Okay, ich habe mich noch ein wenig auf die Suche gemacht ...
und nicht weniger als sechs weitere interessante Publikationen zu diesem Thema gefunden.
Zunächst abermals Gerhard RADKE (der sich offensichtlich über Jahrzehnte mit der Thematik befasst, und überall seine Spuren hinterlassen hat.)
Vesta und die Vestalen (aus: "Zur Entwicklung der Gottesvorstellung und der Gottesverehrung in Rom, Darmstadt 1987)
"Obwohl die Gelehrten darin übereinstimmen, dass die Römer keine ihnen eigene Mythologie entwickelt haben, und einmütig der Meinung sind, dass fast alle Geschichten dieser Art, die Roms Dichter vortrugen, von griechischen Vorbildern abhängen, erlaube ich mir dennoch - bei völliger Übereinstimmung mit der vorgenannten Auffassung -, an den Anfang dieser Untersuchung eine Gestalt der pseudo-historischen römischen Vergangenheit zu setzen, weil ich an ihr die unmittelbare Beziehung einer Reihe nur in der griechischen Mythologie erhaltener Bräuche mit dem Schicksal der römischen Vestalen darstellen kann: Ich spreche von Rhea Silvia bzw. Ilia, die bei Naevius und Ennius als Tochter des Aeneas gilt; Silvia vestalis - quid enim vetat inde moveri? (Ovid. fast. 3, 11.)
In der landläufigen Fassung der Geschichte machte Amulius, König von Alba Longa, die Tochter seines Bruders, dem er das Königtum geraubt hatte, zur Vestalin, d. h. einer zur Bewahrung ihrer Jungfräulichkeit durch Kultgesetz verprlichteten Priesterin der Vesta, um zu verhindern, dass sie Nachkommenschaft bekäme, derenthalben man ihm die Herrschaft streitig machen und ihn selbst vom Throne stürzen könnte. Die Götter wollten es anders: Mars verband sich mit Ilia und zeugte mit ihr die Zwillinge Romulus und Remus, deren Erstgenannter zum Gründer der Stadt Rom wurde. Als Amulius von der Niederkunft erfuhr, ließ er die junge Mutter von der Höhe eines Felsens in den Tiber stürzen und die Kinder aussetzen. Der diesem Mythos innewohnende Gedanke ist folgender: Ein junges Mädchen, von seiner Familie im Stande der Jungfräulichkeit gehalten, wird dennoch von einem Gotte geschwängert. Sie bringt Söhne zur Welt und wird in Folge ihres Ungehorsams vom Berge hinabgestürzt. Unter den einzelnen Zügen dieses Vorgangs wird die Tötung der jungen Mutter in der Literatur sehr leicht und daher auch sehr häufig mit dem Opfer einer Jungfrau vermischt und verwechselt, obwohl das zwei völlig unterschiedliche Dinge betrifft. Der Grund für diesen Irrtum findet sich allein in der Überlieferung, die auf den Zusammenfassungen und Auszügen der Grammatiker beruht, deren Interesse mehr den Umständen des Todes als dessen Motivation galt. Um das "Opfer" der Ilia, der ersten - vorrömischen - Vestale, verstehen zu können, muss weiter in der Schilderung dieses Zusammenhanges ausgeholt werden.
Ein Teil der Opfer junger Frauen - genauer: junger Mädchen - muss zu der Gruppe der Ersatzopfer gerechnet werden, durch die man einen Gewinn oder Nutzen zu erreichen sucht oder einen Schutz gegen irgendeine Gefahr zu finden hofft, indem man auf etwas Wertvolles im eigenen Besitz verzichtet: Der Ring des Polykrates ist Gegenstand des bekanntesten Beispiels. Phylarchos, der in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr. geschrieben hat, behauptet, alle Griechen haben Menschen getötet, bevor sie in einen Krieg zogen; ob das zutrifft, soll hier nicht gefragt werden. Pausanias von Damaskos, ein Schriftsteller christlicher Zeit, berichtet von Jungfrauenopfern bei Gelegenheit der Stadtgründungen von Antiochia und Laodicea unter der Herrschaft Seleukos' I. Nikanor etwa um 300 v. Chr. und zitiert sogar die Namen der geopferten Mädchen. Porphyrios bezeugt das, kennt aber auch schon den Ersatz der zu opfernden Jungfrau durch eine Hindin; man wird sich dabei des Opfers der Iphigeneia in Aulis entsonnen haben. Ebenso sprach man vom Opfer einer Jungfrau, das vor der Schlacht bei Leuktra beabsichtigt war, dann jedoch nicht zur Ausführung kam, weil ein Fohlen erschien, das an für das von den Göttern gewählte Opfertier hielt. In der erwähnten Darstellung unterstreicht Porphyrios die vorausgesetzte Analogie dieser Opfer mit dem der Töchter des Erechtheus, Königs von Athen.
