immer noch da und versuchte zu verdauen, was sie gerade gehört hatte. Hatte der Vescularius gerade eben wirklich gesagt, dass Tiberius Durus sich umgebracht hatte? War der Alte von Sinnen gewesen? Ein besseres Schuldeingeständnis gab es doch nicht! Von wegen ehrbarer Römer und bla, darauf gab Nigrina nicht viel – ehrbar wäre gewesen, der Folter ins Auge zu sehen! Alles, was unter Folter gestanden wurde, konnte später in Frage gestellt werden, aber wer sich selbst umbrachte, der zeigte doch, dass er etwas zu verbergen hatte. Kein Mensch brachte sich doch um, wenn er sich wirklich nichts, aber auch gar nichts hatte zu Schulden kommen lassen...


    Ihr Mund war plötzlich trocken, so trocken, dass er klebte. Sie wich dem Augenkontakt mit dem Vescularius aus und fuhr sich über den Mund, ihr Blick irrte durch das Officium, bevor er sich dann doch wieder auf den Mann vor ihr heftete. „Ich weiß nicht, wo er ist“, wiederholte sie, immer noch tonlos. Sie biss sich auf die Unterlippe, und ihre Gedanken rasten. Sie war keine Märtyrerin. Sie wollte auch gar keine sein. Wenn sie die Wahl hatte zwischen dem, was gemeinhin als richtig betrachtet werden mochte, und dem, was gut, was vorteilhaft für sie war, dann musste sie nicht lange überlegen, für was sie sich entschied. Schon gar nicht, wenn die angeblich richtige Entscheidung im schlimmsten Fall so was wie Folter oder so nach sich ziehen konnte.
    Trotzdem war auch in ihr ein Minimum an Anstand, genug, dass sie zumindest überlegte. Aber allein die Tatsache, dass Salinator noch mal nachgefragt hatte, zeugte doch davon, dass er ihr nicht geglaubt hatte vorhin. Und sie... hatte nichts davon, wenn sie sich stur stellte. Sie wollte hier so ungeschoren wie möglich heraus kommen, das war das einzige, was für sie zählte, und so viel wie möglich von dem, was sie im Erreichen dieses Ziels behindern mochte, wurde ausgeblendet. Andernfalls hätte sie vermutlich mittlerweile eine Panikattacke oder einen Nervenzusammenbruch bekommen. „Als er mich weggeschickt hat, hat er... davon gesprochen, Rom auch zu verlassen. Er wollte nach Norden. Aber das... ist schon eine Zeitlang her. Das war am Tag als der Tod des Kaisers in Rom bekannt wurde.“ Vielleicht gab sich der Praefectus mit dieser Erklärung zufrieden. Sie hoffte es. Sie konnte ja tatsächlich nicht wissen, ob Sextus seine Pläne in der Zwischenzeit geändert hatte, oder ob ihn vielleicht irgendwas aufgehalten hatte, dafür war zu viel Zeit vergangen. Was sie hingegen wusste, war Sextus' ursprüngliches Ziel... das sie immer noch nicht genannt hatte. Sie würde tun was nötig war, um selbst zu überleben, aber das änderte nichts daran, dass sie den Mann vor ihr am liebsten vor ihr im Staub kriechen sehen würde. Und für den Fall, dass die Prima sich gegen ihn stellte... er das aber noch nicht wusste... wollte sie ihm diese Überraschung – und seinen Gegnern diesen taktischen Vorteil – nicht verderben. Sie hoffte nur bei allen Göttern, dass er sich mit ihren Worten tatsächlich zufrieden gab.


