Beiträge von Sextus Aurelius Lupus

    Der Auftritt des Centurios und seine Bemühungen, gerade stehen zu bleiben, waren in Sextus' Augen so erbärmlich, dass er sich eine geistige Notiz machte, was zukünftigen eigenen Weinkonsum anging. Oh, Sextus hatte sich auch schon betrunken, vor allem in jüngeren Jahren. Den Duccius hatte er nach einem solchen Besäufnis kennen gelernt, wenn er sich recht erinnerte. Allerdings hoffte er, dass er selbst zu all jenen Zeiten keine so erbärmliche Erscheinung abgegeben hatte. Und ganz sicher wusste er, dass er nie einen Rausch gehabt hatte, wenn auch nur potentiell eine nüchterne Entscheidung von ihm erwartet werden konnte, oder gar während der Ausübung irgendeines Dienstes. Für die Zukunft allerdings beschloss Sextus in diesem Augenblick, sich auch nie wieder absichtlich zur Feier gleich welchen Ereignisses auch immer so dermaßen zu betrinken, dass er seiner Sprache und seiner Würde am Ende so verlustig ging wie diese halbgare Gestalt da vor ihm. Wenn es einen Augenblick des Fremdschämens gab, so befand sich Sextus gerade mitten in ihm.
    Und er glaubte dem Mann vor ihm kein Wort, dass dieser ähnliche Beschlüsse für sein Leben zog wie der Aurelier. Was allerdings erwartete man auch schon von einem provinziellen Plebejer? “Gut“, schloss Sextus die Unterhaltung streng und knapp und widmete sich dann wieder seiner Cousine, die scheinbar auf dem Bett eingeschlafen war.


    Sachte ging er neben ihr in die Hocke. Er ließ sich Zeit damit, ganz vorsichtig seine Arme unter ihre Schultern und ihre Kniekehlen zu schieben. Ganz behutsam und langsam, wie man es wohl bei einem eingeschlafenen Kind auch tun würde, rückte er sie näher an sich, ließ ihren Kopf erst an seinem Oberarm, dann schließlich, als sie nahe genug heran war, an seiner Schulter ruhen. Sie stank ganz entsetzlich nach billigem Wein.
    Sie murmelte ganz leise. Sextus war sich nicht sicher, ob er ihre Frage verstanden hatte. Er war sich allerdings ebenso wenig sicher, ob sie überhaupt wirklich wach war, und wenn ja, ob ihr alkoholumnebelter Verstand überhaupt für diffizile Antworten gerade verarbeitungsfähig funktionierte. “Du bist in Sicherheit. Ich beschütze dich. Schlaf weiter“, flüsterte er ihr leise und beruhigend als Universalantwort auf ihre Frage zu. Auch wenn er sie nicht wirklich verstanden hatte, war da wohl eine Antwort, die sie verstehen konnte und hören wollte.
    Ganz vorsichtig und langsam stand Sextus auf, ihr Gewicht in seinen Armen balancierend, ihren Körper an ihrem stützend. Er hätte die Rüstung vielleicht besser ausziehen sollen, aber seit beginn dieser Unternehmung hatte er das Ding jeden Tag getragen und vorhin beim Aufbruch nicht daran gedacht, seine Cousine vielleicht tragen zu müssen. Aber es würde schon gehen. Er achtete darauf, dass ihr Kopf an dem bisschen Stoff seines Umhangs eher ruhte als an dem Metall und bewegte sich langsam.


    Prisca war nicht im eigentlichen Sinne schwer, dennoch hatte sie natürlich ein Gewicht, das der Aurelier nicht jeden Tag herumtrug. Vor allen Dingen nicht langsam, bedächtig und den Versuch unternehmend, sein Transportgut nicht zu wecken. Aber er verzog keine Miene, gab nichts auf die Blicke der vereinzelten Männer – hauptsächlich Verwundete – die hier im Lager waren und nicht ihr Glück beim Plündern suchten. Immer wieder, wenn er meinte, Prisca könnte aufwachen, flüsterte er wieder leise zu ihr. “Du bist in Sicherheit. Ich beschütze dich.“ Und er meinte es ernst. Man konnte Sextus sehr wenig nachsagen, vor allem sehr wenig Herzlichkeit. Aber er war fest entschlossen, sein Blut zu beschützen.

    Das. War. Abstoßend.
    Sextus war sicher nicht prüde, allerdings hatte er eine ziemlich gefestigte und genaue Vorstellung davon, wie eine Frau – und kein Flittchen, das man benutzte und danach einfach wegwarf – zu sein hatte. Und das Wort 'würdevoll' kam darin ganz sicher vor. Nicht besoffen, am lallen, stinkend und sich gleich übergebend. Und mit dieser Meinung war er sicher nicht allein, gab es doch mehr als ein Gesetz, das Frauen das Trinken verbot, eben damit sie sich nicht wie die Tiere benahmen, willenlos vor irgendwelchen Plebejern ihre Rundungen entblösten und vermutlich nicht einmal mitbekommen würden, wenn eben solche sich das Angebot dann noch näher ansehen würden. Und das wiederum war eine mehr als abstoßende Vorstellung, seine Base, kopulierend mit... sowas hier.
    Dass der Centurio ebenso besoffen und nach dem Gebaren seiner Cousine sehr offensichtlich bereit für den Nahkampf war, machte die Sache absolut nicht besser. Hatte Sextus geglaubt, in den letzten tagen unter Kopfweh gelitten zu haben, so revidierte er diese Meinung und wandte seine Einschätzung eher auf die jetzige Situation an.
    Kalt fixierte er den Untergebenen und positionierte sich breit und sichtbar nicht amüsiert so zwischen ihm und Prisca, dass dieser zwangsweise aufhören musste, auf sie zu glotzen. Dass dieser Kerl sich überhaupt erlaubte, auch nur einen Blick auf die Patrizierin zu werfen, war schon eine Beleidigung an sich. Wie er auch nur daran denken konnte, und das in Gegenwart ihres Verwandten, so besoffen konnte man Sextus' Meinung nach gar nicht sein.
    “Da du meine Cousine wohl gerettet hast, gebietet es die Ehre, dass ich mich dankbar zeige.“ Die Art und Weise, wie Sextus das Wort 'dankbar' betonte machte klar, dass ihm diese Dankbarkeit im Moment wirklich viel abverlangte und er wirklich weitaus lieber als undankbar gelten würde. Der einzige Grund, weshalb er das im Moment zu unterlassen gedachte, war wohl eher der Tatsache geschuldet, dass dies Fragen zu Prisca aufwerfen würde, und er die Anwesenheit seiner Cousine möglichst gänzlich zu verschweigen gedachte, um späterem Gerede über die Art ihrer Gefangenschaft vorzubeugen. “Deshalb werde ich über diese Sache hier hinwegsehen und darüber, dass du hier sturzbesoffen bist. Eigentlich solltest du deinen Männern vorgeführt und ausgepeitscht werden. Was auch immer du dir dabei gedacht hast, dich wie ein Idiot zu besaufen.“ Sextus sah es gar nicht ein, seiner Missachtung für diese Tatsache keine Worte zu verleihen. “Als Offizier ist es deine Pflicht, deinen Männern ein Vorbild zu sein. Ich denke nicht, dass du mit Besoffenen in die nächste Schlacht ziehen willst, oder von einem Mann, der nicht einmal gerade aus gehen kann, in die Schlacht geführt werden wolltest. Ich hoffe daher, dass ich diese Art von Ermahnung nicht wiederholen muss für die Dauer des Feldzuges.“ Was er danach machte, war Problem des Kommandanten. Und Sextus wunderte sich ohnehin schon, dass die Disziplin in der Legio II offensichtlich derartig schlecht war, dass so etwas überhaupt während eines Feldzuges vorkommen konnte.


    Sextus taxierte den Mann noch lang genug, um sicherzugehen, dass der zumindest die Worte gehört hatte. Ob er sie verstanden hatte, mochte Sextus nicht einzuschätzen. Benebelt genug schien der Mann ja durchaus zu sein.
    Seine Cousine unterdessen würde hoffentlich ihre Warnung, sich übergeben zu müssen, noch hier wahr machen – was eine zusätzliche Lehre für die Bewohner dieses Zeltes darstellen würde – und nicht erst, wenn er sie in sein Zelt bringen würde. Selbst, natürlich. Er würde sicher nicht erlauben, dass einer dieser grobschlächtigen Tiere noch Hand an seine Cousine legte. Auch wenn er sie so vermutlich ein ganzes Stück würde tragen müssen.

    Im Grunde hatte Sextus besseres zu tun, denn so außergewöhnlich war es nicht, dass einige der feindlichen Truppen sich ihren Truppen nun anschlossen. Vor allem beim niedrigen Fußvolk war es häufig zu sehen. Immerhin gab es bei ihnen drei Mahlzeiten am Tag und das Versprechen auf Sold, und nichts anderes hatte die Männer auch unter dem Banner des Vesculariers zusammengehalten. Warum also sollten sie es bei Palma anders handhaben? Den wenigsten dieser neuen Treuebekundungen wurde also auch nur irgendeine Beachtung geschenkt.
    Das hier aber waren nicht die kleinen Schildträger und Hilfstruppen, der Bote hatte ihm gemeldet, dass auch einige der Prätorianer sich ihnen anschließen wollten. Dieser Sache konnte man dann doch etwas mehr Beachtung schenken, denn bei den Männern dieser Truppe zählte sicherlich nicht nur der monetäre Aspekt des Überlaufens.