Davon ist ein anderes Motiv zu unterscheiden, nach dem ein Vater sich gezwungen sieht, auf einen sexuellen "Fehltritt" seiner Tochter zu reagieren. Es findet sich häufig in griechischen Mythen. Das bekannteste und auch in hohem Maße charakteristische Beispiel findet sich in der Geschichte der Danae und ihres Söhnchens Perseus, deren Bedeutung deshalb so wichtig ist, weil dieser Mythos eine Gruppe von Motiven in sich vereinigt, deren jedes in Analogie auch in anderem Rahmen festzustellen und wiederzufinden ist: Akrisios, König von Argos, hatte nur eine Tochter, eben jene Danae, und ging deshalb zum Orakel, um sich zu erkundigen, ob er noch mit männlicher Nachkommenschaft rechnen könne. Als er zur Antwort erhielt, ein Sohn seiner Tochter würde ihn töten, sperrte er sie in ein unterirdisches Gemach - auch Kerkyon schloss seine Tochter Alope, die von Poseidon schwanger wurde, in ein solches Gefängnis -, um ihr jede Möglichkeit zu nehmen, in Kontakt zu einem Manne zu treten. Aber er erreichte damit sein Ziel nicht: Unter den zwei Versionen der Sage kennt die in höherem Maße realistische den Proitos, feindlichen Bruder des Akrisios, als Liebhaber der Danae, während die mehr mythische Form der Geschichte Zeus für die Schwangerschaft verantwortlich macht; der Gott sei in einen Goldregen verwandelt in den unterirdischen Raum eingedrungen und habe mit Danae den Perseus gezeugt.
Als diese das Kind zur Welt brachte, glaubte Akrisios ihren Beteuerungen nicht, dass Zeus selbst der Vater des Kindes sei. Er verschloss beide, Danae und Perseus, in einen Kasten und ließ diesen ins Meer werfen. Bis zu diesem Punkte vereinigt der Mythos folgende Themen in seinem Rahmen: Orakel, Absonderung des jungen Mädchens in einem unterirdischen Gemach wie bei Alope und auch Antigone - die Einsetzung der Ilia als Vestale erfüllt die gleiche Funktion der Isolierung und ist demnach vergleichbar - , geschlechtliche Verbindung gegen den Willen des Vaters und schließlich das "Kind der Jungfrau", der Kasten und ihr gemeinsamer Sturz ins Meer. Die griechische Mythologie ist reich an solchen Geschichten.
Der bekannteste und berühmteste Fall jedoch wurde durch die Vergewaltigung der Kassandra, Priesterin der Athena von Ilion, ausgelöst, die diese von Aias, dem Sohne des Oileus, zu erdulden hatte. Nach der historischen Überlieferung, die durch eine Inschrift über den Hergang bestätigt wird, wurde die lokrische Heimat des Aias durch Missernten und Krankheiten heimgesucht. Das Orakel sah den Grund in dem Verbrechen des Aias und ordnete an, jährlich zwei Jungfrauen zum Tempel der Athena in Ilion zu senden für die Dauer von tausend Jahren. Die Trojaner lauerten den Mädchen auf, um sie durch Steinigung zu töten. Wer entfliehen konnte, rettete sich in den Tempel, wo die Mädchen unbehelligt blieben; die Toten aber wurden verbrannt und ihre Asche von der Höhe des traronischen Felsens ins Meer geschüttet. Diese Art von Opfer wurde eingehalten bis zum Phokischen Kriege in der Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. Für den Rahmen dieser Untersuchung ist von Bedeutung, dass die Einrichtung immer ein Reservoir von potentiellen Opfern bereitzuhalten gestattete, deren man sich bedienen konnte, wenn die Lage ein solches Opfer erforderte. Die Flucht der jungen Tempeldienerinnen gab immer einen passenden Vorwand, sie umzubringen und sie oder ihre Reste vom Felsen zu stürzen. Auffällig ist lediglich, dass in diesem Falle nicht das schuldig gewordene Mädchen, sondern die unschuldigen Nachfahren des ehedem Schuldigen geopfert wurden. Trotz aller Willkür der Mythologie blieb aber der kultische Kern sichtbar erhalten.
Beim Sprung vom Felsen berichten viele Erzählungen von der Verwandlung des oder der Gestürzten in einen Vogel. Das berühmteste Biespiel ist die Verwandlung der Prokne und der Philomela, zu der ebenfalls eine athemitomixía, die Vergewaltigung Philomelas durch Tereus, geführt hatte. Eine solche Verwandlung gestaltete man in geschichtlicher Zeit tatsächlich zu einer Art Vorführung aus: An den Körper des Opfers, das vom leukadischen Felsen gestürzt werden sollte, heftete man Vogelfedern und Vogelflügel, ja ganze Vögel, um bei den Zuschauern den Eindruck zu erwecken, als vollziehe sich die Verwandlung in einen Vogel vor ihren Augen beim Sturz vom Felsen.
Obwohl die Formen des Mythos unter dem Einfluss der Dichtung miteinander und untereinander vermischt wurden, kann man dennoch zwei verschiedene Vorgänge innerhalb der Geschichten dieser Art deutlich unterscheiden. Einmal gab es das vom Orakel vorgeschriebene Opfer zur Abwendung einer drohenden Gefahr oder bei Gründung einer Stadt. Innerhalb dieses Opfers gibt es zwei Kategorien: In der ersten bietet sich das Opfer freiwillig an, wohingegen es in der anderen zur Opferung gezwungen werden muss wie Iphigeneia in Aulis. Auch die Formen, unter denen das Opfer vollzogen wird oder vollzogen werden soll, unterscheiden sich. Bietet sich das Mädchen aus eigenen Stücken zum Opfer an, stürzt sich die Jungfrau von der Höhe der Burg oder eines Felsens ins Meer; es gibt aber auch Beispiele der Steinigung.