    Nigrina räusperte sich, und unwillkürlich verschränkte sie wieder die Arme vor der Brust, als sie sich dem nächsten Thema zuwandte, das er auf den Tisch gebracht hatte. Scheiden lassen. Neu heiraten. Das war auch eine Variante, sie in Geißelhaft zu belassen, vermutete sie. In jedem Fall hatte er sie so unter Kontrolle – andererseits hatte sie dadurch wenigstens halbwegs Gewissheit, dass sie sicher war. Und wenigstens einen gewissen Lebensstandard haben würde, denn sie ging mal nicht davon aus, dass er sie an den Fußabtreter unter seinen Anhängern verheiraten würde. Nicht eine Flavia – dafür zählte ihr Name, der Name ihrer Familie, zu viel, das konnte nicht einmal er ignorieren. Trotzdem willigte sie nicht sofort ein. Auch wenn sie wusste, dass sie hier auf verlorenem Boden stand, hatte sie immer noch ihren Stolz, und den würde sie sich bewahren so gut es ging. „Ich bin mir sicher, dass du viele ehrbare Männer kennst. Aber ich bin nicht sui iuris.“ Sie hatte keine Ahnung, ob es da einen rechtlichen Kniff gab, wie die Einwilligung ihres Vaters übergangen werden konnte – denn sie wagte zu bezweifeln, ob der zur Zeit auffindbar war, wenn Furianus Hochverrat gestanden hatte. Mit solchen Dingen hatte sie sich weder beschäftigt noch hatte es sie je interessiert. Warum auch? Es gab eine größere Entscheidung zu treffen in ihrem Leben – ihr Vater traf sie. Sprach vorher vielleicht noch mit ihr, bezog ihre Meinung mit ein – aber er traf sie. So einfach war das. „Und mit meiner Mitgift dürfte es auch ein kleines Problem geben.“

    Zitat

    Original von POTITUS VESCULARIUS SALINATOR
    Potitus schaute die Flavia fast mitleidig an, als sie ihm die Gesichte von ihrem Vater auftischte. Ob er sie glaubte oder nicht war kaum zu erkennen, aber beeindruckt war er von ihr offenbar nicht. Zumal sie seine Frage nicht beantwortete. Bei der Gegenfrage der Flavia schnaubte Salinator verächtlich. "Beweise? Vinicius Hungaricus hat gestanden und ist im Exil. Vinicius Lucianus hat gestanden und ist im Exil. Flavius Furianus hat gestanden und ist im Exil." Auf Details der Geständnisse verzichtete er, da er sie nicht im Kopf hatte. Er wusste nicht einmal, ob in den Geständnissen Aurelius Lupus überhaupt erwähnt worden war. Hauptsache, diese Senatoren waren weit weg von Rom und die Verurteilungen schüchterten alle anderen ein. "Und der alte Tiberius hat sich gleich selbst umgebracht." In Salinators Augen die mit Abstand beste Tat, die dieser Patrizier jemals vollbracht hatte.


    Nigrina wurde noch ein Stück bleicher, wenn das überhaupt noch möglich war. Sextus hatte ihr herzlich wenig erzählt an dem Abend bevor sie aus Rom abgehauen war, und sie hatte noch weniger davon in Erinnerung – von daher war sie sich nicht sicher, ob die Namen, die Vescularius nun nannte, da dabei gewesen waren. Aber es waren freilich Namen, die bekannt waren, mehr als bekannt. Consulare. Pontifex pro Magistro. Und das Schlimmste: einer ein Vetter von ihr. Der andere der Patron ihres Mannes. Sie schloss erneut die Augen für einen Moment, öffnete sie dann wieder und hob in einer fast hilflosen Geste die Hände. Und ließ sie dann wieder sinken, diesmal mutlos. Sie hatte keine Ahnung, was sie darauf erwidern sollte. Alles, was ihr einfiel, erschien ihr irgendwie... lächerlich. Rumtoben und darauf bestehen, dass das alles Lügen waren und sie nichts davon glaubte? Darauf bestehen, dass er sie einer Patrizierin angemessen behandelte? So tun als wäre sie völlig erschüttert – gut, dafür musste sie noch nicht einmal so tun, das war sie wirklich – und beteuern, dass sie davon keine Ahnung gehabt hatte und entsetzt war über das, was sie hier erfahren musste? „Das... das ist...“ versuchte sie Worte zu finden, aber es war vergeblich. Es wollte ihr nichts einfallen. Es war lächerlich. Alles irgendwie lächerlich. Und davon abgesehen hatte der Praefectus ja bereits gezeigt, dass er auf solche Kommentare nicht einging. „Was willst du von mir?“ fragte sie schließlich tonlos.