    Also kam Sextus zum Sacellum, wo die Standarten ihrer Einheiten aufbewahrt wurden. Ein Abbild des Kaisers aus Marmor fehlte freilich noch, vor allem, da von Palma noch keine genauen Abbilder existierten. Aber das störte nicht weiter.
    “Centurio“ grüßte Sextus den Mann mit Rang, ohne Namen – er hatte sich nicht einmal die Hälfte der Namen der Centurionen gemerkt, vor allem, da diejenigen, die er sich gemerkt hatte, zum größten Teil entweder verwundet oder tot ihnen nicht mehr zur Verfügung standen und durch neue Namen und Gesichter ersetzt worden waren. Ruhig stellte er sich an die Seite, um dem Schauspiel beizuwohnen und durch seine Anwesenheit das nötige Gewicht zu verleihen. Den Vorgang an sich durchzuführen traute er aber durchaus dem Mann zu, der die Prätorianer bis jetzt schon betreut hatte.

    ...Von draußen waren durch die Lederplane schon Stimmen zu hören gewesen, natürlich gedämpft, aber doch hörbar. Es waren eben keine Steinmauern. Und das Lachen seiner Cousine klang durch das Leder hindurch grotesk, fast hysterisch für ihn. Wobei Sextus sich am ehesten über die Tatsache gewundert hatte, dass sie überhaupt lachte.
    Er schlug die Plane des Zeltes ohne weiteres Federlesen zurück und trat in die Behausung des Centurios. Diesen ignorierte Sextus zunächst auch vollkommen, denn tatsächlich, da saß sie: Prisca. Ein wenig zerzaust, ein wenig verheult, glasige Augen, ungeschminkt und etwas zerfleddert, aber augenscheinlich am Stück. Welcher Idiot hatte sie nur hier her in den Norden gebracht? “Prisca“, begrüßte Sextus sie leise, hörbar erleichtert, und überwand den einen, kleinen Schritt zu ihr, ließ sich zu ihr nieder und umarmte sie ungefragt. Sie roch auch nicht besser als er, aber augenscheinlich war sie unversehrt. Er ließ sie gerade soweit los, dass er ihr Gesicht mit beiden Händen greifen und ihr in die Augen sehen konnte. Sie hatte eine unüberriechbare Weinfahne. Aber ansonsten keine blutigen Stellen, keine blauen Flecke. Sie war nicht misshandelt worden. “Den Göttern sei dank bist du unverletzt. Ich konnte gar nicht glauben, dass du hier sein sollst. Aber jetzt bist du in Sicherheit.“ Ruhig, gefasst redete er. Sie war jetzt in Sicherheit. Sextus würde ganz sicher nicht zulassen, dass sie wieder in Gefahr einer Gefangennahme kam, oder andere Unannehmlichkeiten unter ihrem Stand länger als nötig würde ertragen müssen. Es genügte, wenn einer aus ihrer Familie sich den Hintern auf einem Pferd wundsaß und stank wie eine ganze Herde Rindviecher.
    Fast schon sanft wischte er ihr die Reste von Tränen von der Wange und ignorierte sehr tapfer die aufkeimenden Fragen, warum sie roch, als hätte man sie in einem Weinfass transportiert. “Ich danke euch für die sichere Überführung meiner Cousine aus dem feindlichen Lager“ richtete sich Sextus langsam wieder auf. Für den ersten Abend würde sie in seiner Behausung im Zelt schlafen können, für die weitere Zeit würde sich Sextus etwas überlegen. Vermutlich wäre es das beste und einfachste, sie mit Ursus zu dessen Frau Tiberia Septima nach Mantua zu schicken und deren Sohn. So konnten die Frauen sich gegenseitig Trost spenden und waren dennoch in Sicherheit. Ja, das war vermutlich die beste und gleichzeitig einfachste Lösung.

    Die erste Schlachtreihe. Vielleicht sogar vor die erste Schlachtreihe. Dorthin würde Sextus diesen Evocatus höchstpersönlich zu Beginn der nächsten Schlacht positionieren, am besten nackt. Wo hatte der Mann nur das Melden gelernt, und bei den Göttern, wie brachte er die Informationen vor? Sextus Besorgnis über Prisca wandelte sich in Ärger über den Boten. Sie war also eine ganz normale Frau, unverletzt und am Heulen (wie nach Sextus Sicht der Dinge wohl alle Frauen unter Anspannung) und in Sicherheit. Kein Grund zur Besorgnis. Und da machte der Mann so ein Gewese darum!
    Sextus schnaubte einmal, was man als Zustimmung wohl deuten konnte, und beschleunigte noch einmal seinen Schritt, ließ sich das ein oder andere Mal noch kurz die Richtung angeben, um das richtige Zelt zu erwischen, nickte hier und da nur rudimentär den verbliebenen Legionären – hauptsächlich Verletzte – zu, wenn diese ihn im Vorbeigehen bemerkten, schenkte sich aber lange Ablenkungen von seinem eigentlichen Ziel. Vor dem passenden Zelt angekommen hielt er sich ebenfalls nicht weiter auf und trat auch sogleich ein...

    Im ersten Moment hatte sich Sextus schon überlegt, ob der Centurio noch alle Amphoren am Regal hatte. Der erste Teil der Nachricht hörte sich bei den Göttern nicht so an, als ginge ihn das irgend etwas an. Sie hatten eine Frau gefunden und sich entschlossen, sie nicht zu schänden. Ah, ja, interessant, danke für die Information. Ja, doch, sehr kriegsentscheidend, dass der Centurio sich nicht wie ein brünstiger Eber benahm. Nur was wollte der Kerl da von ihm?
    Dann allerdings kam die Information, die Sextus gerne gleich als erstes gehabt hätte. Und ohne dieses ganze Drumherum von wegen und Ursus, der zwar bewusstlos war, weil er es irgendwie geschafft hatte, sich wie ein Idiot zu nah an die Front zu bewegen, anstatt, wie es einem Legaten geziemte, die Schlacht von hinten zu befehligen, aber wohl überleben würde, und der darüber hinaus auch mit Sextus verwandt war, und nicht so fern, wie man annehmen könnte. Die Tafel war vergessen, die Listen, selbst die Gedanken über den Centurio und seinen Geisteszustand – wohl aber noch ein paar über selbigen des Nachrichtenüberbringers, so um den heißen Puls herumzureden – alles was zählte, war in diesem Moment Prisca.
    So schnell, dass es schon sehr an seiner dignitas und gravitas kratzte, stand Sextus auf und trat aus dem Zelt. “Bring mich sofort zu meiner Cousine.“ Und Sextus hatte nicht vor, dort in gemütlichem Schlenderschritt hinzumarschieren.


    Mehrere Fragen drängten sich auf. Zunächst diese, wie Prisca hier hergekommen war, was diese ihm aber wohl nur selbst berichten konnte. Welcher verrückte nahm eine Frau, noch dazu als Gefangene, mit in einen Krieg? Und wozu? Und wenn sie sie schon mitgenommen hatten, warum hatte man Sextus oder Ursus nicht vor der Schlacht konsultiert, um sie so dazu zu zwingen, im Austausch für Priscas Leben ihre Legionen zurückzuhalten? Sextus war sich sicher, egal, wer diese dumme Hund auch war, Sextus würde ihn eigenhändig kastrieren. Niemand legte Hand an seine Familie.
    Was ihn auch zur nächsten Frage brachte. Was meinte der Bote mit 'leicht angefasstem Zustand'? Es war klar, dass Prisca niemals offiziell als geschändete Frau gelten durfte, da die Gesellschaftsordnung von ihr damit verlangte, dass sie sich selbst umzubringen hatte. Eine Frau hatte da keine Wahl, wollte sie ihre Ehre behalten. Als Frau trug man immer eine Mitschuld daran, es sei denn, man war noch Jungfrau. Soviel hatte Sextus dann dem Flavier aber doch zugetraut, dass er vor seinem Tod mit seiner Frau dennoch zumindest versucht hatte, Erben zu zeugen. Zwar würde Sextus nicht behaupten, dass er Prisca über das nötige Maß hinaus Zuneigung entgegenbrachte, dennoch würde er ihr dieses Schicksal gern ersparen, sowie seiner Familie den darum entstehenden Skandal. “Wie ist ihr Zustand, und was meintest du mit 'angefasst'?" fragte Sextus daher sehr direkt, während er zackig das Tempo neben dem Evocatus vorgab, in dem sie sich voranbewegten. Eines war klar, jeder Mann, der Hand an seine Base gelegt hatte, würde selbige verlieren, neben seiner Zunge, damit er davon nicht berichten würde. In puncto Familie lag die Toleranzschwelle des Aureliers bei null.