Von dieser Art des Opfers - eines wirklichen Opfers also - mit seinen verschiedenen Formen unterscheidet sich grundlegend die Tötung eines jungen Mädchens, das sich gegen den Willen seiner Eltern oder gegen die Sitte der Gesellschaft, in der es lebte, mit einem Manne eingelassen hatte. Abgesehen von wenigen Ausnahmen wird die junge Sünderin von der Höhe eines Felsens ins Meer oder in einen Fluss gestürzt. Diese Tötungsart entspricht der Steinigung oder dem Lebendigbegraben. Man hat dabei die Absicht, dass die zum Tode bestimmte Person nicht von einem einzelnen berührt oder verwundet wird, dessen Individualität festgehalten werden könnte. Folglich ist es die namenlose Masse, die das Mädchen in den Abgrund stößt oder in das Grab drängt, die es mit Steinwürfen eindeckt und so aus der Entfernung umbringt. So verursacht die namenlose Masse den Tod; kein einzelner wird belastet. Das Ziel solcher Art von Tötung ist in diesem Falle auch nicht die Bestrafung, sondern man hält die junge Sünderin für einen Gefahrenträger, durch den der Frieden der Gemeinde gestört wird, und will sie daher aussondern und aus dem Bereiche des eigenen Landes entfernen, beseitigen, um nicht selbst von der Verunreinigung betroffen zu werden, die von ihr ausgeht.
Wie man glaubte, einen Zusammenhang zwischen dieser moralischen Unreinheit und den Krankheiten, Missernten und Gefahren jeder Art herstellen zu dürfen, so erkannte man darin eine Rechtfertigung für das, was man anrichtete: Aus der Entfernung der Trägerin des Unreinen wurde ein Opfer. So konnte man auch zu der Vorstellung kommen, man könne junge Mädchen im Dienste einer Gottheit aufbewahren, um sie opfern zu können, wenn eine unerwartete Gefahr drohte, obwohl damit die ursprüngliche Voraussetzung weder der Tötung einer Übertreterin heimischer Gebote noch des guten Willens des freiwilligen Opfers gegeben war. Lediglich der Aufenthalt als Priesterinnen im Dienste einer Gottheit konnte als freiwillige Zustimmung bewertet werden.
Man darf voraussetzen, dass sich diese Geschichten folgendermaßen entwickelten: Ihr Ursprung muss in den Sitten und Gewohnheiten einer Gesellschaft zu finden sein, in der junge Mädchen nicht das Recht besaßen, sich ihren Partner nach eigenem Gefallen auszusuchen, weil die Familien bzw. die Familienoberhäupter nach ihrem Ermessen die Verbindung der jungen Leute unter dem Gesichtspunkt jeweils verschiedener Interessen - nicht immer gegen den Nutzen der Betroffenen - oder einfach aus persönlicher Willkür bestimmten. Wenn ein junges Mädchen trotzdem gegen diese Regeln verstieß, weil es einen jungen Mann liebte, den die Eltern nicht als Schwiegersohn haben wollten, und wenn diese Verbindung Folgen hatte, war das ein Ereignis, das eigentlich niemals hätte eintreten dürfen. Die Gesellschaftsordnung war gestört; eine Nichtbeachtung konnte Wiederholungen Vorschub leisten.
Natürlich hätte man duldsam die Verbindung hinnehmen und unter priesterlicher Hilfe legalisieren können, aber niemand hatte das Recht, die Eltern zu zwingen, ihr Einverständnis zu geben. Andererseits war auch das Mädchen nicht zu veranlassen, seinen Liebhaber preiszugeben. Blieb auf diese Weise der Partner und Vater des Kindes unbekannt, suchte und fand man dennoch einen Ausweg, die peinliche Schwangerschaft zu erklären, indem man den Fremden und Unbekannten, der das Mädchen geschwängert hatte, für einen Gott ausgab. Erst die Mythologie bemühte Zeus, Apollon und Herakles; im menschlichen Leben wird man weniger bedeutende "Götter" genannt haben. Diesem konnte man dann mit dem Ziel der Beseitigung der bedrohlichen Person das ungehorsame Mädchen durch seinen Tod gleichsam überantworten; wenigstens in der Phantasie der Betroffenen war damit das Problem gelöst, ohne dass sie durch den Bruch des Sittengesetzes der Gesellschaft in Mitleidenschaft gezogen worden wären.
Keine dieser Formen des Opfers oder der Tötung einer Jungfrau darf mit der religiösen Prostitution gleichgesetzt werden, die bei Völkern semitischer Sprache ausgeübt wird. Dieser Brauch fordert den Aufenthalt eines jungen Mädchens im Tempel vor der Eheschließung und den Dienst dort als Hierodule, d. h., sie muss sich Fremden prostituieren, die in den Tempel kommen, um ihn zu besichtigen oder die Gottheit zu verehren. Dieser Akt der Hingabe ist keine Art von Opfer, sondern er entstammt der Angst vor der Brechung des Tabus des Anfangs beim Geschlechtsverkehr mit einer Jungfrau. Die Entjungferung stellt nach den heute gängigen Vorstellungen einen schweren Eingriff in das Leben der Frau dar, wohingegen sie in den Augen der Völker, die die religiöse Prostitution eingeführt haben, lediglich Gefahren für den Mann mit sich bringt, der sie vollzieht. Deshalb wird das junge Mädchen vor der Hochzeit einem Fremden ausgeliefert, der nach den in diesem Rahmen geltenden Vorstellungen ein Vertreter der Gottheit ist.
Religiöse Prostitution gab es - vermutlich unter phönizischem Einfluss - auch in Korinth und in Lokroi. In einer anderen Form, die sich keines menschlichen Täters bedient, hat sich in Rom eine offenbar sehr altertümliche Gewohnheit erhalten: Man überließ die Defloration einem Gotte namens Mutunus Tutunus, genauer gesagt: einem ithyphallischen Bilde, auf das sich das Mädchen setzen musste. Sein sacellum stand in Veliis (Fest. 142, 20f. L.). Die Beschreibungen der Kirchenväter, wie das bedauernswerte Mädchen dem Gotte als erstem ihre Schamhaftigkeit habe opfern müssen, sind von erbarmungsloser Deutlichkeit. Ob sie ihre Kenntnis nur aus Varros >Antiquitates< oder noch aus zeitgenössischer Beobachtung schöpften, ist unbekannt. Geht man von der Existenz eines solchen Gottesbildes aus, bleibt man in einer verhältnismäßig späten Zeit, in der man sich die Entstehung eines derartigen Brauches nicht mehr vorstellen möchte; erinnert man sich aber des fascinus gerade im Tempel der Vesta, der ja auch am Hange der Velia liegt, stellt sich der Gedanke an priesterliche Manipulation ein, durch die das Tabu gebrochen wurde.