    Ein Schauer lief über Nigrinas Rücken, und fast wünschte sie sich, der Vescularius würde sein voriges Lächeln wieder aufsetzen. Und als er anfing zu sprechen, wurde sie noch kleines Stück bleicher. Er selbst war es. Für einen Augenblick, der sich für sie endlos in die Länge zog, glaubte sie Sextus wäre gefangen genommen, verhört worden, hätte gestanden. Das Blut in ihren Adern schien aus Eiswasser zu bestehen, und die Worte dröhnten in ihren Ohren, während sie sich fragte, was das nun für sie bedeutete. Einen Augenblick lang. Und hätte der Praefect nun geschwiegen und einfach gewartet, sie wusste nicht wie sie reagiert hätte. Aber er sprach weiter, und Nigrina realisierte, dass er seine Worte völlig anders gemeint hatte als sie sie zunächst verstanden hatte. Und nachdem ihr Herz zuerst ausgesetzt zu haben schien, pochte es nun doppelt so schnell und hart weiter. Und jagte mit jedem Schlag die Frage durch sie hindurch, was um alles in der Welt sie tun sollte. Sie schloss für einen Moment die Augen und versuchte, Ruhe zu finden. Sich zu konzentrieren. „Nein“, antwortete sie mit einem halb bitteren, halb ironischen Unterton, „wenn mein Mann nicht gesucht werden würde, wäre ich wohl bei meinen Verwandten abgeliefert worden. Gegen eine... Belohnung, versteht sich.“ Sie presste die Lippen aufeinander und überlegte fieberhaft, aber wirklich viele Wahlmöglichkeiten hatte sie nicht. Das einzige, was sie wirklich tun konnte, war so zu tun als ob sie von nichts wüsste. Und sich mit dem Praefectus Urbi gut stellen, so demütigend das auch sein mochte. Sie atmete tief ein und gab sich einen Ruck, und diesmal geschah es bewusst, dass sie das auch zeigte. Sollte er ruhig merken, dass sie mit sich kämpfte, um von Konfrontation wieder Abstand zu nehmen – alles andere wäre wohl ohnehin kaum glaubwürdig. „Ein paar Tagesreisen nördlich von Rom“, beantwortete sie schließlich seine Fragen. Etwas in ihr sträubte sich nach wie vor dagegen, weil sie den Kerl einfach nicht mochte, aber das hier war kein Platz für persönliche Animositäten – und Nigrina war beileibe keine Märtyrerin oder irgendwas in der Art. Das einzige was zählte war, dass sie hier halbwegs ungeschoren davon kam. Sollte er sie ruhig als Geißel halten, aber dann doch bitte so, wie es ihrem Stand gebührte – auf eine Kerkerzelle hatte sie keine Lust. „Ich war auf dem Weg nach Ravenna zu meinem Vater. In Rom waren Unruhen im Gange, und mein Mann wollte... mich in an einem sicheren Ort wissen. Und ich habe meinen Vater schon zu lange nicht mehr gesehen. Da hat es sich angeboten, ihn nun zu besuchen.“ Sie schwieg einen Moment und presste wieder die Lippen aufeinander, unschlüssig, wie sie weiter vorgehen sollte. Ob sie passiv bleiben und einfach auf seine Fragen, seine Äußerungen warten sollte, um dann darauf zu reagieren, oder ob sie selbst eine Frage stellen sollte. „Und ich weiß nicht, wo er ist“, sagte sie zunächst noch, überlegte kurz, ob sie noch hinzufügen sollte, dass sie angeblich nicht einmal gewusst hatte, dass er Rom auch verlassen wollte... wagte es dann aber doch nicht. Stattdessen stellte sie nun doch eine Frage – und sie bemühte sich wirklich, diese nicht trotzig oder aggressiv klingen zu lassen, sondern fragend. Noch nicht so, als kämen ihr wirkliche Zweifel an Sextus' Unschuld, aber so, als ob sie sich... erste Gedanken machen würde. „Hast du Beweise für... was er getan haben soll?“