    Die Zeltplane zum als Scriptorium genutzten Tel des Zeltes war zurückgeschlagen, so dass nicht nur die mürrische Wache vor eben jenem Zelt hörte, was der Mann davor wollte, sondern eben auch besagter Tribun selbst.
    Jener war selbstverständlich nicht mitgegangen, um zu plündern. Diese niedrige Tätigkeit der Kapitalbeschaffung empfand der Aurelier als barbarisch und wiewohl er den Nutzen der Tat als solchen zwecks Demoralisierung des Feindes, Stressabbau der eigenen Truppen und Ausleben der angestauten Gewalt durch die kürzlich vorangegangene Schlacht erkannte und auch verstand, empfand er solcherlei emotionales Gebaren als würdelos und dem Tierischen verhaftet. Wenn er allein an den Gesichtsausdruck dachte, mit dem so mancher Mann losgezogen war, um Beute oder zumindest ein Weib – oder einen Knaben – zum Frustabbau im gegnerischen Lager zu finden... Mit kleinen gierigen Schweinsäuglein, den Geifer in den Mundwinkeln, hatten sie mehr gemein mit den Schweinen, nach denen sie stanken, als mit Menschen. Sextus wollte sich nicht auf dieses Niveau begeben. Reichtümer benötigte er ebenfalls nicht. Und so lange er nun auch schon sehr abstinent lebte, auf diese Art wollte er momentan keine Frau besitzen, selbst wenn er viele Männer gehört hatte, die auf ein Weib nach einer Schlacht als Nonplusultra schworen. Ihm war mehr nach einem Bad, den Annehmlichkeiten seiner Villa und einem bequemen Bett. Wenn er sich wieder als Mensch fühlte, dann machte er sich Gedanken um Weiber. Und da dann wohl auch um sein zukünftiges. Solange sein Leben aber aus Dreck, Schweiß und Blut bestand und nicht gesichert war, dass er den nächsten Monat sehen würde, hatte er andere Sorgen, als sich wie ein Schwein im Schlamm zu suhlen auf der Suche nach einer Perle.
    So saß er also da und widmete sich den ersten Aufstellungen der Verlustlisten, die in den nächsten Tagen garantiert noch aktualisiert werden würden, um sich einen groben Überblick über ihren Blutzoll zu verschaffen und sich Gedanken über dessen Ausgleich zu machen. Der einfachste Weg wäre, den unteren Graden der feindlichen Legionen offiziell das Überlaufen anzubieten. So blieben sie im Dienst des Imperiums, hatten Anrecht auf ihren Sold und später auf die Vergünstigungen als Veteranen, eventuelle Donationen und dergleichen. Wobei dies auch ein Unsicherheitsfaktor darstellte, sollten die folgenden Schlachten mit mehr Widerstand verlaufen und gar verloren gehen. Doch zugleich war er sich in diesem Fall auch ganz sicher nicht der Treue und Standhaftigkeit ihrer jetzigen Truppen sicher.


    Von all diesen Überlegungen aber wurde er jetzt abgehalten, als er eine Nachricht von einem Centurio empfangen sollte. Was wollte der melden? Plünderung erfolgreich abgeschlossen? Plünderung zu 30 Prozent abgeschlossen, Männer zufrieden? Männer unzufrieden, weil Feind hat keine Reichtümer und nur hässliche Weiber im Lager?
    Sextus machte sich eine kleine Notiz auf der Wachstafel an der Stelle, an der er mit dem Rechnen war, und blinkte zu dem Mann auf. “Und was möchte der Centurio der vierten Centurie vermelden?“ fragte er trocken, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.

    Die Entsorgung der Toten war das, was Sextus im direkten Anschluss an die Schlacht am meisten beschäftigt hatte. Nicht nur ihre Seite hatte herbe Verluste erlitten, auf dem Feld waren hunderte von Toten. Noch ehe die Nacht am ersten Tag eingesetzt hatte, hatte sich schon allerhand Getier eingefunden, um Stücke aus den Leichen und Tierkadavern zu reißen, und ihre natürliche Scheu vor Menschen hielt sie nicht weit genug auf Abstand, um sich dieses winterliche Festmahl entgehen zu lassen. So viele Männer hätte Sextus selbst dann nicht verteilen können, um das zu verhindern, wenn er gewollt hätte. Es gab zu viel zu tun.
    Aus diesem praktischen Grund und aus Gründen der friedlichen Entwaffnung also hatte Sextus eine pragmatische Lösung befohlen. Er war zu den Teilen der internierten, gegnerischen Einheiten gegangen, die von der zweiten Legion bewacht wurden, und hatte dort mit den Männern gesprochen. Stunden nach der Schlacht waren diese noch nicht das, was er unbedingt kooperationsbereit nennen würde, allerdings waren es ihre Freunde, Brüder, Kameraden, die da draußen von den Aasfressern zerfetzt wurden. Es hatte nicht allzu viel Eloquenz gebraucht, um den Männern klarzumachen, dass er auch seinen feinden ein römisches Begräbnis zugestehen wollte und nicht Tellus zu beleidigen gedachte, indem er erst die eigenen Männer bestattete und danach den unzuordnenbaren Rest irgendwie zu verscharren.
    Gegen Ehrenwort also durften kleine Gruppen dabei helfen, ihre eigenen Toten zu bergen, zu identifizieren, ihnen gewünschte Ehrungen zuteil werden zu lassen und sie zu begraben, zu verbrennen. Allerdings nicht, ohne deutlich zu machen, dass bei Wortbruch für jeden Mann, der fehlte, oder der weiterhin kämpfte oder gar einen der ihren tötete, zwei andere aus seiner Einheit, so es sich ermitteln ließ aus seinem Contubernium oder seiner Verwandtschaft, sehr unrömisch schmerzhaft sterben würden.
    Einige der Legionäre, die in der Schlacht Verwandte verloren hatten, ließen im Zuge dieser Aufräumarbeiten anfragen, ob sie die Gebeine der Toten mitnehmen oder durch Boten versenden durften, um sie in den familieneigenen Grüften beizusetzen. Sextus gestattete es, vornehmlich, weil sich dadurch der Ärger bei den Besiegten noch weiter zurückschraubte und fast so etwas wie Dankbarkeit zuließ. Und weil einige dieser Bitten mit Ringen, Schuldscheinen und Versprechungen vergoldet wurden.


    Allerdings gab es auf dem Feld sehr viele Leichen, die beim besten Willen nicht zu identifizieren waren. Erst recht konnten abgetrennte Gliedmaßen, so diese nicht in irgendwelchen Fuchsbauten verschwanden, nicht zugeordnet werden, wurden aber dennoch nach den Riten und Sitten der Vorväter bestattet. Es sollte sich kein Totengeist hinterher als schädliche Larva wiederkehren, weil man seinen Arm oder sein Bein vergessen hatte. Auch wenn Sextus nicht derart abergläubisch war. Der Gros der Männer war es eben doch. Und auch aus hygienischen Gründen war dies die einzig praktikable Lösung. Ebenso wie viele der Tierkadaver einfach mitverbrannt wurden, nachdem essbare Fleischstücke aus ihnen herausgetrennt worden waren. Immerhin galt es trotz dieser herben Verluste immer noch, die Überlebenden satt zu bekommen, und hätte Sextus die Verwendung dieses Fleisches nicht erlaubt, die Männer hätten es sich verbotenerweise beschafft. Auch wenn Pferd, Maultier und Hund nicht die beliebtesten Fleischlieferanten waren, es war etwas anderes als ständig nur Getreide und ab und an ein Eichhörnchen oder mageres Kaninchen.
    Nachts mussten Patrouillen losgeschickt werden, um die wilden Tiere wenigstens einigermaßen auf Abstand zu halten. Durch diese Maßnahme machte sich Sextus ganz sicher nicht besonders beliebt, aber jeden Morgen wieder aufs Neue mit der Suche nach Leichen in weitem Umfeld zu beginnen, weil ein größeres Tier gemeint hatte, die eine oder andere Leiche mit sich zu schleifen, war ebenso unbeliebt.


    Während also die Männer arbeiteten, kümmerte sich Sextus um andere damit zusammenhängende Pflichten. Die Familien der gefallenen Centurionen, so vorhanden und ermittelbar, erhielten Briefe, die geschrieben werden wollte. Sextus saß also die meiste Zeit über eine Wachstafel gebeugt, wenn ihm nicht eine andere unter die Nase gehalten wurde, die Verluste und Verwundungen zusammenfasste oder irgendeine persönliche Bitte beinhaltete (oder er wegen anderer Dinge gefragt wurde, um seine Mitsprache gebeten wurde und jemand auf die abstruse Idee kam, er könne Gesellschaft wollen). Nach und nach entstanden so also ein ganzer Stapel an Holztäfelchen, die, so ihr jetziger Sieg von Dauer wäre und weitere Erfolge unterstellt, bei Gelegenheit ausgehändigt werden würden. Sicherlich war es für die Familien nicht wirklich ein Trost, zu lesen, dass ein Verwandter in Ausübung seiner Pflicht für den einzig wahren Kaiser tapfer und als Vorbild für seine Männer gestorben war, aber es war eine Gelegenheit, zu der ein oder anderen Familie Kontakte zu knüpfen oder aufzufrischen und sich selbst als generösen Mann darzustellen.