Obwohl bei diesen Vorgängen ebenso ein Gott gleichsam an die Stelle des menschlichen Partners tritt oder gesetzt wird, ist der Unterschied in der grundlegenden Auffassung doch tiefgreifend. Im Falle der reigiösen Prostitution wird der Dienst des jungfräulichen Mädchens durch die Angst des Mannes vor dem Tabu verursacht, während der Sturz vom Felsen die Trägerin immaterieller Verunreinigung beseitigen soll, die durch ihr vorausgegangenes Verhalten eine Gefahr für die Gemeinschaft bedeuten könnte. Die einzige zwischen beiden Vorgängen zu beobachtende Übereinstimmung wird durch den Tod des Kindes geschaffen: Man wirft es mit der Mutter ins Meer oder man tötet den Erstgeborenen in Form eines Opfers; das ist ein Akt, der dadurch verständlich wird, dass es sich nicht um das Kind des Ehemannes, sondern um den Bastard eines Fremden, um die Frucht der Prostitution handelt. Folgerichtig konnten die Hebräer das Kinderopfer abschaffen - im Alten Testament Gen. 22, 1ff. geschieht das anlässlich der geplanten, aber nicht vollzogenen Opferung Isaaks -, weil ihnen eine religiöse Prostitution unbekannt war.
Der Ausdruck "Kind der Jungfrau" will veranschaulichen, dass man den Fehltritt - mit diesem Worte ist schon die grundsätzliche Einstellung der Gesellschaft umschrieben -, dass man also die unstatthafte Hingabe des jungen Mädchens durch das Wunder seiner Verbindung mit einem Gotte zu erklären suchte, die nicht wie bei einer "heiligen Hochzeit" bewusst herbeigeführt wird, sondern die man als Ausrede braucht. Diese Vorstellung verhüllt nicht nur die Beseitigung der jungen "Sünderin" unter dem Schleier eines Kultaktes, sondern birgt auch die Möglichkeit, diesem Gotteskinde in der Mythologie eine besondere Rolle zuzuschreiben. Perseus, Sohn der Danae, Telephos, Sohn der Auge, Anios, Sohn der Rhoio, wurden bedeutende Gestakten der Sage und Geschichte; aber auch Herakles, die Dioskuren und Dionysos waren Söhne von Göttern mit sterblichen Frauen. Daran kann man die Macht der Mythologie erkennen, der es gelang, einer durchaus menschlichen Begebenheit den Charakter einer heiligen Geschichte zu geben. Gottessohnschaft und Jungfrauengeburt sind Glaubensinhalte, die man in ihrer Tragweite beobachten kann, in ihrer Ernsthaftigkeit aber anerkennen muss.
Die vorangehenden Erörterungen waren notwendig, um den vollen Umfang der Vorstellungen zu beschreiben, die sich aus den Maßnahmen erklären lassen, die ergriffen wurden, wenn ein Mädchen außerhalb der Gesetze und Gewohnheiten der Gemeinschaft und gegen den Willen der Eltern eine Bindung mit einem Fremden einging. Die Gefahrenträgerin wurde beseitigt. Da eine drohende Gefahr aber auch durch ein Jungfrauenopfer abgewehrt werden konnte, flossen beide Vorstellungen ineinander: So konnte man auf den Gedanken kommen, Mädchen abzusondern, die im Augenblicke einer Gefahr geopfert werden konnten. Um das der Gemeinde verständlich zu machen, motivierte man die Tötung durch eine tatsächlichen oder auch nur angenommenen Akt der Unkeuschheit, des Inzests. Die Tötung selbst fand in Form der Beseitigung statt.
Die charakteristischen Züge dieser Vorgänge, deren einstige Realität innerhalb der Gesellschaftsordnung durch die dichterische Schilderung der griechischen Mythologie weiterlebt und bekannt geblieben ist, finden sich in der Einrichtung des Dienstes der römischen Vestalen wieder. Die zusammengehörigen Fakten sind der incestus d. h. die Übertretung der ihnen als lex divinitus lata vorgeschriebenen hagneía triakontaétis, und ihre daraufhin erfolgende Beseitigung durch Sturz vom Tarpeischen Felsen oder durch Lebendigbegraben auf dem sceleratus campus an der porta Collina, zwei Arten der Tötung, bei denen niemand Hand anzulegen brauchte. Es kommt hinzu, dass auch in Rom die Vestalen wie in Ilion die lokrischen Mädchen sozusagen für diese Maßnahme im Tempeldienst zur Verfügung gehalten wurden, falls eine solche sich als notwendig erwies. Das trat immer dann ein, wenn man fürchtete, der Staat sei von irgendeinem Unglück bedroht; diese Gefahr wurde durch Prodigien angezeigt, die entweder mit dem Vestaleninzest zusammenhingen wie das Verlöschen des von ihnen gehüteten Feuers oder sich auf andere unerklärliche Ereignisse bezogen und die Befragung der libri Sibyllini notwendig machten: Responsum infamiam virginibus ... portendi war eine der möglichen Antworten. Damit war das ursprüngliche Motiv, die Ursache der Ordnungswidrigkeit aus dem Wege zu räumen, überholt: Beseitigung einer Schuldigen und ehrenvolles freiwilliges Opfer für das Vaterland hatten sich in der Organisation der Maßnahmen vermischt.