    Für einen Moment lang war Nigrina ernsthaft in Versuchung, dem Vescularius zuzustimmen. Zu sagen, dass sie nicht mehr verheiratet sei, dass sie sich von Sextus losgesagt hatte. Aber was hätte das gebracht? Es war, wie ihr Mann gesagt hatte: die Flavier steckten da genauso mit drin. Und nach dem, was der Anführer der Bande ihr erzählt hatte, standen sie zumindest auch im Verdacht – jedenfalls hatte er auch davon gesprochen, dass ihre Familie Verrat begangen habe. Und einer der Gründe, warum sie nun hier gelandet war, war der, dass in der Villa Flavia offenbar kein Flavier mehr war, der hätte Lösegeld für sie zahlen können. Und ein patrizisches Geschlecht, das ausnahmslos verschwunden war, war verdächtig. Nein... würde ihre Familie mit weißer Weste da stehen, sähe die Sache völlig anders aus, aber so... brachte es ihr nichts, sich von Sextus jetzt loszusagen.


    „Nein“, antwortete sie also spitz. „Es ist eine Lüge, dass er ein Verräter sein soll! Hast du das die Welt gesetzt oder war das jemand anders?“ Sie wusste nicht, ob es klug war, jetzt, in dieser Situation, mit dem Praefectus Urbi auf Konfrontationskurs zu gehen... aber sie konnte auch nicht an sich halten. Der Mann war ein Ekel, ein anerkannter Patrizierhasser, und vor allem anderen ein Machtmensch – natürlich setzte er solche Gerüchte in die Welt, egal ob er Beweise dafür hatte oder nicht! Warum nicht die Gelegenheit nutzen und sich gleich mehrerer unliebsamer Personen auf einen Schlag zu entledigen? Würde sie an seiner Stelle ja auch nicht anders machen, wenn es darum ginge, ihre Macht zu erhalten.

    So sehr sie sich selbst eingebläut hatte, Haltung zu wahren: Nigrina hatte sich nicht gut genug im Griff. Unwillig schoben sich ihre Brauen zusammen, und unwillkürlich sah sie an sich hinunter, während sie sich erneut kurz über ihre Kleidung strich. Alles nur kleine, flüchtige Gesten, die sie sofort wieder einstellte – aber sie waren da, und sie waren sichtbar. Und Nigrina ärgerte sich ein weiteres Mal über sich selbst. „Wie wäre es, wenn du mich von deinen Männern nach Hause bringen lässt?“ fragte sie, bemüht um einen spielerisch leichten Ton, und doch ebenso gepresst. „Ich verspreche dir auch, das erste, was ich tue, wird sein ein Bad zu nehmen. Und mich danach von meinen Sklaven herrichten zu lassen, damit ich wieder angemessen aussehe.“


    Über seine Mätresse schien der Vescularius nicht reden zu wollen, aber Nigina störte das nicht weiter. Das Ding interessierte sie nicht – es hatte sich nur angeboten als Gesprächseinstieg. Um nicht da zu stehen und gar nichts sagen zu können und den Praefectus nur anzusehen wie ein Kaninchen die Schlange. Nigrina war kein Kaninchen, sie sah sich eher selbst als die Schlange – oder noch besser als das Raubtier, dass die Schlange zerriss. Bei den nächsten Worten des Vescularius allerdings fühlte sie sich plötzlich verdächtig wie ein Beutetier. Bei den Göttern, sie wünschte sie wüsste Bescheid über das, was passiert war seit sie Rom verlassen hatte. Wenn nach Sextus nicht einfach nur gesucht wurde, weil er verbotenerweise die Stadt verlassen hatte, sondern tatsächlich beschuldigt worden war, den Kaiser ermordet zu haben... Das Blut wich ihr aus dem Gesicht, während sich in ihrem Magen ein Klumpen Eis zu bilden schien, und mit einem Mal wollte ihr nichts mehr einfallen, was sie hätte erwidern können. Nichts jedenfalls, was locker gewesen wäre, leichthin gesagt, und zugleich so, dass es ihm das Maul stopfen musste. Das einzige, was ihr einfiel, war weder sonderlich schlagfertig noch überzeugend, und trotzdem kam es zischend über ihre Lippen, weil nichts zu sagen noch schlimmer gewesen wäre: „Das ist eine Lüge!“