    Kurz stutzte Sextus und überlegte, ob durch Aufgabe nicht die Feldzeichen dennoch als Verloren gelten müssten und damit an ihre siegreiche Legion übergeben werden müssten. Wobei sich hierbei nun tatsächlich die Frage ergab, wer in diesem Fall dann das Recht für sich beanspruchen durfte, diese als ruhmreich erobert für sich zu beanspruchen und dadurch auch die damit einhergehende Ehrung.
    Allerdings sah Sextus keinen herausragenden Nutzen darin, die eigene Legion so zu ehren und die feindliche damit zu entehren, indem er ihnen diese abnahm. Sicherlich könnte er sich hierdurch Freunde schaffen in den Reihen der zweiten Legion. Allerdings war diese in einem Landstrich stationiert, den er nie, nie, NIE wieder zu sehen begehrte – und selbst eine Verlegung der Legion würde diese vermutlich nicht in romnähere und nützlichere Gefilde verschlagen – und seine Bindungen zur Zweiten vermutlich nicht derartig gefestigt, hier auf langjährige Treue bauen zu können oder sich diese so zu erkaufen. Auf der anderen Seite konnte er so aber Feinde zu Freunden machen. Zwar hatte es sicher seine Vorteile, gefürchtet zu werden, und die Liebe seiner Gegner würde er so sicher nicht erringen. Es waren auch nicht wirklich Skrupel gegen eine mögliche Abneigung der feindlichen Truppen. Im Zweifelsfall waren diese ebenso weit weg von ihm wie die Legio II. Allerdings auf die kurzfristige Sicht konnte es nicht schaden, die Männer nicht zu brechen und zumindest zu Respekt, wenn nicht Dankbarkeit zu bewegen, und jetzt nicht noch künstlich einen Kampf um die Feldzeichen herauszubeschwören. Die Chancen waren groß, dass sich durch diese einfache Geste eine friedlichere Entwaffnung und Bewachung bewerkstelligen ließ.


    “Sie sollen ihre Feldzeichen in Ehren behalten. Die Fehler ihrer Vorgesetzten sind nicht ihre Fehler, sie haben tapfer gekämpft und sind nach wie vor Römer. Ihnen die Waffen abzunehmen sollte der Sicherheit genüge tun, ihre Ehre mögen sie behalten.“

    Die Männer strömten vorwärts, und so langsam begann die Situation auch, nach einem Sieg auszusehen. Das wilde Getümmel schob sich immer weiter von Sextus weg und ließ ihn in einer Horde von Verletzten und Sterbenden auf zertrampelter und zerstörter Erde zurück. Und gab den Blick auf weit mehr Verletzter und Sterbender – oder bereits gestorbener – Soldaten frei. Und nicht nur Sextus' Blick war auf das blutige Feld unter ihm gerichtet, wo zerfledderte, niedergetrampelte, verstümmelte Körper oder passende (und schlimmer: auch grotesk unpassend wirkende) Körperteile lagen. Über ihm kreisten schon Vögel, angelockt vom Lärm und vom Geruch des Blutes. Raben, Krähen, Bussarde, Adler, Geier, auch kleinere Vögel, die nur darauf warteten, dass die Menschen in genügend großer Entfernung waren, um sich gemütlich sinken zu lassen und an den toten Körpern, die nicht von Kameraden bewacht wurden, herumzuhacken und sich ihren Teil der Schlacht zu holen. Wenn es dunkel würde, würden auch noch Hunde, Füchse, Dachse, Wölfe, Ratten, Mäuse und anderes Getier dazu kommen. Je weiter sich der Geruch von stinkenden Männern und Metall von Sextus entfernte, umso deutlicher konnte auch er den süßlich fauligen Geruch des Todes riechen.


    Angewidert verzog er leicht den Mund. In seiner Nähe ließ sich ein Mäusebussard nieder, um in aller Gemütsruhe aus der von einem Hieb aufgerissenen Wange eines Gefallenen ein größeres Stück herauszureißen. Sextus überlegte gerade, ob die Pietas es erforderte, sein Pferd mehr in die Richtung des Toten zu lenken, um das Vieh durch seine Nähe zu vertreiben, oder ob dies ohnehin ein nutzloses Unterfangen war, als scheppernd ein Optio zu ihm gelaufen kam und Meldung machte. Hundert Gefangene und drei Feldzeichen. Als er fragte, wohin damit, war Sextus kurz versucht, zurückzufragen, ob dieser die Gefangenen oder die Feldzeichen damit meinte. Vermutlich beides.
    “Die Gefangenen sollen entwaffnet und ohne Rüstung gesammelt werden und zunächst einmal bewacht dort drüben in einem provisorischen Lager Aufstellung nehmen.“ Sextus deutete grob in eine Richtung, in der nicht ganz so viel Tod und Verwesung herrschte, die behindern könnten.
    “Die Feldzeichen sollen von den Männern, die diese ehrenhaft errungen haben, zum Sacellum gebracht werden, sichtbar und als ruhmreiches Beispiel für ihre ganze Einheit. Selbstverständlich sollen sie die entsprechenden Belobigungen und Ehrungen für ihre Mühe erhalten.“

    Kaum war der Bote wieder aus seinem Sichtfeld entschwunden und hatte ihn mit der Frage zurückgelassen, wie der gute Duccier sich denn in der jetzigen Situation einen Ausfall vorstellte, kam Unordnung in die Schlachtreihe vor ihm. Es sah aus, als würde sich der lebendige Wurm, den ihr Heer bildete, kurz zögerlich aufbäumen, ehe er mit neuer Wucht auf den Gegner eindrang. Und ihn zurückdrängte. Dort, wo zuvor noch eine Bresche von ihren Gegnern in ihre Reihe geschlagen worden war, herrschte mit einem Mal eine gegenteilige Bewegung, die zu schnell für ein einfaches Zurückdrängen war. Es war schon fast ein Vorwärts-Stolpern, ihr Feldzeichen rückte vor, und dann weiter, wo es der Logik nach auf feindliche Truppen eigentlich hätte treffen müssen. Es dauerte eine ganze Weile, bis Sextus auch nur halbwegs verstand, was da vorne passierte.


    “Sie fliehen. Tribun, sie fliehen!“ meinte einer der Legionäre aufgeregt und mit Jubel im Gesicht neben ihm. Und der Ruf setzte sich fort, durch die Reihen der Verwundeten. Selbst einige Sterbenden murmelten ihn mit schmerzverzerrten Gesichtern.
    Sextus ließ sich nicht zu einer Antwort verleiten. Zumal er die Situation nicht in ihrer Gänze grade erfassen konnte. Der Feind, der sie schon über ihren eigenen Wall hinweg gedrängt hatte, machte kehrt und floh. Aus keinem ihm ersichtlichen Grund. Die Schlacht war nicht nur ausgewogen gewesen, Sextus hatte die Möglichkeit, hier heute sein Leben zu lassen, nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich erachtet. Und jetzt waren sie von einer Sekunde auf die andere dabei, zu siegen?
    Irgendwer weiter vorne rief, dass man dem Feind nachsetzen sollte. Sextus überlegte noch, ob dies eine Falle des Feindes sein könnte und sie lieber ihre Stellung befestigen sollten, allerdings war da schon Bewegung in den vorderen Reihen und ein diesbezüglicher Befehl von ihm schwer umsetzbar. Warum floh der Feind?


    Sextus schloss sich dem Sturm nicht an. Man mochte von ihm behaupten, was man wollte, seiner Ansicht nach dämlichen heroischen Eifer besaß er nicht. Und er hatte kein Verlangen danach, sollte der Feind wirklich ernsthaft fliehen und aufgeben, von einem sein Leben verteidigenden Sohn eines Tagelöhners im letzten Moment noch vom Nabel bis zum Brustbein auf ein Pilum gespießt zu werden. Während der Jubel um ihn herum langsam lauter aufbrandete, hielt er sein Pferd mit festem Schenkeldruck an Ort und Stelle und betrachtete sich noch immer grübelnd ihre vorrückende Schlachtreihe.
    Je weiter sich diese von ihm auch entfernte, umso klarer konnte er auch in die Ferne sehen und die sich auflösende Marschordnung und die einzelnen Sprenkel der feindlichen Legionen ausmachen, die sich tatsächlich in ungeordneter Flucht zu großen Teilen befanden. Sextus hatte zwar immer lautstark verkündet, dass ihre Sache unter dem Schutz der Götter stand, und hatte Palma auch als den von den Göttern erwählten Kaiser zu jeder passenden Gelegenheit erwähnt, allerdings hatte er nicht angenommen, dass seine politisch motivierte Aussage sich als dermaßen offensichtlich korrekt herausstellen würde. Ein Gedanke, den er nach Außen hin natürlich in dieser Form nie äußern würde. Als Haruspex hatte man die Zukunft zu sehen, und wenn diese mit der vorhergesehenen Zukunft dann auch tatsächlich übereinstimmte, hatte man dies mit Gemütsruhe und keinesfalls Verwunderung aufzunehmen.