Mag in machen Fällen auch eine Vestale den "Opfergang" angetreten haben, die das Keuschheitsgebot verletzt hatte, so traf dieses Los sicherlich oft auch Unschuldige, nur weil der Glaube an die Wirksamkeit des Rituals es erforderte. Als im Jahre 114 v. Chr. drei Vestalen de incesto angeklagt waren, zwei von ihnen aber vom pontifex maximus und dem collegium pontificum freigesprochen und nur eine verurteilt wurde, nahm das Volk sein originäres Recht in Anspruch, hob dieses Urteil als irrig auf und wählte den wegen seiner Strenge berüchtigten L. Cassius, qui de eis virginibus quaereret; wie erwartet kam es zum Schuldspruch für alle Betroffenen. Der Fall der drei Vestalen Aemilia, Marcia und Licinia zeigt nicht als einziges Beispiel die Zuständigkeit des populus Romanus und seiner Magistrate als letzter Instanz: Während über sie ein negatives Urteil erging, kamen Tuccia, eine andere Aemilia und Claudia Quinta mit dem Leben davon, ohne dass man von einer provocatio ad populum sprechen dürfte. Sie hatten das Volk durch Wunder zu ihren Gunsten überzeugen können: Tuccia brachte unter der Begeisterung der Menge in einem Siebe Wasser vom Tiber auf das Forum und schüttete es da dem pontifex maximus - doch wohl dem, der sie für schuldig befunden hatte - vor die Füße; Aemilia rief durch ihr Gebet an Vesta neues Feuer auf den Altar und erwies so ihre Unschuld; beim Einzug der Mater magna in Rom löste Claudia Quinta das festgefahrene Schiff: Claudia praecedit laeto celeberrima vultu credita vix tandem teste pudica dea. (Ovid. fast. 4, 343f.) Auch die sortitio der Vestalen fand in der Öffentlichkeit des Volks vor einer contio statt.
Kaiser Domitian hatte den Wunsch, die Vestalis maxima Cornelia lebendig zu begraben, weil er glaubte, seine Regierungszeit könne durch ein Beispiel solcher Art an Ruhm gewinnen. [ein wahrer Flavier! vgl. Plin. epist. 4, 11, 9. und Suet. Domit. 8, 4.] Als der Kaiser, wie es sich nach dem ritus für ihn als pontifex maximus gehörte, die Hand reichen wollte, um ihr beim Hinabsteigen in die Grube zu helfen, stieß sie ihn empört zurück: foedum contagium quasi plane a casto puroque corpore novissima sanctitate reiecit. Das sind zwei Einzelfälle, die aber die Zusammenhänge beleuchten.
Am auffälligsten sind die besonderen Merkmale im Leben der Vestalen: Aus einer vom pontifex maximus unter Beachtung bestimmter Voraussetzungen ausgewählten Gruppe von zwanzig Mädchen zwischen sechs und zehn Jahren wurde eine ausgelost und dann - ebenfalls vom pontifex maximus - "gegriffen". Die Schwester einer Vestale, die Töchter verschiedener Priester - außer der eines pontifex - und die sponsa pontificis waren davon befreit. Mit der captio schied die Vestale sine emancipatione ac sine capitis minutione e patria potestate aus. Das ist außergewöhnlich und bedarf sonst eines umständlichen Verfahrens; damit ist verbunden, dass sie neque heres est cuiquam intestato neque intestatae quisquam, sed bona eius in publicum redigi aiunt. Für die letztgenannte Regelung kennt die römische Überlieferung als Beispiele die Hinterlassenschaft der Vestalen Gaia Taracia und Fufetia, aber auch der meretrices Flora und Acca Larentia, die beide göttlichen Rang erhielten. Auch die Vorstellung einer adoptio oder einer coemptio entfällt bei diesem Verfahren, da sie stets mit einer deminutio capitis verbunden wären. Auf der Straße geht der Vestale ein lictor voraus; zu kultischen Verrichtungen darf sie ein plostrum benutzen. Nicht erzwungen werden darf eine Eidesleistung der Vestale. Die Begegnungen mit einer Vestale rettet einem zur Hinrichtung geführten Verbrecher das Leben. Sie nimmt im Leben Roms eine besondere Stellung ein.
Die feierlichen Worte, die der pontifex maximus zu sagen hat, wenn er eine Jungfrau "greift", lauten: Sacerdotem Vestalem, quae sacra faciat, quae ius sciet sacerdotem Vestalem facere pro populo Romano Quiritibus, uti quae optima lege fuit, ita te, amata capio. Unter diesen sacra sind das Totenopfer am 13. Februar, das Verbrennen der Kalbsföten an den Fordicidia, das Schneiden der Speltähren zur Bereitung der mola salsa, das Werfen der Argeerpuppen, das mit dem flamen Quirinalis gemeinsame Opfer bei dem unterirdischen Altare des Consus, das mit dem pontifex maximus gemeinsame Opfer an Ops Consiva in der regia, die Feier des Festes der Bona dea, die Anrufung des Apollo medicus, die Verteilung von "Heilmitteln" an den Parilia und die Verehrung des fascinus. Es dürfte kein Zufall sein, dass die Vestale in dieser Formel als sacerdos Vestalis und nicht als virgo Vestalis bezeichnet wird; dass der pontifex maximus sie als amata ansprach, ist unterschiedlich gedeutet worden. Auffällig ist, dass von der Bewachung des heiligen Feuers keine Rede ist; auch in der Überlieferung wird sie nur als böses Vorzeichen und als Grund für die Bestrafung einer unachtsamen Vestale erwähnt.