    Nein. Natürlich tat der Scriba nicht, was sie ihm sagte. Natürlich ließ er sie nicht gehen, und sorgte gleichzeitig noch dafür, dass sie auch der Bande entkam. Nigrina verschränkte ihre Arme noch ein bisschen fester, so dass es nun beinahe schon so aussah, als ob sie sie um ihren Oberkörper geschlungen hatte, weil sie fror – was so falsch gar nicht war. Sie fröstelte tatsächlich, aber nicht, weil ihr kalt war, und sie wollte um keinen Preis das jemand das Zittern sah, das durch ihren Körper lief. Sie hasste sich selbst für diese verräterischen Zeichen ihres Körpers. Und sie hasste den Scriba. Und diesen Sulca. Und alle, die sonst noch irgendwie Schuld daran trugen, dass sie in dieser Situation war.


    Mit aufeinander gepressten Lippen folgte sie dem Scriba, ohne sich noch einmal nach dem Kerl umzusehen, der sie hierher gebracht hatte, die Arme nach wie vor verschränkt, der Blick nach wie vor trotzig – wenn auch nicht mehr ganz so sehr wie noch zuvor. Sie bemühte sich um Haltung, klammerte sich an ihren Stolz. Sie hatte nicht vergessen, wie der Praefectus Urbi aufgetreten war, als Sextus ihn zur Cena eingeladen hatte bei ihnen, und sie wollte verdammt sein, wenn sie sich vor diesem Mann eine Blöße gab. Nun... eine größere als die, die sie zwangsläufig durch ihren Aufzug hinnehmen musste.
    Und wie von selbst schaltete etwas in ihr um, als sie schließlich das Officium des Praefecten betrat und dem mächtigsten Mann Roms – des Reichs! – gegenüber trat. „Salve, Praefectus. Wie erfreulich, dich wieder zu sehen. Ich hoffe Thalia ist wohlauf?“ Macht war Macht, daran gab es nichts zu rütteln. Dennoch konnte sie nicht verhindern, dass ihre Stimme eine merkwürdige Mischung aus verschiedensten Klangfarben war: die übliche Höflichkeit, die sie gegenüber solchen Persönlichkeiten an den Tag legte, eine gewisse Selbstverständlichkeit, als sei es völlig normal, dass sie ihm hier nun einen Besuch abstattete – aber auch der Trotz, der versuchte, Nervosität, Anspannung, Furcht zu unterdrücken, ein Hauch von Ironie, weil die Situation eben keine völlig normale war, und nicht zuletzt Nervosität, Anspannung, Furcht, die sich nicht unterdrücken ließen. Wenn sie wenigstens wüsste, was wirklich Sache war... wie es Sextus ging. Und Gracchus und ihren anderen Verwandten. Das Unwissen darüber, was seit ihrer Flucht aus Rom passiert war, machte sie unsicherer als ihr lieb war.

    Zitat

    Original von POTITUS VESCULARIUS SALINATOR
    Während der Mann antwortete, betrachtete der Scriba die Dame eingehend. Am Ende nickte er leicht, ohne direkt auf das Gesagte einzugehen. Stattdessen wandte er sich direkt an die vorgebliche Flavierin. "Spricht dieser Mann die Wahrheit? Bist du wirklch Flavia Nigrina, die Frau des Aurelius Lupus?"