    Also wartete Sextus, dass die Reste der feindlichen Legionen von ihren Mannen niedergemacht würden, oder sich ergaben (was ersteres nicht unbedingt ausschloss), innerlich immer noch darüber grübelnd, was dieses Durcheinander ausgelöst haben mochte. Manchmal besaßen die Götter einen seltsamen Sinn für Humor.

    Auch wenn es sehr laut war, fragte sich Sextus, warum der Kerl so brüllen musste, dass ihn wahrscheinlich die halbe Cohorte vor ihm noch hörte. Vala wollte also, dass er ihm folgte. Sextus sah wieder über die Schlachtlinie vor ihm. Er hatte noch nicht einmal eine Ahnung, wo seine Truppe stand, und jetzt sollte er befehlen, die abzuziehen und einen Ausfall zu machen, wo noch nicht einmal sicher gestellt war, dass der Einfall der gegnerischen Truppen gestoppt werden konnte und man so Truppen abziehen konnte für eben jenen Ausfall, ohne zu riskieren, dass das Zentrum zusammenbrach? Sextus hatte nicht vor, seine Legion zu opfern, nur um die verdammte Flanke des Gegners unbrauchbar zu machen. Seine Aufgabe war es, das Zentrum zu halten, und genau das hatte er auch vor.
    “Sobald das Zentrum hier gesichert ist.“ Sextus machte sich nicht die Mühe, zu schreien. Der Bote hatte zuzuhören. Und die einfachen Legionäre ging es nichts an, so dass sie mithören hätten müssen. Kurz überlegte Sextus, ob er dem homo novus doch noch irgendeine Unterstützung zuteil werden lassen konnte. “Unsere Reiterei soll sich dem Ausfall anschließen und unterstützen. Unsere Reserve setzt sich erst in Bewegung, wenn das Zentrum hier sicher ist.“ Eventuell, sollte der Vorstoß der Achten erfolgreich genug sein, war ohnehin zu überlegen, ob sie nicht in geschlossener Front vorrücken konnten, da der Feind sich in einer Zange wiederfand, die nur noch langsam geschlossen werden musste. Aber daran wollte Sextus noch nicht denken, das waren zu viele Eventualitäten für eine gesicherte Annahme.

    Der Melder verschwand wieder, um den Befehl auszuführen. Sextus sah ihm nur kurz hinterher, ehe er sich wieder weiter in Richtung seines Pferdes begab. Ob es die richtige Entscheidung war, die er getroffen hatte? Sextus verwehrte seine Gedanken vor solchen Fragestellungen, Selbstzweifel war ein Luxus, den er sich nicht leisten konnte. Überhaupt glaubte Sextus nicht an das Prinzip von richtig und falsch. Er glaubte an Entscheidungen und Konsequenzen, und er würde die Konsequenz dieser Entscheidung ebenso tragen wie die aller anderer Entscheidungen. Zweifel war etwas für Leute, die nicht bereit waren, konsequent zu leben. Oder zu sterben.
    Der Gaul stand inzwischen wieder einigermaßen still, gehalten am Zügel von einem Legionär, der sich wohl damit ablenkte, etwas sinnvolles zu machen. Einige der ihm entgegenkommenden Männer grüßten ihn mit dem rang. Sextus schenkte ihnen allesamt nur ein knappes Nicken, um deutlich zu machen, dass er den Gruß bemerkt hatte, aber es war weder die Zeit noch war es seine Art, sich zu mehr hinreißen zu lassen. An seinem Tier angekommen genügte auch ein kurzer Blick an einen der Legionäre, ohne dass ein Befehl erfolgen musste. Gehorsam ging der nächste Legionär auf alle Viere und fungierte so für einen Moment mit seinem Rücken als Trittleiter, so dass Sextus mühelos sich wieder auf den Rücken des Tieres begeben konnte. Diesmal saß er auf dem zottigen Ding mit weit mehr Schenkeldruck und kurz gehaltenem Zügel, um seinem Untersatz gleich klar zu machen, dass er eine Wiederholung des peinlichen Vorfalls nicht dulden würde.


    Hinter ihm hörte Sextus das Brüllen der Männer, das stumpfe Aufeinandertreffen von Klingen auf Schilde. Es war Ohrenbetäubend. Aber Orpheus gleich drehte er sich nicht danach um, sondern gab seinem Pferd mit leichtem Fersendruck zu verstehen, dass es den Weg weiter hinauf gehen sollte. Am Sammelplatz für die Verwundeten erst machte Sextus halt, wendete den Gaul, wartete kurz auf einen Arzt. Ein kurzer Wortwechsel gab Aufschluss über den Blutzoll, den sie bislang gezahlt hatten, und ließ darauf schließen, dass er noch sehr hoch werden würde, ehe die Schlacht vorbei war.
    Kurz kam doch so etwas wie Zweifel auf, ungewollte Gedanken an die mögliche Niederlage. Angst ließ Sextus nicht zu. Wenn er hier heute sterben sollte, war das besser, als diese ganzen Unbequemlichkeiten und Barbareien noch länger zu ertragen. Und sein Sohn war hoffentlich gut genug verborgen und in Sicherheit, um seinen Namen weiter zu tragen. Zumindest waren dies die nüchternen Gedanken, die Sextus angesichts dieser bewegenden Masse und dem Bewusstsein der Möglichkeit der Niederlage sich selbst zu geben befahl.


    Immer mehr Verwundete kehrten nicht verbunden wieder zurück, immer lauter drang das Schreien an sein Ohr. Vorne schrie die Bestie der Schlacht. Das war nicht mehr die Stimme von Männern oder Waffen, es war ein einziges, ohrenbetäubendes Brüllen eines losgelassenen Tieres. Eines verwundeten Tieres noch dazu. Und hinter ihm schrie ein zweites, gebildet aus Sterbenden und Verwundeten und dem Rufen der Ärzte dazwischen. Es stank nach Exkrementen, Dreck, Eisen und Blut.
    Und so erschreckend es war, so abstoßend und widerlich, Sextus wunderte sich ernsthaft, dass ihm das an und für sich keine Angst machte, sondern nur einen bitteren Galle-Geschmack des Ekels in seinem Mund zurück ließ. Lediglich die Unfähigkeit, die Ereignisse vernünftig zu erkennen und darauf angemessen reagieren zu können, dieses vermaledeite Unwissen, das bereitete ihm Kopfzerbrechen und vor allen Dingen ein sehr ärgertreibendes Gefühl der Hilflosigkeit. Sextus hasste es, die Situation nicht unter Kontrolle zu haben und nicht zu wissen, was als nächstes Geschehen würde.
    Ein verwundeter wurde in seiner Nähe abgeladen von seinen Kameraden. Er murmelte etwas vor sich hin, das verdächtig nach 'Mama' klang. Angewidert zog Sextus einen Mundwinkel hoch und sah hinunter in Richtung der Frontlinie. Nur an den Feldzeichen konnte Sextus erahnen, dass ihre Linie noch einigermaßen dort war, wo sie sein sollte. Ein Blick nach Norden ließ keinen Schluss über die Verfassung der anderen Legiones zu. Sextus brauchte mehr Informationen. Er hatte keine Ahnung, wie er reagieren sollte, was er befehlen sollte, aber er war sich sicher, ungenügend informiert zu sein. Daher erging nun als erstes der Befehl an einen Meldereiter, den Status der anderen Legionen in Erfahrung zu bringen.

    Ruhig hörte sich Sextus die Meldung an, die aus einem ihm nicht erfindlichen Grund zugestellt wurde. Der angusticlavus neben ihm war weit versierter in militärischen Fragen als Sextus. Im Grunde genommen, und so ehrlich war der Aurelier zu sich selber, hatte er von diesen Dingen hier so erschreckend wenig praktische Ahnung, dass er ernsthaft Ratschläge nicht nur annahm, sondern stellenweise sogar beherzigte. Sextus hasste es zutiefst, auf Hilfe anderer angewiesen zu sein und Dinge nicht aus eigener Kraft und mittels eigenem Verstand zu erschließen, aber in diesem Feldzug wäre er durchaus sehr zufrieden gewesen, auf seinem Gaul auf dem Feldherrenhügel zu sitzen und gut auszusehen. Er hatte keinerlei Ambitionen gehabt, die Secunda kommissionarisch zu führen, ja hatte noch nicht einmal Ambitionen gehabt, die verfluchten Singulares des Annaeus zu führen. Und momentan tat er weder das eine, noch das andere, sondern stand zwischen ängstlichen, stinkenden, blutenden und teilweise toten Männern im Dreck, vom selbigen besudelt,und sollte hier jetzt Entscheidungen treffen und Befehle geben.
    Soviel allerdings hatte Sextus schon von klein auf gelernt: Ein Anführer wusste immer, was zu tun war. Selbst dann, wenn er es nicht wusste. Ein Anführer hatte nie Zweifel, ein Anführer zögerte und zauderte nicht. Jede seiner Schwächen übertrug sich tausendfach auf die, die ihm folgten.Sollte er jemals sagen, er wisse nicht, was zu tun sei, war das der Tod für jegliche Moral und öffnete Debatte und Meuterei Tür und Tor.