Wegen dieser Funktionen hatte Th. Mommsen in den Vestalen "gleichsam die Haustöchter des römischen Volkes" sehen wollen. Da die Tracht der Vestale als die der römischen Braut gedeutet wurde, hielt man sie für die Nachfolgerin der Königin oder die fiktive Ehefrau des pontifex maximus als Nachfolger des Königs in sakralen Dingen. Dem wurde entgegnet, "eine Deutung, die in den einzig sicheren Anhaltspunkt, die Bezeichnung virgines, in ihr Gegenteil umdreht", sei nicht annehmbar. Damit wurde die Möglichkeit wiedereröffnet, die Verurteilung der Vestale entspreche dem Verfahren wegen Vergehens der Blutschande und werde vom pontifex maximus nur wegen der kultischen Kompetenz durchgeführt. F. Hampl erörterte die Möglichkeit, in der Tötung der Vestale eine Überantwortung der "Gottesbraut" an ihren göttlichen Partner zu sehen, versuchte aber nachzuweisen, dass dieser göttliche Partner durch den irdischen pontifex maximus zu einer Art heiliger Hochzeit" vertreten werde. Er stützt sich dabei auf das Zeugnis bei Plut. Num. 10, 7, wonach bei anderen Verfehlungen die Frevlerin in einem dunklen Raume nackt, hinter einem ausgespannten Leinentuch, vom pontifex maximus selbst mit Schlägen gezüchtigt wurde. Dieser Ritus könne Bezug auf einen Vorgang haben, "den man als die Fortsetzung der von Gellius erzählten Besitzergreifung der angehenden Vestalin durch den stellvertretend für den Gott agierenden Pontifex Maximus bezeichnen kann". Selbst den Rutenschlägen müsse dann kathartische oder apotropäische Bedeutung beigemessen werden. Dabei wird freilich übersehen, dass die Ursache dieser Züchtigung nichts mit der im Falle des Inzests zu erfolgenden Tötung zu tun hat, allein aber an dieser die Rolle der Vestale verstanden werden muss. Die besonderen Vorkehrungen bei der vorgenannten Maßnahme sollen m.E. jeden Verdacht geschlechtlichen Kontaktes trotz der körperlichen Nähe fernhalten. An eine "heilige Hochzeit" zu denken ist schon wegen der Schläge seitens des "Partners" ausgeschlossen.
Unter die der Vestale zu Lebzeiten erwiesenen Ehren gehört es auch, dass die lictores aller Beamten vor ihr die fasces senken, was sie sonst nur tun, wenn ihr magistratus zum populus Romanus spricht, wenn er einem Beamten mit höherem imperium begegnet und wenn er an einem funus teilnimmt. Da die Vestale weder als höherer magistratus noch als Repräsentant des populus angesprochen werden kann, bleibt zur Deutung dieser Ausnahmen nur übrig, sie als eine - noch lebende - Tote zu verstehen. So erklären sich auch die sonst ungerechtfertigten juristischen Folgen ihrer captio. Wie sie als kultisch "Tote" noch in der Stadt "lebt", kann sie auch innerhalb ihrer Mauern nach ihrem wirklichen Tode - sei es nun beim natürlichen Hinscheiden oder sei es nach der grausamen Beseitigung einer incesta - bestattet werden; dieses Sonderrecht haben allein die Vestalen - später auch die römischen Kaiser -, weil sie außerhalb der Gesetze stehen: imperatores et virgines Vestales, quia legibus non tenentur, in civitate habent sepulcra. (Serv. Aen. 11, 206.) Einem Grabe entspricht in ihrer Rundform auch die aedes Vestae, die innerhalb einer alten Nekropole liegt. [nach F. von Duhn, Ital. Gräberkunde 1, 414, liegt der Vesta-Tempel am Rande einer alten Nekropole] Bei dieser Auffassung ist die hohe Ehrenbezeigung zu beachten, die die zum Tode auf dem sceleratus campus geführte Vestale erfährt; sie trägt ihre stola, und der pontifex maximus geleitet sie bis zu der Leiter hinab ins Grab. Die Erinnerung an ihren Namen wird nicht unterdrückt, sondern in offenbar ehrenvoll dankbarer Erinnerung in den Annalen aufbewahrt.
Die Stellung der Vestale darf weder als Königstochter oder Hausfrau am Königsherd noch als die einer Vergehens halber Verurteilten verstanden werden, wie das meistens geschieht. Die runde aedes, in der sie Dienst tut, erinnert an die alte Grabform; ihre rechtliche Stellung außerhalb der Bindung der Gesetze (s.o.), ihr Ausscheiden aus der patria potestas bei Antritt ihres Priesteramtes, die ihr dargebrachten Ehrerweisungen seitens der Magistrate, ihre "Beseitigung" durch Sturz vom Tarpeischen Felsen oder durch Lebendigbegraben, beides unter größter Ehrerbietung seitens des pontifex maximus sowie bei Beachtung völligen Schweigens sowie das Fehlen eines Totenopfers, das offenbar bei ihrem Eintritt in den Dienst der Vesta an ihr vollzogen wurde, haben die Auffassung begründet, es handle sich beide der Vestale um eine "lebendige Tote", der allein der Zugang zu dem Grabe offenstand, an das die Form des Vesta-Tempels erinnert.