    Nigrina zögerte, als der Scriba sich an sie wandte – und das nicht nur, weil sie instinktiv zunächst erwartete, dass sich ihr... Begleiter wieder einmischen würde. Was er nicht tat – vermutlich weil er es doch für klüger hielt, hier, im Vorzimmer des Praefecten, und umgeben von ein paar Wachen, während er allein und unbewaffnet war, sich etwas zurückzuhalten. Nein, Nigrina zögerte, weil sie keine Ahnung hatte, was sie antworten sollte. Lügen? Behaupten sie sei es nicht? Leugnen, dass sie eine Flavia war?
    Alles in ihr sträubte sich dagegen – sie war eine Flavia, und sie war stolz darauf! Nur was würde ihr die Wahrheit hier bringen? Sie wusste nicht, was genau die Bande dazu gebracht hatte, sie hierher zu bringen, sie wusste nur, was dieser Sulca ihr gesagt hatte, und das war nur, dass ihre Familie und die ihres Mannes Hochverrat begangen hätten. Aber selbst wenn das nur ein Trick war, ob nun von Sulca oder vom Vescularius: Fakt war doch, dass zumindest Sextus – und sie ja auch – geflohen waren. Sie hoffte jedenfalls, dass Sextus geflohen war und nicht noch irgendwo hier in Rom war, weil er es nicht geschafft hatte. So oder so: die Gesellschaft eines anerkannten Patrizierhassers, der faktisch die Macht hier hatte und seit dem Tod des Kaisers nichts mehr, was ihn zurückhielt, war wohl keine sonderlich gute für sie.
    Ein Teil von ihr wollte also dennoch leugnen, obwohl sich in ihr so viel dagegen sträubte. Nur, abgesehen von Stolz und Trotz: was dann? Selbst wenn der Scriba ihr das unbesehen glauben würde, sie bezweifelte, dass dieser... Sulca, wie er sich vorgestellt hatte, es darauf beruhen lassen würde. Er hatte nicht nur sie, sondern auch noch ihre Sklaven, die das flavische Zeichen mit ihrem Kürzel eintätowiert trugen. Und er hatte ihre Sachen... Und selbst wenn er mit all dem nicht durchkam, und sie hinaus geschickt wurden, weil der Scriba glaubte sie – sie beide! – wollten ihm nur was vormachen: am Ende würde der ihr dann draußen die Kehle durchschneiden, weil sie keinen Nutzen mehr für ihn hatte – da war es doch eindeutig besser, hier zu bleiben, fand sie, weil sie ganz eindeutig am Leben bleiben wollte. Wahrscheinlicher war allerdings, dass er den Scriba doch würde überzeugen können, zumindest genug, dass sie sie da behielten, bis sie jemanden anderen aufgetrieben hatten, der bezeugen konnte wer sie war.


    All diese Gedanken schossen durch ihren Kopf, schneller als sie einen einzelnen davon wirklich fassen könnte, während sie fieberhaft überlegte... Letztlich wurde ihr allerdings keiner davon wirklich bewusst. Bewusst waren ihr nur zwei Dinge: sie war eine Flavia. Sie konnte, wollte, würde nicht leugnen, wer sie war. Und: sie hatte Angst. Angst, die falsche Entscheidung zu treffen, und Angst, dass jede Entscheidung irgendwie falsch war. Aber Angst half ihr nicht weiter. Immer noch mit verschränkten Armen, und immer noch mit trotzigem Blick sah sie den Scriba an. „Was spielt es für eine Rolle, wer ich bin?“ antwortete sie schließlich, gleichermaßen patzig wie arrogant – und entschied sich damit weder für das Leugnen noch die Wahrheit, sondern für Angriff. „Ich bin eine römische Bürgerin, also sorg einfach dafür, dass der Kerl da mich nicht weiter belästigt und lass mich gehen!“


    Neben ihr verdrehte Sulca nur die Augen... und zog aus seiner Tasche einen kleinen Gegenstand hervor, den er dem Scriba auf den Tisch warf, wo er mit einem Klimpern landete. Als er zur Ruhe kam, war erkennbar, dass es ein Siegelring der Flavier war. „War bei ihren Sachen. Genügt das als Beweis?“