    Also ignorierte Sextus den Fakt, dass er im Grunde keine Ahnung von der richtigen Vorgehensweise hatte. Er ignorierte auch die aufkeimenden Fragen, warum die Cohorten nicht wie vorgesehen wechselten und warum der Centurio nur 'ein paar Männer' nahm, um eine Bresche zu schließen, anstatt so viele wie möglich, oder aber sich taktisch zurückzuziehen, den Feind eindringen lassend und ihn dann von links und rechts einzukesseln und so noch besser niedermachen zu können. Diese Taktik des gewollten Rückzugs mit Einfall der Seiten war immerhin militärisches Standardwerk.
    “Die Männer der vierten sollen sich mit jedem neuen Wechsel hinter die Truppen der ihnen nachfolgenden Cohorte zurückfallen, die für sie entsprechend vorrückt. Der Centurio der Cohorte ist entsprechend zu informieren, ebenso wie der Centurio der vierten. Und er soll versuchen, die verdammte Bresche wieder zurückzuerobern.“ Wenn der Kerl schon vorstürmen wollte, sollte er es erfolgreich tun. Sextus wollte nicht, dass 'seine' Legion diejenige war, bei der die Frontlinie als erstes einbrach. Dass sie einbrechen würde, damit rechnete er fast fest. Und zu diesem Zeitpunkt wollte er wieder auf seinem Gaul sitzen und sich etwas weiter hinten aufhalten, nicht in Reichweite der verfluchten Pila.

    Das war nah. Das war viel zu nah! Die Männer schoben sich Reihe um Reihe nach vorn, reichten Pila durch, schleuderten diese auf die anstürmenden Gegner bei Gelegenheit, standen ansonsten in Reih und Glied, um den feind mit einem Wall aus Schilden aufzuhalten wie ein Damm heranstürzendes Wasser. Und Sextus war viel zu nah dran!
    Was beim Orcus hatte er sich gedacht, so weit vorne im Geschehen sich aufzuhalten anstatt sehr viel weiter westlich in erhöhter Position? Nachdem die Männer ihn nach seiner Rede angeglotzt hatten, als hätte er in einer ihnen fremden Sprache gesprochen – was nicht einmal auszuschließen war – und er sich gefragt hatte, ob sie auch nur den Hauch einer Ahnung hatten, wovon er sprach, oder ob die Angst vor dem möglichen Tod sie nur in eine Herde verständnislos dreinblickender Schafe verwandelt hatte, war er unsinnigerweise auf seiner sehr frontbezogenen Position geblieben, anstatt sich wieder zu seinem eigentlich zugedachten Platz zu gehen. Beim Blick hanganwärts hatte er auch kurzzeitig Gestalten auf Pferden aufgemacht. War der Claudier nun doch noch einmal aus seiner Isolation aufgetaucht, um sich hinterher nicht sagen lassen zu müssen, die Schlacht verschlafen zu haben? Sextus Mundwinkel zuckten einmal abfällig.
    Dennoch war sein Platz dort oben und nicht hier unten, so verdammt nah am Schlachtgeschehen. An ihm vorbei wurden blutende Männer geschleift, weiter nach hinten durch. Sein Gaul befand sich auf einem der Wege, die zwischen den einzelnen Centurien gelassen wurden, um die Verletzten abtransportieren zu können und Meldungen zwischen der Front und den Befehlshabern zu ermöglichen. Aber für seinen Geschmack viel zu nah!


    Dass Sextus damit recht hatte, zeigte sich unvorhergesehen. Als er den zottigen Hund, auf dem er ritt, gerade langsam aber stetig wieder in Richtung Hang dirigieren wollte, kam aus dem nichts ein Pilum geflogen. Sextus bezweifelte doch, dass es auf ihn gezielt worden war, viel eher war es einem kräftigen Arm und der Wucht der Verzweiflung wohl zu verdanken, dass das Ding über mehrere Kampfreihen hinweg flog und einen Mann keine zwei Schritt vor ihm von den Beinen riss. Der Mann stürzte blutend und schreiend zu Boden, direkt vor das Pferd, das bislang noch nie den Eindruck gemacht hatte, von irgend etwas wirklich aus der phlegmatischen Ruhe gebracht zu werden, jetzt aber diese Attitüde abzulegen gedachte und unversehens erschreckt stieg. Den Rest erledigte die Schwerkraft und die mangelnde Vorbereitung des Reiters auf eben diese Situation. Ziemlich unheldenhaft stürzte Sextus vom Pferd in eine Melange aus Grassoden, Dreck, Blut und anderen Dingen, an die der Tribun besser nicht denken wollte. Der Aufprall war mehr demütigend als wirklich schmerzvoll, und so schlug er eine hilfreich angereichte Hand entnervt von sich, gebrüllt mit einem “Da vorn geht es zur Schlacht!“ und einem Wink in Richtung Front, während er selbsttätig aufstand. Sein Umhang hin sehr unelegant an ihm herunter, vollgesogen mit braunem, undefinierbaren Schlamm, der auch an seinem Oberarm klebte und den er sich unwirsch mit der Hand von der Wange wischte. Er vermied es bewusst, irgendjemanden anzusehen, und starrte mit gefestigter Miene an sich herunter, um sich vom Dreck zu befreien. Er war Patrizier und hatte Würde zu wahren.
    Sein Gaul wiederum war davongelaufen. Irgendwo weiter hanganwärts sah er einen Legionär am Zügel des Viehs ziehen, um es zum stillstehen zu bewegen, wobei es heftig an eben jenem zog und zerrte. Elendes Mistvieh. Sextus stapfte in seine Richtung, vorbei an ängstlichen Legionären, die weiter vorrückten.
    Irgendwo in der Nähe hörte er jemanden nach einem Tribunen rufen. “Ja?““Ja?“ antwortete er zeitgleich mit einem in der nähe befindlichen ritterlichen Tribunen, der im Gegensatz zu ihm noch beritten war. “Welcher?“ fragte Sextus über den Lärm der Schlacht hinweg und schloss weiter auf. Im Moment sah er wohl weniger tribunenmäßig aus, zumindest für seinen Geschmack.

    Von dem Auftauchen des Legaten bekam Sextus nichts mit. Er selbst lenkte seinen Gaul gerade durch die Reihen der Männer, die nervös darauf warteten, nach vorne durchzurücken und sich dem Feind zu stellen. Der Abzug der Cohorten nach Norden hatte den Feind wohl wie erwartet zum Angriff verleitet, denn in breiter Front rückten die feindlichen Legionen gegen sie vor und deckten die Männer direkt vorne erst mit Bleigeschossen aus Schleudern ein, während sie unaufhaltsam vorrückten.
    Das zottige Vieh zeigte nun doch so etwas wie ein wenig Temperament, denn der Krach der Männer hier und das Stampfen jenseits des Walles ließen es nervös schnauben und leicht von einem Bein aufs andere tänzeln, während es sich auf den festgetretenen Wegen zwischen den Männern langsam vorwärts bewegte. Die Ohren beständig leicht angelegt und mit zitternden Flanken. Sextus hoffte nur, dass es ruhig blieb.


    Es war wohl die Zeit für aufmunternde Worte. Sextus hasste pathetische Reden. Er hatte von seinen Lehrern gelernt, wie man ein Publikum fesselte, die hohe Kunst der Rhetorik, die Zusammenstellung der Sätze, hatte alle Werke dafür eingeprügelt bekommen (wortwörtlich, gab jeder Fehler beim Rezitieren doch einen ordentlichen Schlag mit dem Stock um ihn daran zu erinnern, gründlicher vorzugehen), hatte die Reden von Cicero allesamt gelesen, ebenso die von Seneca und anderer namhafter politischer Größen ihrer Zeit. Allerdings hatte keine dieser ganzen Reden auch nur den Hauch von Bezug zu Situationen wie dieser, wo man einen zu groß geratenen Hund durch eine Horde stinkender, nervöser Männer lenkte, während der Feind den ersten Kontakt am Wall suchte. Sextus hasste Improvisation fast so sehr wie Zeitverschwendung. Aber irgend etwas würde er sagen müssen, um die Gemüter der Männer zu erheben. Und er hatte keine Ahnung von ihnen, was in Gemütern wie diesen vorging, was diese... Plebejer hier erwarteten. Er war es gewohnt, zu vermögenden Männern zu sprechen, die Pfründe zu verteidigen hatten, Ansehen, Familienehre. Die Männer hier waren hier, weil es hier drei geregelte Mahlzeiten am Tag gab und einen besseren Sold als als Tagelöhner, ab und an etwas Beute, am Ende der Dienstzeit vielleicht ein Stück Land, das man sein Eigen nennen konnte. Was sollte er ihnen erzählen von Ruhm und Ehre? Vielleicht gar nichts.