Dann sind die Vestalen also Mädchen, die wie die lokrischen Jungfrauen in Ilion unter Innehaltung mannigfacher Tabus für ein aus gegebenem Anlass notwendiges Opfer pro salute populi Romani aufbewahrt werden: in der alten mittelmeerischen Gesellschaft wurde das Mädchen, das sich außerhalb der Ordnung ihrer Familie und der Gemeinde mit einem Außenstehenden, Fremden eingelassen hatte, unter der fingierten Voraussetzung, dieser Fremde sei ein Gott gewesen, diesem angeblichen Gotte durch eine "indirekte Tötung", d. h. durch Steinigung, Lebendigbegraben oder Felsensturz überantwortet, um die Übertretung der althergebrachten Lebensordnung nicht zum Schaden für die Gemeinschaft werden zu lassen. Der soziale Aspekt scheint die Vermutung zu rechtfertigen, dass die Einrichtung, die Frevlerin an der Ordnung zu beseitigen, mittelmeerischer Herkunft ist. Diese Maßnahme wird gleichsam stellvertretend auf einen kleinen Kreis junger Frauen beschränkt, die während ihres Gottesdienstes höchste Ehren erfuhren, im Fall des Bedarfes eines solchen Opfers jedoch als "Gottesbraut" - wie man im Mittelalter den als Hexen verdächtigten Frauen Umgang mit dem Teufel vorwarf - aus dem Wege geräumt werden; der ihnen jeweils vorgeworfene Inzest - unabhängig von seinem wirklichen Vollzug - bot demnach nur eine gleichsam "historische" Begründung. Der Gebrauch des Wortes "Gottesbraut" soll in diesem Zusammenhang lediglich an die soziale Vorgeschichte der Vorgänge erinnern und hat nichts mit einer "heiligen Hochzeit" zu tun, wie das gelegentlich angenommen wurde.
Das Musterbeispiel einer Vestale, die sich durch ihre Verbindung mit einem "Gotte" außerhalb der Gesellschaftsordnung gestellt hatte, ist Rhea Silvia oder Ilia, deren Sturz in den Fluss mit den zahlreichen Beispielen aus griechischer Mythologie übereinstimmt; in ihnen dient die "heilige Legende", die dem Roman vorausgeht, lediglich der Erklärung eines Kultaktes. Es geht dabei ursprünglich nicht einmal um die Verletzung der Keuschheit - auch wenn die spätere Auslegung der Umstände diese in den Vordergrund rückt: Silvia fit mater; Vestae simulacra feruntur virgineas oculis opposuisse manus (Ovid. fast. 3, 45f.) -, sondern in erster Linie um den Verstoß gegen die Sippenordnung; andernfalls hätte das römische Volk die Erbschaften der berühmten meretrices Acca Larentia und Flora nicht so dankbar annehmen dürfen. Wie eine solche sich als Opfer darstellende Maßnahme als Bereinigung des Bruchs der Gesellschaftsordnung entstand, führte sie sekundär auch zur Abwendung einer drohenden oder schon bestehenden Gefahr: Freiwillige Mädchenopfer schützten - sicherlich nicht nur in den vorstehend gesammelten mythologischen Beispielen - in Feindes- und Krankheitsnot.
Was man aus Angst vor einem Unglück als vermutete Folge des Fehltritts getan hatte, das musste auch als hilfreich angesehen werden können, wenn das Unheil eintrat, auch ohne dass es durch eine athemitomixía veranlasst worden war. Bei der Vestale verbindet sich beides, wenn auch scheinbar in umgekehrter Reihenfolge.
Eine Bedrohung des römischen Volkes wird durch ein prodigium angezeigt, das die Einsichtnahme in die libri Sibyllini als notwendig erscheinen lässt; da es nicht deren Aufgabe ist, einen unklaren Sachverhalt zu deuten, oder Zukünftiges vorauszusagen, kann die im Jahre 114 v. Chr. gegebene Antwort infamiam virginibus et equestri ordini portendi nicht der Deutung des Vorzeichens gedient haben, sondern enthält den von den libri erwarteten Rat zur Wiederherstellung der pax deum. So heißt es in dem Bericht auch weiter als Folge des sibyllinischen responsum: Tres uno tempore virgines Vestales nobilissimiae cum aliquot equitibus Romanis incesti poenas subierunt; nicht ihre Entdeckung, sondern der Vollzug der "Beseitigung" der Mädchen und der Bestrafung der incestantes wird berichtet. Durch diese Maßnahme ist die drohende Gefahr abgewendet.
Die Verehrung - auf eine Verehrung weist die Formulierung colitur ausdrücklich hin - des fascinus im Vestalendienst, die für die Zeit der Vestalia geltende sexuelle Enthaltsamkeit, die Verbindung mit den verschiedenen in Latium erzählten Zeugungssagen und das Epitheton, mit dem die Göttin selbst mater genannt wird, sind längst gewürdigt worden. Zwei Gesichtspunkte dürfen noch ergänzt werden: Romulus wird deshalb nicht für den Gründer des Vestadienstes in Rom gehalten, weil das Schicksal seiner Mutter ihn die Bedrohung habe erkennen lassen, in der eine Vestale ständig schwebt. Die zweite Beobachtung betrifft das Lebensalter des Priesterinnen, die ihren Dienst mit zehn Jahren aufnehmen und nach dreißig Amtsjahren ausscheiden können; mit einem Alter von vierzig Jahren darf man aber für die fragliche Zeit das Ende der Empfängnisfähigkeit annehmen. Das ihnen auferlegte Keuschheitsgebot war also eine Art Herausforderung, da es gerade die Jahre betraf, in denen sie ihre Rolle als Frau zu erfüllen vermochten. Es wird sich demnach nicht um ein Reinheitstabu gegenüber dem Dienst am ewig brennenden Feuer handeln, sondern um die Bewahrung der Reinheit für die potentielle "Gottesbraut": Sollte die Notwendigkeit eintreten, eine Vestale dem Gott - er bleibt namenlos wie der menschliche Partner; dass Rhea Silvia mit Mars verbunden wird, ist historisierende Legendenbildung - zu überantworten, darf sie von niemand anderem als eben nur dem Gott berührt worden sein oder berührt werden. Diesem Gesichtspunkt dienen auch die Reinheitsvorschriften, die bei der Auswahl eines Mädchens zum Dienst als Vestale gelten, und die Vorsichtsmaßnahmen bei ihrer Züchtigung durch den Pontifex maximus. Da in der aedes Vestae kein Kultbild steht, erfolgt ihr Dienst nicht unter den Augen der Göttin und ist auch in diesem Punkte dem der lokrischen Mädchen in Ilion vergleichbar: Diese nahten sich nicht der Göttin, säuberten und fegten das Heiligtum, gingen nicht aus dem Tempelbereich hinaus, wurden geschoren, trugen nur ein Gewand und liefen barfuß.