    “Dort drüben, Männer, steht euer Feind. Keine Barbaren aus fernen Ländern, keine Parther, Germanen, Pikten, Dacer oder sonstige Fremdlinge, die von euch und eurem Leben so wenig wissen wie ihr von dem ihren. Nein, es sind Römer wie ihr.
    Was ihre Taten nur umso schrecklicher macht! Dort drüber steht der Abschaum des Imperiums, der römische Frauen und Kinder geschändet und getötet hat, der die Grenzen dieses Reiches, das zu beschützen ihr bei allen Göttern geschworen habt, mutwillig aufgegeben hat, um sich an unserer Heimat, unserer Mutter Roma, zu vergreifen.
    Ich werde euch nicht erzählen, dass es eine Ehre wäre, gegen sie in die Schlacht zu ziehen. Ich werde euch nicht von reicher Beute vorschwärmen oder davon, ihre Frauen zu ficken.
    Die Wahrheit ist, dass wir hier stehen, weil wir keine andere Wahl haben. Ihr seid die wahrhaftesten Männer dieses Imperiums. Wenn ihr weicht, werden diese Bestien dort drüben mit allen Städten Italias dasselbe tun, was sie mit Patavium gemacht haben. Mit euren Familien, euren Nachbarn, euren Verwandten, ja selbst mit den Huren, die euch in Verona das Lager gewärmt haben. Die Händler, bei denen ihr Waren getauscht haben, die Kinder, die euch am Straßenrand zugejubelt und uns noch ein Stück begleitet haben bei unserem Auszug. All diese werden schreiend sterben, wenn ihr weicht.


    Aber ihr werdet nicht weichen! Der Feind hat geglaubt, sicher bis Rom vorrücken zu können, aber wir sind hier. Wir haben die Alpen überquert! Sie haben Brücken vor uns eingerissen, um uns abzuhalten, aber dennoch sind wir heute hier. Sie haben versucht, Spione unter uns zu bringen, aber dennoch sind wir hier. Sie haben versucht, Vincetia einzunehmen, aber wir sind hier. Ja selbst jetzt noch haben sie versucht, uns zu umgehen, aber wir sind hier! Für die Menschen aus Vincetia. Für die Menschen aus Verona. Für die in Roma. Für alle Menschen dieses Imperiums! Für eure Familien!
    Also lasst sie kommen und zeigt ihnen, was der Unterschied zwischen einer Bestie und einem wahren Mann ist! Beweist ihnen, dass jeder von euch mehr wert ist als zehn, als zwanzig von ihnen! Wir werden nicht weichen! Hier ist ihr Weg zuende!
    Für Roma! Für Palma!“


    Sextus hatte keine Ahnung, ob diese Männer hier auch nur den Hauch einer Ahnung hatten, wovon er sprach, und ob es sie auch nur im mindesten interessierte. Zumal die erste Reihe von ihnen schon Befehle anderer Natur zugebrüllt bekam und vermutlich nicht viel von dem überhaupt hörte, was er hier zum besten gegeben hatte. Aber nichts zu sagen war für einen Tribunen eben auch keine Option.

    Nachdem das vorangegangene Wortgefecht doch recht abrupt geendet hatte, war man wieder zurückgekehrt zu den eigenen Truppen. Sextus hatte sich an die erhöhte Position begeben, die ihn die Stellung und Verschanzung der zweiten Legion überblicken ließ, zusammen mit den anderen Tribunen. Der Versuch zur Zeitverschwendung war Zeitverschwendung gewesen, was Sextus' Laune nicht unbedingt gehoben hatte. Überhaupt sah er der Schlacht sehr skeptisch entgegen. Ihre Truppe war kleiner, schlechter versorgt und erschöpfter. Ihr einziger Vorteil war es, das Schlachtfeld wählen zu können und die erhöhte Stellung.
    Etwas grübelnd und die Chancen seines Ablebens berechnend hörte sich auch Sextus die kurze Ansprache von Flaminius Cilo an. Eigentlich hätte Claudius Menecrates ebenfalls einige Worte finden sollen an seine Legion, allerdings war nicht einmal der Claudier selbst zu finden. Seit dem Tod seines... Neffen? Sextus war sich nicht sicher, die claudische Familiengeschichte interessierte ihn aus Gründen der schlichten Bedeutungslosigkeit der claudischen Gens in den letzten Jahren im Allgemeinen und für die Aurelier im Besonderen nicht genug, um sich damit näher zu beschäftigen. Seit dem Tod von Claudius Victor also hatte sich Claudius Menecrates auch vollständig zurückgezogen, und auch jetzt war er nicht zu entdecken, von einer Ansprache an die Männer ganz zu schweigen. Ärgerlich.


    Allerdings nicht viel Zeit, sich darüber zu ärgern, da ihr Gegner doch ziemlich schnell zu dem Entschluss gekommen war, dass ihr Zentrum nicht zentral genug war und er lieber die Stadt plündern wollte, wie es aussah. Und so kam Sextus den Befehlen nach, die Stellungen weiter nach Norden zu verlegen, so dass sie nun hinter anderen Verschanzungen und er selbst auf einem anderen Hügel die Szenerie überblickte. Hatte ihr Gegner geglaubt, an ihnen vorbeimarschieren zu können? Ein wenig sah es danach aus.
    Auch jetzt schien es so, als greife er ihre nördliche Flanke an, anstelle wie in allen militärischen Abhandlungen bevorzugt das Zentrum. Vor allem, da er die zahlenmäßige Überlegenheit hatte. Welchen Sinn ergab dieses Manöver?


    Ein Meldereiter kam von den nördlicher stationierten Truppen und suchte ihren Befehlshaber. “Das bin dann wohl ich“, meldete sich Sextus trocken und nicht im mindesten Stolz auf diese Position. Vor allem, da sie nur mit der Verantwortung eines Legaten einherging, nicht aber mit dessen Rang oder Privilegien.
    Befehle wurden überbracht, die nicht weiter verwunderlich waren. Natürlich reagierte man auf die Situation im Norden ihres Schlachtfeldes und wartete nicht ehrerbietig, ob die Männer da oben sich gegen die Übermacht behaupten konnten, um zu sehen, was denn als nächstes geschah. Und abgesehen davon, dass Sextus als Tribun eine untergeordnete Rolle im Grunde spielte – wenn auch rein rechtlich gesehen und in der Praxis wohl anders – sah er auch keinen Kritikpunkt an eben diesem Plan und gab entsprechend Befehle. Zwei Centurien sollten über die nördlichen Hügel außer Reichweite der gegnerischen Schleuderer nach Norden marschieren und dort die Truppen verstärken. Die Centuriones würden die genaueren Spezifika ihren Männern schon erklären. Und so fleißig, wie die Truppen des Gegners sich auf ihre nördliche Flanke stürzten, würden die zwei hier fehlenden Cohorten sie nicht über Gebühr schwächen. Ohne Gegner reichten die verbliebenen Cohorten massig gegen die gefährlichen Grashalme.

    Von einer bestimmten Warte aus betrachtet, war die ganze Situation fast schon von einer ironischen Komik. Eigentlich hatte Cornelius Palma mit dem Giftmord so gut wie gar nichts zu tun. Er war weder an der Planung beteiligt gewesen, noch an der Durchführung. Er war lediglich der Nutznießer der ganzen Situation gewesen, da er der geeignetste Kandidat war, auf den sich alle hatten verständigen können: Ein erfahrener, ruhiger Mann, kriegsversiert, Senator, Patrizier, aus guter Familie und insgesamt eben kein wahnsinniger, Leute verbannender und bürgerkriegstreibender Emporkömmling von einem Plebejer. Und so abstrus Sextus überhaupt die Vorstellung einer übergeordneten Moral als solches empfand oder den Zwang, sich gar nach einer solchen richten zu müssen und Handlungen in Kategorien wie gut oder böse zu unterteilen, was seiner Erfahrung nach ohnehin nicht zweckdienlich war, so konnte er von einem rein utilitaristischem Standpunkt aus nicht erkennen, worin genau das Verbrechen bestehen sollte. Valerianus, der krank und nicht regierungsfähig war und den Staat eben jenem plebejischen Monstrum auf Gedeih und Verderb ausgeliefert hatte, war zum Wohle Roms gestorben, um einem Mann den Weg zu ebnen, der Ruhe und Frieden ins Reich bringen würde und die alten Normen wieder herstellen würde. Es war eine Notwendigkeit gewesen, um einen größeren Nutzen zu erzielen. Wenn man also schon zwanghaft versuchte, ihre Handlung in diese willkürliche moralische Ordnung von Gut und Böse zu pressen, konnte man mit Blick auf das angestrebte Ziel den Einsatz von Gift in diesem Fall nicht verurteilen.
    Und doch echauffierte sich der Prätorianerpräfekt sich darüber, als hätte Cornelius Palma höchstpersönlich Valerianus mit Gewalt das Gift in den Rachen gestopft und anschließend die Kaiserfamilie zerstückelt und in ihrem Blut gebadet. Irgendwie amüsant, wenn man Sextus’ Wissensstand bezüglich der ganzen Sache besaß.