Antike wie moderne Erklärungsversuche zum Namen der Göttin vermögen nicht, eine Reihe von Widersprüchen aufzulösen. Nach den vorstehenden Betrachtungen scheint es ratsam, die Deutung vom Namen der virgo Vestalis aus zu unternehmen. Da in ihrer Gestalt der Akt der im Widerspruch zu der Gesellschaftsordnung stehenden Zeugung, der athemitomixía, in unmittelbarer Form zum Ausdruck kommt, wird man in diesem Bereich nach einem Etymon suchen dürfen. Dem trägt mein Versuch Rechnung, auf einen Stamm *uers- zurückzugreifen, dem die Bedeutung "benetzen, befruchten, zeugen" zukommt, wie er in dem Worte verres und in griech. hérse "Tau" vorliegt. Auch umbrisch vestikatu "libato", vesticia "libamentum" lassen sich aus *uers- "benetzen, befeuchten" erklären. Die dem Verständnis dienlichsten Beispiele sind jedoch die Wörter investis ( < *in - uers - tis) und vesticeps, mit denen junge Männer vor Erreichen der Pubertät und in deren Besitz benannt werden.
Darf man voraussetzen, dass der Name der Vesta von einem Stamme *uers- herleitbar ist, so wird die genauerre Bedeutung durch das Suffix -ta bestimmt. Sieht man darin das Nomina actionis bildende, tontragende Suffix -tá wie in Morta, Horta, Prorsa, hätte das unter Reduktion der Stammsilbe zu *urs-tá > *Vosta führen müssen; wenn ich die Göttin gelegentlich als "Zeugung" beschrieben habe, so ist das zurückzunehmen: in -ta darf nur das zur Bildung des Part. Perf. Pass. verwendete unbetonte Suffix verstanden werden, so dass Vesta < *uérs-ta "die Befruchtete" heißt. Man kann demnach in der Göttin das Ebenbild ihrer Dienerinnen, der Vestalen sehen, oder man kann Vesta, die "Befruchtete", für ein Attribut der Erde, der terra, halten; auch hierfür lassen sich in den antiken Deutungen der Göttin Beispiele finden: Varro frg. 281 Cardauns bei August. civ. 7, 16. Geht man von der Vorstellung der athemitomixía aus, so lässt sich diese sehr gut mit allen Beobachtungen vereinen, die es ausschließen, dass die Römer an eheliche und verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den von ihnen verehrten Gottheiten geglaubt haben sollen. Ihre Bedeutung käme dann nicht aus dem negativen Aspekt der Beseitigung, sondern gründete sich auf die Hilfe und Rettung, die, positiv gesehen, die Hingabe eines Mädchens an den unbekannten Fremden durch ihren Tod für die Gemeinschaft zu bringen vermochte. Der Tod der Gottheit zum Heile der Menschen ist ein vertretbarer Glaube.
Dass der Vesta an niedrigen Altären geopfert wird, ist ein Zeichen ihrer Nähe aber auch zu Gottheiten der Erde, zu denen die Vestale zurückkehrt, wenn sie den letzten Sinn ihres Dienstes durch ihren tod auf dem sceleratus campus erfüllt. Die Rundform deraedes Vestae entspräche dem. Das Opfer der Vestale in der regia an Ops und im Kult der Bona dea sind ein deutlicher Hinweis auf die Beziehungen zum Bereich irdischer Fruchtbarkeit. Besondere Beachtung verdient die Tatsache, dass die aedes Vestae kein templum besitzt und nicht inauguriert ist. Dazu passt die Bildlosigkeit ihres Kultes. Die aedes Vestae ist ein Grab.
Das besagt jedoch auf keinen Fall, dass es sich um einen Totenkult handele; es ist der Platz, an dem die eigentlich schon dem Tode überantworteten, aber noch lebenden Vestalen ihren Dienst versehen. Vesta, die Befruchtete, ist die Erde, sie ist aber auch die erste Jungfrau, die sich gegen das Gebot der Sippe aufgelehnt hat. Wie der Tod dieser Mädchen für die Gemeinde Sicherheit vor Gefahr und Errettung aus dem Unglück bringt, so gehören die Unterpfänder der Größe Roms zum penus Vestae, ihrem Vorrat, den keiner außer den Vestalen sehen darf."
So. Damit wäre Radkes Sicht der Dinge wohl äußerst klar festgelegt. In nächster Zeit folgen, so erwünscht, noch andere interessante Kommentare zu der Thematik.