    Weniger amüsant war da schon das Verhalten seines Gaules. Während das Tier des Laberiers sich ganz so verhielt, wie man es von einem feurigen Tier wohl erwarten durfte, machte Sextus reitbarer Untersatz keine Anstalten, irgendwie kriegerisch auszusehen. Vielmehr gab es sich wohl alle Mühe, als überdimensionierter Hund zu erscheinen, als es den Kopf leicht schief legte und das andere Tier betrachte, als wolle es verschlafen fragen: ’Is was, Bruder?’
    Auch das folgende Wortgeplänkel war eigentlich Zeitverschwendung. Ginge es bei dieser Aktion nicht genau darum, möglichst viel Zeit zu verschwenden, Sextus hätte diese wie alle übrigen zutiefst verabscheut. So aber ertrug er das hin und her der Worte, und lächelte nur einmal wölfisch, als der Laberier meinte, man solle doch bitte den unteren Rängen ausrichten, dass diese auch desertieren könnten. Sextus war versucht, ihn zu fragen, ob er die semantische, logische, gebräuchliche, philosophische, mathematische, traditionelle und tatsächliche Bedeutung des Wortes ’Nein’ kenne.


    Vala hatte sich wohl dazu entschlossen, nun auch seinen Teil beizutragen, und schoss nicht minder wortreich zurück bezüglich des Vorwurfes von römischem Blut. Das überhaupt war der amüsanteste Part des ganzen: Ihre Armee war bislang nur marschiert, und das durch das halbe Imperium, ohne auch nur eine einzige Schlacht dabei zu schlagen. Dennoch hatten sie schon Verluste erlitten bei der Überquerung der Alpen und hatten nicht zuletzt auch ihren ganzen Tross kurz und kleinschlagen müssen, um daraus eine neue Brücke zu fertigen und überhaupt hier her zu kommen. Aber sie hatten noch zu keinem Zeitpunkt wirkliche Gewalt angewendet, erst recht nicht gegen die Zivilbevölkerung. Und dennoch waren sie die bösen Rebellen.
    “Wie geht es eigentlich Consular Aelius Quarto?“ warf Sextus dann noch hinzufügend in den Raum, wo sie gerade doch so schön beim Thema der Nutznießer und rechtmäßigen Erben waren. Nicht, dass Sextus für den Aelier etwas übrig hätte. Sollte dieser nach dem Krieg doch tatsächlich aus irgendeinem Loch kriechen und versuchen wollen, die Kaiserwürde zu beanspruchen, wüsste Sextus sehr genau, wen er als nächstes zu vergiften (oder wahlweise erdolchen, ersäufen, ersticken oder im Wald verscharren ) lassen würde. Aber hier und jetzt war der Mann ein Argument, das etwas Zeit kosten würde. “Mich wundert, dass der Bruder des Valerianus seit Beginn der Proskription spurlos verschwunden ist. Nicht vor der Machtergreifung des Usurpators im Zuge dieser angeblichen Verschwörung von Palma.
    Wobei mich mehr wundert, dass Vescularius ihn nicht wenigstens der Form halber auf die Proskriptionsliste hat setzen lassen…“
    Sextus nahm sehr stark an, dass Salinator den Aelier einfach hatte umbringen lassen, um auch dieses Hindernis aus dem Weg zu haben beim Griff nach dem Thron. Rein rechtlich war Quarto zwar mit Valerianus nach dessen Adoption in keinster Weise mehr verwandt, aber dass Quarto ein vehementer Gegner von Salinator war, war bekannt gewesen, ebenso das weiterhin innige Verhältnis zwischen Valerianus und dem Consular.
    “Jeder Mann mit ein wenig Verstand kann deutlich sehen, wem dieser Krieg hier einzig und allein nützt und wem der Mord an Valerianus einzig genützt hat. Vielleicht solltet ihr lieber eure Männer einmal fragen, ob sie gewillt sind, für so einen Mann zu sterben. Sie schulden Vescularius keine Treue.“

    Das Pferd unter Sextus Hintern gab sich heute außerordentliche Mühe, möglichst struppig und zottelig auszusehen. Insgesamt befand es sich nur eine halbe Evolutionsstufe über einem Wisent, wobei die filzigen Haare wohl noch erhalten geblieben waren. Und es sah umso unwürdiger aus, je näher die feindlichen Parlamentäre näher kamen, um sich mit ihnen auf dem freien Feld zwischen ihrer beider Armeen zu treffen.
    Im Grunde war es eine unnütze Zeitverschwendung, sich hier draußen zu treffen und miteinander zu reden. Keine der beiden Seiten würde irgend etwas vorbringen können, um die andere Seite zur Umkehr zu bewegen. Die Armee aus dem Norden war hungrig, weit gereist und vollkommen pleite. Es gab einige Soldaten, die noch heruntergekommener aussahen als das Tier, auf dem Sextus sich hierher aufgemacht hatte (und das ihm trotz zahlreicher Gelegenheiten noch immer nicht den Gefallen getan hatte, einfach zu sterben. Aber vielleicht ergab sich ja in den folgenden Tagen diese Möglichkeit durch einen gut gezielten feindlichen Pfeil oder dergleichen. Oder es brach sich einfach nur den Hals.). Und das sagte schon einiges über den Zustand ihrer Truppen aus.
    Auf der anderen Seite stand das Heer von Laberius Maturus, nicht weniger weit gereist, aber nicht halb so pleite und nach der Plünderung Pataviums wohl auch nicht mehr wirklich hungrig, in Begleitung von Prätorianern, die auf einmal aus dem Nichts aufgetaucht waren, sehr zu Sextus' persönlichem Ärger. Vor wenigen Tagen hatte er noch darüber diskutiert, dass ihre etruskischen verbündeten einen großen Vorteil boten und ihre Unterstützung wertvoll wäre, allerdings hatten sie wohl nicht vermocht, dieses mittlere Fiasko zu verhindern, was ihre Nützlichkeit in argen Zweifel zog.
    Nach den reinen Regeln der Wahrscheinlichkeit standen die Chancen auf einen Sieg ihres Heeres gegen den Laberier ziemlich schlecht. Auf der anderen Seite würde es dennoch nichts geben, was dieser ihnen bieten konnte, um umzukehren und aufzugeben. Es gab für die Truppen aus dem Norden und die Männer, die sie anführten, nur diesen einen Weg. Die Zukunft wurde vom Schwert bestimmt, entweder dem, das man schwang, oder das, in das man sich stürzte, wollte man nicht eine Ewigkeit fernab der Zivilisation im Exil verbringen. Und Sextus hatte nicht vor, diese endlose Reise auf dem bockigsten und stinkendsten Zottelvieh der Welt hinter sich gebracht zu haben, nur um hier Selbstmord zu begehen. Selbiges hätte er bequemer gleich in Rom erledigen können. Und auch die anderen Männer hier, die ebenso wie er auf der Proskriptionsliste zu finden waren, hatten nichts mehr zu verlieren, aber alles zu gewinnen. Es gab nur den Sieg, alles andere war keine Option.


    Der Prätorianerpräfekt ergriff das Wort, und Sextus schenkte ihm einen Blick aus müden Augen. Ui, dem Mörder des Kaisers folgten sie? Da war Sextus jetzt aber beeindruckt, das änderte natürlich alles. Abgesehen davon, dass Palma mit dem Mord fast weniger zu tun hatte als Sextus selbst, war der gute Mann nur bei zwei der Besprechungen überhaupt anwesend gewesen und auch erst dazugestoßen, als der Plan zur Ermordung von Valerianus schon stand und Palma als der vernünftigste Nachfolger beschlossen war.
    “Wir haben die Waffen gegen einen Brudermörder und Usurpator erhoben, der selbst den Sohn des Senators Decimus Livianus, der dessen größter Gegner war, offensichtlich täuschen konnte“, erwiderte Sextus leichtzüngig und glatt. Er hatte keine Ahnung, ob der Flaminier um die Verwandtschaftsbeziehungen des Decimers und der Einstellung dessen Vaters im Senat Bescheid wusste. Immerhin war der Mann eine halbe Ewigkeit fern von Rom gewesen, und was diese Abgeschiedenheit mit Menschen anrichten konnte, davon hatte sich Sextus in Mogontiacum ausreichend überzeugen können. Die römischen Sitten waren dort oben rudimentär bis gar nicht mehr vorhanden gewesen, und das selbst bei Römern, die Jahre in Rom verbracht hatten. Da konnte es sicher nicht schaden, wenn er selbst dem Flaminier diese kleine Hilfe gab, um ihn ins Bild zu rücken. Decimus Livianus war immerhin ein großer Name seinerzeit gewesen, Praefectus Urbi und Prätor, lediglich am Consulat gescheitert. Und bekennender Gegner von Vescularius Salinator.